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Regionaler Anbau Holt die Äcker in die Städte! Wie wir Brachflächen sinnvoll zurückgewinnen

Zwischen Plattenbauten wächst in Dessau ein gemeinschaftlicher Gemüsegarten. Projekte wie dieses bilden sich in immer mehr Städten
Zwischen Plattenbauten wächst in Dessau ein gemeinschaftlicher Gemüsegarten. Projekte wie dieses bilden sich in immer mehr Städten
© Marzena Skubatz
Wenn wir wirklich nachhaltig leben wollen, müssen Lebensmittel viel stärker regional erzeugt werden. In Städten gibt es riesige Brachflächen. Ließen die sich nutzen? Während Fachleute über diese Frage noch diskutieren, haben ein paar Pioniere einfach schon mal angefangen

Schmatzend versinkt der Gummistiefel in der aufgeweichten Erde. "Haben wir noch eine Regenjacke übrig?", ruft ein Erntehelfer über den Hof. Ohne wetterfeste Kleidung geht schon seit Tagen nichts mehr in Taucha, einem kleinen Ort vor den Toren von Leipzig. Heftige Schauer setzen die Felder dort immer wieder unter Wasser. Aber der Romanesco ist erntereif. Also springen die Gärtnerinnen und Gärtner der Initiative KoLa Leipzig auch an diesem Augusttag auf die Pritsche des Ernteanhängers, der sie zu den Pflanzreihen bringt.

Am nächsten Morgen verteilen sie den Kohl auf 1000 Kisten und liefern diese an Haushalte in und um Leipzig. Denn KoLa bestellt Ackerflächen als "Solawi", als Solidarische Landwirtschaft: Knapp 1500 Personen finanzieren die Feldarbeit gemeinsam mit Genossenschaftsanteilen von mindestens je 300 Euro und einem selbstbestimmten Beitrag pro Lieferung. Dafür erhalten sie jede Woche einen Anteil der Ernte – frisches Gemüse aus ihrer Region. Das wiederum verschafft der Initiative Planungssicherheit: 15 Festangestellte beschäftigt KoLa mittlerweile und zahlt ihnen 14 Euro pro Stunde, in der Branche ein guter Lohn. KoLa ist jüngstes Mitglied in der Solawi-Szene rund um Leipzig: Etliche Gruppen engagieren sich dort für einen Wandel in der stadtnahen Landwirtschaft.

Auch bundesweit ist der Trend unübersehbar: Etwa 370 Solawis gibt es in Deutschland, rund 80 weitere entstehen. Doch kaum eine Gruppe denkt in so großen Dimensionen wie KoLa. 35 Hektar pachtete die Initiative zu Anfang. Wird die ganze Fläche bestellt, sollen davon bald schon 2500 Haushalte versorgt werden. "Wir wollen raus aus der Nische und Menschen erreichen, die mit der alternativen Szene, aus der wir stammen, vielleicht fremdeln", sagt Hanno Böhle, Vorstandsmitglied von KoLa. "Deshalb bekommt man unsere Gemüsekisten nicht nur in Wohnprojekten oder bei Nachbarschaftsinitiativen, sondern auch bei einer genossenschaftlichen Supermarktkette in Leipzig."

Und so stoßen die Solawi-Angebote viele Verbraucherinnen und Verbraucher beim Einkaufen unvermittelt auf die Frage: Kommt mein Gemüse, mein Obst, eigentlich von weit her – oder aus der Region?

Zwei Drittel des in Deutschland angebotenen Gemüses wird importiert

Tatsächlich fragen sich immer mehr Menschen hierzulande, warum sie im Supermarkt eher Gurken aus Israel, Beeren aus Spanien und Bohnen aus Ägypten bekommen als frische Früchte von den Feldern rund um ihren Wohnort; weshalb das alte Modell, nach dem die Landwirtschaft der Region die Menschen in der Stadt versorgt, nicht mehr funktioniert.

