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WM 1974 Ein Bild und seine Geschichte: Das Tor, mit dem die DDR den "Klassenfeind" bezwang

Jürgen Sparwasser schießt Fußball ins Tor
Torschuss: Jürgen Sparwasser (l.) schießt die Mannschaft der DDR bei der WM 1974 im Spiel gegen die DFB-Elf in der 77. Minute zum Sieg
© Witschel/dpa / picture alliance
Im Juni vor 50 Jahren triumphierte die DDR bei der WM 1974 in Hamburg sensationell über das Team der Bundesrepublik Deutschland. Für den Torschützen Jürgen Sparwasser wurde der Sieg jedoch zum Fluch

Der Ball fliegt. Gebannt verfolgt DDR-Stürmer Jürgen Sparwasser dessen Lauf, während der westdeutsche Torwart Sepp Maier – kniend auf dem Rasen – entsetzt den Mund aufreißt. Verteidiger Berti Vogts versucht noch, das runde Leder mit dem Fuß aufzuhalten, doch zu spät. Dann ist der Ball drin. 

"Sparwasser …. Sparwasser, und Tor. Jürgen Sparwasser aus Magdeburg, eine glänzende Aktion," spricht Heinz Florian Oertel, Kommentator des DDR-Fernsehens in sein Mikrofon, mehr staatstragend denn euphorisch.

1974 konnte sich die DDR erstmals für eine WM qualifizieren

Es ist die 77. Spielminute der WM 1974 bei der Partie DDR gegen die Bundesrepublik Deutschland, am 22. Juni im Hamburger Volksparkstadion. Zum ersten – und einzigen – Mal trafen zwei deutsche Mannschaften in einer WM aufeinander. (Bei der Qualifikation für die WM 1954 hatte das damals autonome Saarland zweimal gegen die Bundesrepublik gespielt und war unterlegen.)

Sparwassers Tor markiert den Endstand: Überraschend schlägt die DDR, die sich nie zuvor für eine WM qualifiziert hatte, den favorisierten Klassenfeind, und das auch noch in Hamburg. Das Spiel "war ein einmaliger Moment, der die Menschen im geteilten Deutschland kurz verband, ohne dass sie wirklich vereint waren", urteilt der Autor Ronald Reng in seinem Buch "1974 – Eine deutsche Begegnung" (Piper Verlag). 

Die Besucher aus der DDR waren handverlesen

Die WM im Nachbarland stellte die DDR-Regierung vor Herausforderungen: Zwar standen dem Land Tausende Eintrittskarten zu, diese einfach an Fußballfans zu verteilen, war jedoch undenkbar. Was, wenn DDR-Bürger dem Klassenfeind zujubelten? Oder, noch fataler, sich in den Westen absetzten? Gar keine Besucher zu entsenden war jedoch ebenfalls ausgeschlossen. Das "hätte in der Bevölkerung zu großem Unmut geführt und der ganzen Welt vorgeführt, wie rabiat die DDR-Regierung ihre Bevölkerung einsperrte", beschreibt Reng.

Und so gab das Politbüro um Erich Honecker am 22. Januar 1974 die Direktive aus: "Die Touristen haben bei der Fußballweltmeisterschaft die Aufgabe – durch ihr Auftreten gegenüber der Bevölkerung der BRD und den ausländischen Besuchern die sozialistische Deutsche Demokratische Republik und unsere Politik des Friedens würdig und offensiv zu vertreten – die Fußballmannschaft der Deutschen Demokratischen Republik politisch und moralisch im Wettkampf aktiv zu unterstützen."

Monatelang prüfte die Staatssicherheit die "Tauglichkeit" der Reisekandidaten, traf schließlich eine Auswahl von Personen, die "einen festen Klassenstandpunkt" besaßen. Die DDR-Bürger sollten zu jedem Spiel per Zug zum jeweiligen Austragungsort gefahren und danach direkt wieder in die Heimat transportiert werden. 

