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Glücksspiel "Glücksspielsucht kann zum Tod führen": Über die unterschätzte Gefahr von Sportwetten

Ein Fußballtorwart blickt auf einen Ball, der auf ihn zukommt.
Tor oder kein Tor? Bei Sportwetten kann man während einer Partie auf etliche Entscheidungen setzen – und hat mitunter binnen Sekunden das Ergebnis. Die Schnelligkeit erhöht das Suchtpotenzial 
© haizon / Adobe Stock
Vor der anstehenden Fußball-Europameisterschaft warnt der Glücksspielforscher Tobias Hayer vor dem Suchtpotenzial von Sportwetten. Im Interview legt er dar, wer besonders gefährdet ist – und fordert gesetzliche Änderungen 

Herr Dr. Hayer, wenn an diesem Freitag die Fußball-Europameisterschaft startet, wird der italienische Nationalspieler Sandro Tonali nicht dabei sein. Er hat illegal auf Fußballspiele gewettet und in der Folge seine Spielsucht öffentlich gemacht. Ist Tonali in Ihren Augen ein besonders plakatives Beispiel dafür, dass Glücksspielsucht jeden treffen kann – oder eher ein typischer Betroffener?

Tobias Hayer: Er passt schon gut ins Schema. Profisportler sind recht häufig von Glücksspielsucht betroffen. Sie haben in der Regel Geld übrig und viel Freizeit, sind wettbewerbsorientiert, risikofreudig und natürlich sportinteressiert. Vor allem aber gehört Tonali grundsätzlich zur Gruppe der am meisten Gefährdeten: Er ist jung, und er ist ein Mann. Damit erfüllt er zwei von drei sicheren Hauptkriterien, die die Forschung bei Glücksspielsüchtigen herausgearbeitet hat. Das dritte Merkmal ist der Migrationshintergrund.

Wie hängen Migrationshintergrund und Glücksspielsucht zusammen?

Dazu gibt es keine klare Antwort, nur verschiedene Hypothesen. Migrantinnen und Migranten haben oftmals begrenzte Aufstiegschancen, sodass das Glücksspiel mit der Hoffnung auf schnellen Gewinn mutmaßlich um so mehr lockt. Dazu passt, dass es in sozial strukturell benachteiligten Stadtteilen besonders viele Spielhallen und Wettanbieter gibt. Schauen wir auf Deutschland, so sehen wir zudem, dass Karten- und Würfelspiele in vielen migrantischen Milieus zum Teil sehr populär sind. Das Spielen um Geld ist dort Teil des Alltags.

Aber unabhängig von der Herkunft gilt: Junge Männer zocken am meisten. Warum ist das so?

Männer suchen stärker als Frauen das Risiko. Sie sind impulsiver, richten ihr Verhalten eher auf die schnelle Bedürfnisbefriedigung aus. Und bei den zur EM vermehrt anstehenden Sportwetten ist es auch einfach so, dass sich Männer mehr für Fußball interessieren als Frauen. Wenn sie den Sport im Stadion oder im Fernsehen verfolgen, sind sie ohnehin schon emotional aufgeladen – eine Wette gibt dann den extra Kick. 

Ein Spielautomat
Niederschwellige Glücksspielangebote wie Spielautomaten oder Wettbüros finden sich vor allem strukturschwachen Stadtvierteln. Denn wer wenig Aussicht auf sozialen Aufstieg hat, den lockt die Hoffnung auf einen Geldgewinn besonders 
© Florian Thoss / plainpicture

Sind Sportwetten also besonders gefährlich? Oder anders gefragt: Was macht das Suchtpotenzial eines Glücksspiels aus? 

Verfügbarkeit und Spielgeschwindigkeit. Wenn ich einfach rankomme an das Spiel und schnell weiß, ob ich gewonnen oder verloren habe, ist das Suchtpotenzial hoch. Es gibt wenige Menschen, die süchtig werden nach Lotto. Wenn Sie einen Lottoschein abgeben, müssen Sie tagelang warten, ob Sie gewonnen haben, zur Annahmestelle gehen, Ihren Gewinn abholen. Das ist ziemlich langwierig, mit wenig Kick, Stimulation und Nervenkitzel verbunden. Für eine Sportwette müssen Sie nur ihr Handy zücken, und haben mitunter binnen Sekunden das Ergebnis. Das Suchtpotenzial ist gerade bei Live-Wetten hoch – zumal Sportwetten die ideale Projektionsfläche für kognitive Verzerrungen sind. 