Im aktuellen Ernährungsreport der Bundesregierung gaben 86 Prozent der Befragten an, ihnen sei gerade bei Obst und Gemüse die regionale Herkunft wichtig. Doch noch wird rund zwei Drittel des in Deutschland angebotenen Gemüses importiert, beim Obst sind es sogar 80 Prozent. Als "regional" gilt ein Produkt im Einzelhandel deshalb nicht selten schon, wenn es immerhin aus Deutschland stammt.

Diesen Trend wollen Initiativen wie KoLa ins Gegenteil verkehren: 60 Kisten bleiben direkt in Taucha, die übrigen Boxen, gefüllt mit Paprika und Aubergine, Mangold und Melone, reisen nicht weiter als 16 Kilometer. So erhalten die Menschen nicht nur frischere und damit vitaminreichere Ware, sie sorgen auch dafür, dass für den Transport der Ernte weniger CO2 ausgestoßen wird.

Etwa 370 "Solawis" gibt es in Deutschland. Die Genossenschaft in der Nähe von Leipzig ist mit 15 Festangestellten und 35 Hektar eines der größten Projekte
Etwa 370 "Solawis" gibt es in Deutschland. Die Genossenschaft in der Nähe von Leipzig ist mit 15 Festangestellten und 35 Hektar eines der größten Projekte
© Marzena Skubatz

Nicht nur Solawis wie KoLa arbeiten daran, dass Regionen sich wieder besser selbst versorgen können und weite Transportwege vermieden werden: Höfe vom Stadtrand beliefern Cafés und Kitas etwa per Abo mit Milch, bäuerliche Betriebe öffnen ihre Felder zur Selbsternte oder helfen Familien dabei, die Äcker eigenhändig zu bestellen. Dabei eint Landwirtschaft und Verbrauchende ein gemeinsames Ziel: Sie wollen füreinander sorgen, Produktion und Konsum von Nahrung sollen auch räumlich wieder enger zusammenrücken. Doch wie weit lässt sich diese Idee treiben? Kann eine Region den Hunger einer Stadt tatsächlich stillen, gar einer Metropole? Wo stößt die Idee der lokalen Selbstversorgung an ihre Grenzen? Und warum ist die "Ernährungssouveränität" von Siedlungen, wie es neuerdings oft heißt, überhaupt erstrebenswert?

Das Umland könnte Berlin vollständig ernähren

Erste Studien dazu machen dem engagierten Menschen Mut: Viele deutsche Städte könnten sich viel stärker aus dem Umland ernähren, einige sogar vollständig. Berlin zum Beispiel, so fand ein Team der Agrarforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg heraus. Dazu müssten die Höfe allerdings radikal ihren Anbau umstellen: Statt vorrangig Mais, Weizen und Raps müssten sie deutlich mehr Obst, Nüsse, Gemüse und Hülsenfrüchte anpflanzen. Doch wenn das möglich wäre, könnte der Schritt zur Selbstversorgung der Hauptstadt sogar recht leicht gelingen. Denn das Berliner Umland ist nur dünn besiedelt, es mangelt nicht an Ackerflächen.

Andere Metropolen dürften sich da deutlich schwerer tun, fanden Forschende des Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung in Brandenburg heraus: Die Region rund um London beispielsweise ist mittlerweile viel zu dicht besiedelt, um weitreichende Selbstversorgung zu betreiben. Und Mailands Umland ist derart bergig, dass die Stadt auf eine Versorgung von weiter entfernten Gebieten angewiesen ist.

Dank des Genossenschaftsprinzips kann das Team ohne eigenes wirtschaftliches Risiko arbeiten. Außerdem baut es nur so viel an, wie tatsächlich gebraucht wird
Dank des Genossenschaftsprinzips kann das Team ohne eigenes wirtschaftliches Risiko arbeiten. Außerdem baut es nur so viel an, wie tatsächlich gebraucht wird
© Marzena Skubatz

Solche Analysen sind in der Wissenschaft natürlich ein reines Gedankenspiel: Die Forschenden erschaffen dafür am Computer eine Welt, in der sich Ackerflächen einfach abräumen und genauso umgestalten lassen, dass sie den Ernährungsvorlieben der Stadtmenschen entsprechen. In der Realität ließen sich solche Simulationen nicht 1 : 1 umsetzen. Und auf Waren wie Orangen, Kaffee oder Schokolade, die auch weiterhin aus der Ferne importiert werden müssten, werden die meisten Konsumierenden auch künftig nicht verzichten.