Am 14. Mai erließ Erich Mielke, der Minister für Staatssicherheit, den Befehl zur "Aktion Leder", einen Maßnahmenkatalog zur "Aufklärung und Verhinderung von Versuchen des Gegners zur Abwerbung von Teilnehmern der DDR" und zur Unterbindung politischer Provokationen und Störversuche. So sollten die Inoffiziellen Mitarbeiter bestimmte Personengruppen und den Grenzverkehr überwachen. Auf zehn Reisende, so verfügte Mielke, soll mindestens ein Stasi-Mitarbeiter in Zivil kommen. Auch die Fußballer waren im Vorfeld der WM überwacht und politisch geschult worden.

Als der Schiedsrichter am 22. Juni um 19.30 Uhr das Spiel im Hamburger Volksparkstadion anpfiff, blieb die Partie lange ausgeglichen. 60.000 Menschen verfolgten das Match vor Ort, darunter 1500 aus der DDR. Ihnen war von der Staatsführung vorgeschrieben worden, wie sie ihre Elf anfeuern sollten: etwa mit dem Spruch "DDR vor, noch ein Tor!", oder "8, 9, 10 – Klasse!". "Die Touristen aus der DDR klangen wie fröhliche Wandersleute auf einem Waldausflug", schreibt Reng. "Zu demonstrativ gut gelaunt, unberührt von den Emotionen des Spiels sangen sie ihren Schlachtruf." Westdeutsche Fans versuchten, die Besucher zu übertönen, ergänzten nach "8, 9, 10" – "Scheiße!". 

Schließlich schoss Jürgen Sparwasser das 1:0 – für viele Menschen auch im Stadion eine Überraschung. Ein Stasi-Informant berichtete: "Die BRD-Bürger, die vorher immer ‚Deutschland‘ gerufen hatten, wurden so klein, da wir sie dann mit unseren Rufen ‚DDR, DDR!‘ niedergeschrien haben."

Anzeigetafel 22.6.74 im Volksparkstadion DDR - Bundesrepublik 1:0
Endstand: Bei dem WM-Spiel am 22. Juni besiegte die DDR im Volksparkstadion Hamburg die Bundesrepublik – eine Sensation. Trotzdem holte die DFB-Elf wenig später den Weltmeister-Titel
© dpa / picture alliance

Nach dem Schlusspfiff tauschten die Fußballer bei der WM 1974 ihre Nationaltrikots direkt auf dem Spielfeld – normalerweise. Den DDR-Spielern war das nach der Partie gegen die Bundesrepublik verboten worden, die Staatsführung wollte Verbrüderungsszenen zwischen Spielern beider deutscher Staaten verhindern. 

Zum Trikottausch kam es trotzdem: Nach dem Spiel schob Berti Vogts ein Wägelchen mit einem Korb samt den getragenen Trikots seiner Kollegen in die Umkleidekabine der DDR-Mannschaft. Jeder Spieler nahm sich ein Trikot heraus und warf sein eigenes in den Korb.

Jürgen Sparwasser setzte sich 1988 in die Bundesrepublik ab

In der DDR währte die Siegesfreude nicht lang: Da sie zuvor bereits gegen Australien gewonnen und gegen Chile unentschieden gespielt hatte, musste die Mannschaft in der Zwischenrunde als Gruppenerster gegen Top-Länder wie die Niederlande und Brasilien antreten – und schied aus. Die Bundesrepublik dagegen, aufgerüttelt auch durch die Niederlage, sicherte sich den WM-Titel. 

Sparwasser, dem Helden des Spiels, brachte sein Siegtreffer kein Glück. "Mir persönlich hat das Tor geschadet", sagte der Fußballer später in einem Interview. Er wurde "zum Helden der Partei, die das Tor jahrelang zu Propagandazwecken missbrauchte und bei jeder Sportsendung im Vorspann zeigte." Fortan sei er in der DDR immer wieder ausgepfiffen worden. Und obwohl er drei Mal DDR-Meister wurde und mehr als 100 Tore für den 1. FC Magdeburg schoss, fühlte er sich immer wieder auf das eine Tor von 1974 reduziert. 1988 setzte er sich anlässlich eines Fußballspiels in Saarbrücken in die Bundesrepublik ab.

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