GEO: Herr Brissa, kaum ist die Fußball-EM gestartet, sind überall Deutschlandfahnen zu sehen. Wie unbeschwert können wir Schwarz-Rot-Gold schwenken?
Enrico Brissa: Ich finde, wir sollten Schwarz-Rot-Gold viel häufiger und auch außerhalb von sportlichen Großereignissen zeigen. Die Bundesflagge ist ein Symbol für die freiheitliche demokratische Grundordnung, sie steht für unser Grundgesetz und damit für eine offene, plurale Gesellschaft. Das sind doch gute Gründe, die Bundesflagge unbeschwert zu schwenken, oder?
Kritiker sehen in dem Farbenmeer aus Schwarz-Rot-Gold einen Ausdruck von übersteigertem Nationalismus sowie als Erhebung über andere.
Man sollte Patriotismus klar von Nationalismus unterscheiden. Schwarz-Rot-Gold hat nichts mit Nationalismus und übersteigerten Gefühlen zu tun. Diese Farben stehen vielmehr für unsere Republik, für Freiheit, Demokratie und die guten politischen Traditionen unseres Landes vom 19. Jahrhundert über die Weimarer Republik bis heute. Ohne sich über andere zu erheben. Auch der moderne Verfassungsstaat ist von einer emotionalen Bindung seiner Staatsbürger abhängig. Neben einer klugen Sachpolitik und rationalen Seite braucht jede Gemeinschaft auch eine emotionale Ebene. Die Verwendung von Staatssymbolen zielt auf diese ab. Im Übrigen machen Staatssymbole den unsichtbaren Staat sichtbar.
Aber es ist doch unbestreitbar, dass die Flagge zunehmend auch von demokratiefeindlichen Kräften genutzt wird.
Wir leben in einer Epoche der demokratischen Rezession, wie es der amerikanische Soziologe Larry Diamond ausgedrückt hat. Weltweit wird um die Deutungshoheit von Staatssymbolen, anderen politischen Symbolen und Traditionen gerungen. Auch bei uns. Seit knapp zehn Jahren kann man in Deutschland beobachten, dass zunehmend radikale und extremistische Kräfte der Rechten auch die Farben Schwarz-Rot-Gold nutzen. Das war früher anders, denken Sie etwa an die Neonazi-Szene der neunziger Jahre und die NPD, die sich mit den vorkonstitutionellen Farben Schwarz-Weiß-Rot identifizierten. Das änderte sich im Herbst 2014 mit den sogenannten Pegida-Demonstrationen und setzte sich bei Demonstrationen von Corona-Leugnern und der Reichsbürgerszene fort. Selbst die NPD machte Wahlkampf mit Schwarz-Rot-Gold. Auch beim Sturm auf die Reichstagstreppe 2020 wurden – unter anderem – Deutschlandflaggen geschwenkt. Extremisten und Radikale nutzen die Flagge verstärkt und fangen an, sie für ihre Zwecke umzudeuten.
Was denken Sie, wie sich das Wissen um die Bedeutung der Flagge in den letzten Jahren verändert hat?
Leider gibt es dazu seit 2015 kaum Daten. Es spricht aber einiges dafür, dass viele junge Menschen, die etwa die WM 2006 in Deutschland – und damit das ausgelassene Farbenmeer in unserem Land – nicht miterlebt haben, Schwarz-Rot-Gold zunehmend als Zeichen der radikalen und extremistischen Rechten deuten. Dieser Teil des Spektrums nutzt unsere Farben nämlich intensiv, vor allem auch in Social Media. Das ist eine bedenkliche Entwicklung. Zumal Schwarz-Rot-Gold das einzige Staatssymbol ist, dass gerade nicht durch den Nationalsozialismus kontaminiert wurde, im Gegensatz etwa zum Adler und der Hymne. Die Bundesflagge ist also das unbedenklichste Staatsymbol, das wir überhaupt verwenden können.
Wo liegen die historischen Wurzeln von Schwarz-Rot-Gold?
Politische Bedeutung haben die Farben in den Befreiungskriegen gegen Napoleon bekommen, als das Lützowsche Freikorps 1813 mit schwarz gefärbten Uniformröcken, roten Aufschlägen und goldfarbenen Knöpfen kämpfte. Militärisch war der Verband zwar eher bedeutungslos, er hatte aber eine große und lange andauernde propagandistische und politische Bedeutung. Von den "Lützowern" führte der Weg der deutschen Farben dann über die Burschenschaftsbewegung und Jena, das Wartburg-Fest, das Hambacher Fest 1832, die Paulskirche, Weimar, Bonn und die Leipziger Montagsdemonstrationen zu uns nach Berlin.
Worin liegt die Gefahr, wenn Rechtsextreme und andere radikale Gruppierungen die Flagge umdeuten?
Für die Integration von Staat und Gesellschaft sind der Patriotismus und die staatliche Repräsentation unverzichtbar. Für beides brauchen wir Staatssymbole, sie sind staatsnotwendig. Politischer Symbolismus ist also staatstragend. Wenn uns jemand unsere Symbole wegnimmt, haben wir keine mehr. Das wäre gefährlich.
Warum sind solche Symbole wichtig?
Jede Form der Gemeinschaft braucht identitätsstiftende Merkmale und eine emotionale Bindung der Individuen zum Ganzen – also Symbole, Lieder, Erzählungen und Rituale. Wie wichtig es ist, diese zu pflegen, kann man an der Weimarer Republik sehen, die es nicht geschafft hat, sich symbolisch hinreichend auszudrücken. Das fing ja schon beim Namen an, denn offiziell hieß dieser deutsche Staat "Deutsches Reich". Diese Bezeichnung enthielt also keinen Hinweis auf die Staatsform der Republik. Außerdem gab es lange und heftige Flaggenstreitigkeiten. Die Weimarer Republik hat es nie geschafft, sich in symbolischer Hinsicht genügend zu definieren und gegenüber dem Kaiserreich und den vielen Gegnern der Demokratie abzugrenzen. Diesen Fehler sollten wir nicht wiederholen. Verfassungsschutz hat demnach auch eine symbolische Komponente.
Kann dieses Flaggeschwenken nicht auch ausgrenzend wirken? In einem Einwanderungsland wie Deutschland gibt es viele Menschen, die sich nicht ausschließlich mit Schwarz-Rot-Gold identifizieren.
Nein, ich finde, dass dies nicht der Fall ist. Unsere Flagge repräsentiert das Grundgesetz. Und das gilt für alle Menschen in Deutschland, nicht nur für die Staatsbürger. Wenn es neben den sogenannten "Jedermann-Grundrechten" auch einige Grundrechte gibt, die den Staatsbürgern vorbehalten sind. Schwarz-Rot-Gold symbolisiert die offene Gesellschaft, diese Farben schließen nicht aus. Wahrscheinlich müsste in der politischen Bildung stärker darauf Bezug genommen werden.