"Trotzdem sind solche Studien wichtig", betont Sarah Joseph, Expertin für Ressourcenmanagement und Stadtplanung an der Kühne Logistics University in Hamburg. "Denn sie zeigen, wo eine stärkere regionale Versorgung überhaupt möglich ist und weiterverfolgt werden sollte." Joseph legte in einer Studie am Beispiel von Hamburg dar, wie stark unterschiedliche Ernährungsweisen darüber entscheiden, ob sich Städte künftig kulinarisch autonom versorgen könnten: Ändern die Hamburgerinnen und Hamburger ihr Essverhalten nicht, wäre immerhin eine Selbstversorgung von 60 Prozent möglich. Setzten sie künftig verstärkt auf Bioprodukte, sinkt dieser Wert auf knapp 50 Prozent. Denn der Ökolandbau verbraucht mehr Fläche.

Deutschland könnte sich zu 75 Prozent regional versorgen und dabei ausgewogen essen

Wer dieses Manko ausgleichen will, kann auf Fleisch verzichten: Schon zwei fleischfreie Tage pro Woche sorgen in Josephs Rechenmodell dafür, dass sich Verbrauchende in Hamburg zu 90 Prozent aus einem Umkreis von 100 Kilometern mit Obst, Gemüse, Fleisch und Milchprodukten in Bioqualität ernähren könnten. Bei drei bis vier vegetarischen Tagen wäre sogar eine regionale Vollversorgung möglich, fand Joseph heraus.

Ihre Berechnungen würden sich auch auf viele andere Städte in Deutschland übertragen lassen, betont Joseph, etwa auf Bremen und Hannover: "Im Schnitt könnte sich Deutschland zu 75 Prozent regional versorgen und dabei ausgewogen essen, etwa nach den Regeln der Deutschen Gesellschaft für Ernährung". Allerdings: Jede Siedlung müsste dafür ihr eigenes Modell finden. Je nach Wasserversorgung und Bodenqualität im Umland, je nach Infrastruktur und Gestalt der Stadt.

Nicht überall, aber vielerorts könnte deshalb auch die Siedlungsfläche selbst stärker zur Versorgung beitragen. Genau das erproben zum Beispiel Menschen in Sachsen-Anhalt.

Auf verwilderten Brachflächen zwischen Wohnblocks bauen die Ansässigen im Süden von Dessau ihr Gemüse an. Die Gruppe versorgt sich nicht nur selbst, sondern verkauft Waren an zwei Restaurants und auf einem Biomarkt
Auf verwilderten Brachflächen zwischen Wohnblocks bauen die Ansässigen im Süden von Dessau ihr Gemüse an. Die Gruppe versorgt sich nicht nur selbst, sondern verkauft Waren an zwei Restaurants und auf einem Biomarkt
© Marzena Skubatz

In Dessau, zwischen zwei renovierten Plattenbauten, zupft Heike Brückner Unkraut von einem Feld. Zusammen mit 15 anderen Begeisterten betreibt die Stadtplanerin die "Urbane Farm Dessau". Im Süden der Stadt, die rund 80 000 Menschen bewohnen, pflanzt die Gruppe Salbei und Salat, Möhren und Sauerampfer, Rote Bete und blaue Kartoffeln.

Das Gemüse und die Kräuter wachsen nahe einer Straße inmitten der Stadt, dort wo früher einmal Wohnblocks standen. Doch seit der Wende hat Dessau ein Drittel seiner Bevölkerung verloren, zahlreiche Häuser wurden abgerissen. Zurück blieben Brachen, die schnell verwilderten.

Die Stadtverwaltung bot den Menschen deshalb Parzellen zur kostenlosen Nutzung an. Fünf dieser Flächen bebaut die Urbane Farm heute im Quartier Leipziger Tor: Der Ertrag ist nicht üppig, denn der Bauschutt im Untergrund macht die Böden mager. Doch die Ernte genügt den Ehrenamtlichen zur Selbstversorgung, außerdem beliefert die Gruppe zwei Restaurants und verkauft ihre Ware auf einem Regional- und Biomarkt. "Anfangs hielten uns hier viele für Ökospinner", erinnert sich Brückner an den Projektstart vor sieben Jahren. Mittlerweile aber findet die Urbane Farm sogar Nachahmung: Das benachbarte Frauenzentrum etwa hat Hochbeete angelegt, das Seniorenheim gegenüber eine Streuobstwiese.

In den USA wachsen Salate oder Kräuter mancherorts in Football- und Baseballstadien

Jetzt, im Herbst, hängen die Zweige dort voll mit Äpfeln und Pflaumen, an einer Wand rankt Wein. Und in den Beeten leuchten Zucchini, Kürbisse und Tomaten. Die Ergotherapeutinnen des Seniorenheims nutzen die Hochbeete für kleine Arbeiten mit den Pflegebedürftigen, weiß Brückner, auch die Küche bediene sich.

Mittlerweile bestellt die Urbane Farm auch den historischen Acker des Parks von Schloss Luisium. Dort wachsen jetzt Bohnen und Topinambur. Und am Stadtrand baut das Team eine Solawi auf. Ein grünes Band aus kleinen Anbauflächen, könnte sich künftig durch ganz Dessau ziehen, so Brückners Vision. So wie die Menschen in Dessau nutzen immer mehr Initiativen die Stadt als Experimentierfeld, um alte Ideen wieder zu beleben, ganz neue Konzepte zu erfinden.

In London, Paris und Seoul zum Beispiel ziehen Städterinnen und Städter Essbares in stillgelegten U-Bahntunneln, Parkhäusern oder Luftschutzbunkern heran. Im Hafen von Rotterdam erprobt eine Farm, ob sich Kühe auch auf einem Ponton halten lassen. Und in den USA wachsen Salate oder Kräuter mancherorts in Football- und Baseballstadien.

Die urbane Landwirtschaft sei längst kein Spleen mehr von einigen besonders engagierten Menschen, sondern werde weltweit erforscht, erprobt und vorangetrieben, sagt Volkmar Keuter vom Fraunhofer-Institut UMSICHT in Oberhausen, das zu Fragen der Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik forscht. "Denn die Idee macht einfach Sinn: In Zukunft wird der Großteil der Menschheit in Städten wohnen, deshalb müssen wir schon jetzt überlegen, wie wir sie versorgen". Sinnvoll seien urbane Farmen aber auch, weil Ortschaften den Pflanzen wichtige Ressourcen bieten, so der Agrarexperte: "Die Abwärme von Gebäuden zum Beispiel kann Gewächshäuser heizen, das in Städten produzierte CO2 brauchen Pflanzen zum Wachsen und aus den Abwässern können wir wertvolle Nährstoffe gewinnen."

Eine solche Anlage hat Keuter selbst entworfen: Auf dem Dach des Jobcenters von Oberhausen betreibt das Fraunhofer-Institut das Gewächshaus "Altmarktgarten". Noch experimentiert Keuters Team dort mit unterschiedlichen Anbaumethoden. Bei Vollauslastung aber könnte es künftig 40 Tonnen Gemüse pro Jahr liefern – hierzulande beträgt der jährliche Pro-Kopf-Verbrauch 100 Kilogramm.

Urbane Anbaukonzepte ersetzen nicht den Ackerbau – sie sind eine wertvolle Ergänzung

Das Potenzial von Dächern als Anbauflächen sei in Deutschland noch viel zu wenig genutzt, so Keuter: Bundesweit gebe es etwa 360 Millionen Quadratmeter freie Dachfläche, die sich dafür eigne. Gerade in Innenstädten, wo Grundstückspreise hoch sind, könnten sich solche Nutzgärten in luftiger Höhe rechnen – und einen wichtigen Beitrag leisten zur Selbstversorgung einer Region.

Bislang werden in derartigen Stadtfarmen vor allem pflegeleichte Kräuter und Blattgemüse angebaut, zum Beispiel Mangold und Salate. Auch für schnell wachsende Pflanzen wie Gurken, Tomaten und Paprika bietet sich das System an. Sattmacher aber wie Weizen, Reis und Mais fehlen: Sie brauchen deutlich größere Flächen, als die meisten Ortschaften aufbieten können.

"Mit urbanen Anbaukonzepten allein werden wir die wachsende Weltbevölkerung nicht ernähren können", sagt Volkmar Keuter. "Aber sie liefern eine wertvolle Ergänzung: Wenn wir künftig mehr Obst, Gemüse und Kräuter direkt aus der Stadt beziehen, bleibt auf dem Acker mehr Platz für Stärkelieferanten wie Mais oder Weizen."

Sogar kulinarisch können die Stadtpflanzen ein Gewinn sein: Weil sie nur kurze Wege überstehen müssen, eignen sich auch empfindliche Sorten für den urbanen Anbau, etwa aromatische Erdbeeren oder alte Tomatensorten. Außerdem: Viele Früchte für den Supermarkt werden üblicherweise kurz vor der Reife geerntet, damit sie beim Transport noch fest sind. Arbeiten Gärtnerinnen und Gärtner aber in der direkten Nachbarschaft, können sie vollreife Früchte pflücken.

Landwirtschaft in der Stadt bedeutet vor allem viel Handarbeit: Beikräuter müssen aus dem Weg geschafft und Kartoffeln einzeln ausgegraben werden
Landwirtschaft in der Stadt bedeutet vor allem viel Handarbeit: Beikräuter müssen aus dem Weg geschafft und Kartoffeln einzeln ausgegraben werden
© Marzena Skubatz

Erste Supermärkte setzen deshalb schon heute auf die extreme Nahversorgung: Sie stellen Gewächshäuser im Miniaturformat neben ihre Gemüsetheke. Diese Minifarmen liefern den Kundinnen und Kunden täglich Kräuter und Salat, ohne Transportwege. Doch die Preise für derart frische Ware sind hoch: Durch den immensen Einsatz von Technik, von Sensoren und Wasserpumpen, Beleuchtung und Klimaanlagen, wird Obst und Gemüse aus städtischen Gewächshäusern anfangs etwa 10 bis 20 Prozent mehr kosten, schätzen Experten. Langfristig aber könnten sich die Preise auf ähnlichem Niveau wie heute einpendeln.

Wer konsequent lokal denkt, muss also auch bereit sein, mehr Geld für sein Essen auszugeben. Doch nicht nur das kann abschrecken. Viele Menschen fremdeln auch aus anderen Gründen mit Stadtgemüse: Eine Studie der Universität Göttingen zeigte, dass nur jede zweite Person zugreifen würde. Denn Gemüse aus der Stadt entspricht nicht dem vielfach gehegten Bild eines Ackerbaus in einer idyllischen Landschaft.

Wirklich nachhaltig sind urbane Gewächshäuser nur mit Ökostrom

Dabei bringt der städtische Anbau sogar für die Natur manch einen Vorteil: In Keuters Anlage in Oberhausen stecken Setzlinge zum Beispiel in Styroporplatten, die auf Wasserbecken schwimmen. Nicht genutztes Wasser fängt das System wieder auf. Solche Aufzuchtverfahren ohne Erde können den Verbrauch um bis zu 90 Prozent gegenüber herkömmlichen Pflanzungen senken. Keine andere Form des Gemüsebaus geht so sparsam mit Wasser um.

Vor allem aber liefern die Hightech-Kreislaufsysteme eine deutlich größere Ernte: Werden die Setzlinge übereinander gepflanzt, etwa in Zuchtschränken, liefern sie deutlich höhere Erträge als im konventionellen Gemüseanbau, so das Ergebnis einer Studie der Universität von Twente in den Niederlanden.

Bei einigen schnell wachsenden Sorten lässt sich der Ertrag durch mehrfache Ernten sogar um das 390-Fache steigern, das zeigt die größte "Vertical Farm" der Welt in New York: In einem ehemaligen Stahlwerk wachsen dort etwa Salate in riesigen Hochregalen heran. Auch den Nährwert der Ernte können solche Anlagen gezielt steuern: Strahlt etwa die LED-Beleuchtung der Gewächshäuser in einer speziellen Lichtfarbe, reichern die Früchte bestimmte Inhaltsstoffe verstärkt an. Durch orangefarbenes Licht lagern die Pflanzen dann mehr Eisen, Magnesium und Calcium ein. Noch verbrauchen aber gerade diese LED-Lampen viel Energie.

Wirklich nachhaltig arbeiten urbane Gewächshäuser deshalb nur, wenn sie mit Ökostrom betrieben werden. So wie das gläserne Gebäude in einem verträumt wirkenden Hinterhof im Berliner Stadtteil Schöneberg. Neben Badeteich und alter Malzfabrik hat dort die ECF Farm ihre Produktionshallen errichtet.

Das Start-up gehört zu den Pionieren der deutschen Urban Farming-Szene und nutzt in seinem Gewächshaus ausschließlich erneuerbare Energien. Der Clou aber zeigt sich erst in den dahinterliegenden Hallen: Dort schwimmen in zwölf mächtigen Tanks bestimmte Barsche, sogenannte Tilapien. Denn ECF hat sich auf "Aquaponik" spezialisiert. Dieses System kombiniert den Gemüseanbau mit der Haltung von Fischen – und gilt deshalb als Modell, um sogar die Produktion von tierischen Nahrungsmitteln in die Städte zu bringen: Fünf Tonnen Fisch liefert die Anlage jedes Jahr an Berliner Supermärkte.

Zwei Dutzend Basilikum-Barsch-Farmen soll es in fünf Jahren geben

Bei einem Aquaponik-System düngt, stark vereinfacht, das Abwasser der Fischtanks die Pflanzen im Glashaus: Bakterien wandeln die Ausscheidungen der Tiere zu Nitrat um. Diesen Nährstoff nehmen die Gewächse genauso auf wie das CO2, das die Fische ausatmen. Wasser, das die Pflanzen nicht verbrauchen, fließt gereinigt zurück zu den Fischtanks. Die Barsche selbst wiederum werden mit Futter ernährt, das momentan noch zu 20 Prozent aus Fischmehl besteht. So ergibt sich ein Kreislauf zwischen Fisch und Kräutern. Etwa 400 Obst-, Gemüse- und Kräuterarten lassen sich mit solch einem System anbauen. ECF konzentriert sich auf Basilikum, denn das wird auch im Winter zuverlässig gekauft. Die gesamte Produktion geht an Geschäfte in Berlin.

Im Hinterhof neben einer alten Malzfabrik im Berliner Stadtteil Schöneberg wachsen Basilikum und Fische in einer Art Kreislaufsystem
Im Hinterhof neben einer alten Malzfabrik im Berliner Stadtteil Schöneberg wachsen Basilikum und Fische in einer Art Kreislaufsystem
© Marzena Skubatz

Bei derart kurzen Transportwegen braucht das Kraut noch nicht mal einen Plastiktopf: Es geht in Recyclingpapier über die Ladentheke. Sieben Tonnen Plastik spart ECF so nach eigenen Angaben pro Jahr ein. Im Geschäft ist das Gewächs aus der Region mittlerweile beliebter als das günstigere Biobasilikum. Schwieriger sei der Verkauf des Fisches, erklärt Nicolas Leschke, Geschäftsführer von ECF: "Unser Barsch verkauft sich nur über Fischtheken gut: Erfahren die Kunden dort von den Verkäuferinnen, dass er tagesfrisch, wenige Kilometer entfernt, ohne Medikamente aufgewachsen ist und aus Aquakultur nach EU-Norm stammt, zahlen sie auch den etwas höheren Preis."

Deshalb sucht ECF gezielt die Nähe zum Handel: So hat die Firma in Wiesbaden eine erste Basilikum-Barsch-Farm auf dem Dach eines Supermarkts eröffnet. Sie kann 20 Fischtheken in der Region beliefern. Zwei Dutzend weitere solcher Bauten sollen in den kommenden fünf Jahren folgen. Aussichtsreich wären auch Standorte am Stadtrand, sagt Nicolas Leschke: direkt an den Zentrallagern der großen Einzelhändler. Von dort aus könnten frischer Fisch und frisch geerntetes Gemüse direkt in die Supermärkte der Stadt geliefert werden.

Die Fischausscheidungen düngen das Basilikum; sauberes Wasser, das die Pflanzen nicht verbrauchen, kommt wiederum den Fischen zugute. Fünf Tonnen Fisch liefert die Anlage jedes Jahr
Die Fischausscheidungen düngen das Basilikum; sauberes Wasser, das die Pflanzen nicht verbrauchen, kommt wiederum den Fischen zugute. Fünf Tonnen Fisch liefert die Anlage jedes Jahr
© Marzena Skubatz

"Solche Anlagen könnten die Ökosysteme der Meere künftig deutlich entlasten", hofft auch Werner Kloas, Wissenschaftler am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei. Denn Aquakulturen im offenen Ozean belasten die Umwelt häufig massiv durch Ausscheidungen und Medikamente. Und die traditionellen Süßwasseranlagen, zum Beispiel zur Zucht von Karpfen und Forellen, verbrauchen enorme Mengen an Wasser, um die Becken von den Ausscheidungen der Tieren zu befreien.

Forschende wollen neben Fisch- und Pflanzenzucht ein drittes Element: Insektenzucht

Vielen gilt Aquaponik deshalb als besonders nachhaltig, Greenpeace oder der Ökoverband Naturland etwa sehen darin eine Chance, die Umwelt zu entlasten. Kritik kommt dagegen aus dem Tierschutz: Die Fische würden in derartigen Systemen zu dicht gehalten, so die Organisation PETA. "In den Anlagen werden aber bewusst nur Fische gehalten, die auch in der Natur in dichten Schwärmen leben, zum Beispiel Tilapien: Die reagieren eher aggressiv, wenn sie zu dünn besetzt werden", kontert Kloas.

Am Berliner Müggelsee betreibt sein Institut selbst eine Aquaponik-Anlage. Dort hat der Wissenschaftler mit seinem Team das Stresslevel verschiedener Fischarten gemessen. Außerdem testen die Forschenden, wie diese Farmen noch nachhaltiger werden könnten. Dazu wollen sie neben Fisch- und Pflanzenzucht ein drittes Element einfügen: Insektenzucht.

So könnten sich Fliegenlarven von Pflanzenabfällen und Ablagerungen aus den Wasserfiltern ernähren. Vermischt mit weiteren alternativen Proteinquellen würden sie dann zu Fischfutter verarbeitet. Und so das Fischmehl ersetzen, mit dem Zuchtfisch in der Regel gefüttert wird. Erste Versuche zeigen, dass die Barsche, die auch ECF in Berlin züchtet, das Insektenmehl genauso gut vertragen.

"Durch die Kombination von Fisch, Insekt und Gemüse könnten wir Stadtfarmen bauen, die kaum Wasser verbrauchen und Ressourcen extrem nachhaltig nutzen", hofft der Forscher. Hunderte von Haushalten könnte ein einziger dieser neuartigen Bauernhöfe versorgen, mit Fisch und Gemüse, Obst und Kräutern: frisch, nachhaltig – und lokal. Die Idee, dass eine Stadt sich gänzlich selbst oder nur aus dem nahen Umkreis versorgt, werden aber auch diese Farmen nicht vollständig erfüllen können. Zu groß sind die Hürden, die individuellen Vorlieben der Menschen und die Möglichkeiten einer globalen Lebensmittelwirtschaft. Doch immer mehr Begeisterte aus Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft arbeiten daran, dieser Vision zumindest näher zu kommen.

Ob in Leipzig, Dessau oder Berlin, ob Stadt-Gärtnerin oder Start-up-Gründer, ob Agrarexpertin oder Fischökologe: Allerorten denken Menschen über Elemente nach, die sie der Vision hinzufügen können. Denn sie eint ein gemeinsames Ziel: Sie wollen, dass Nahrung dort entsteht, wo wir sie essen. Sie denken: radikal lokal.

Erschienen in GEO Wissen Ernährung Nr. 11 (2021)

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