Was bedeutet das?

Sagen wir, Sie tippen im Auftaktspiel Deutschland gegen Schottland auf ein 2:1 für Deutschland, und das Spiel geht tatsächlich so aus. Dann werden Sie sagen: Das war mein Sachverstand, meine Expertise. Und das schreit natürlich geradezu danach, eine weitere Wette zu platzieren. Geht das Spiel 2:2 aus, suchen Sie nach Ausreden: Der Schiedsrichter war schlecht, der Trainer hat falsch aufgestellt, es hat die ganze Zeit geregnet, das liegt den Schotten. Eigentlich hatte ich also doch recht, diese Umstände konnte ich ja nicht absehen. Und beide Argumentationsketten führen dazu, dass Sie ein Weiterspielen letztendlich gut rechtfertigen können. 

Was aber nicht recht passen will zur Verfügbarkeit von Sportwetten und anderem Glücksspiel durch Smartphones: Laut Umfragen ist der Anteil der Bevölkerung, der an Glücksspielen teilnimmt, seit 2007 von 55 Prozent auf heute rund 36 Prozent gesunken. 

Die Zahlen stimmen: Man kann sagen, dass ganz grob jeder dritte Bundesbürger in den vergangenen zwölf Monaten Geld für Glücksspiele eingesetzt hat. Aber wir sehen, dass nur die Teilnahme an den weniger gefährlichen Angeboten wie zum Beispiel dem klassischen Zahlenlotto tendenziell sinkt, nicht aber im Bereich Sportwetten und anderem Online-Glücksspiel. Und da tummeln sich eben die jungen Männer, die oft Probleme entwickeln. Nicht umsonst haben wir rund 1,4 Millionen Spielsüchtige in Deutschland.

Seit 2001 ist Glücksspielsucht offiziell als Krankheit anerkannt. Was passiert im Hirn eines Glücksspielsüchtigen beim Zocken?  

Das Belohnungssystem wird aktiviert, Dopamin aber auch Adrenalin werden ausgeschüttet. Das ist nahezu deckungsgleich zu stoffgebundenen Suchterkrankungen. Ob ein Kokainabhängiger weißes Pulver sieht oder ein Spielsüchtiger einen Roulettetisch: Im Hirn fangen die gleichen Areale an zu arbeiten. Die Herzfrequenz steigt, schon in der Erwartung des Spiels. Letztlich geht es beim Zocken nicht um den Gewinn. Es geht um die Emotion. Dafür geben die Süchtigen ihr Geld aus. 

Spielchips auf einem Pokertisch
Schon die Aussicht auf Glücksspiel löst bei einem Spielsüchtigen körperliche Reaktionen aus. Betritt er etwa ein Casino, erhöht sich die Frequenz seines Herzschlags 
© DEEPOL / plainpicture

Man könnte sagen: Im Gegensatz zum Drogenabhängigen zerstört der Spielsüchtige wenigstens nicht seinen Körper.

Wenn Sie eine Sportwette platzieren, bekommen Sie keine Leberzirrhose, das stimmt. Aber dennoch gilt: Glücksspielsucht kann zum Tod führen. Fast jeder dritte Glücksspielsüchtige hat irgendwann mal Suizidgedanken, rund 13 Prozent der Betroffenen unternehmen einen Suizidversuch. Das hängt auch damit zusammen, dass wir es mit einer verborgenen Sucht zu tun haben: Der Glücksspielsüchtige torkelt nicht, hat keine Alkoholfahne oder Einstichlöcher am Unterarm. So fällt es ihm auch leichter als einem Drogenabhängigen, ein Lügengerüst aufzubauen: Mein Auto ist kaputt, kannst du mir ein paar Hundert Euro für die Reparatur leihen; ich habe mein Portemonnaie verloren, kannst du mir kurz aushelfen – solche Geschichten. Am Ende, und das ist kein Klischee, das haben mir Betroffene schon oft erzählt, muss das Sparschwein der Kinder dran glauben, um noch für 15 Euro eine letzte Wette zusammenzukratzen. Scham- und Schuldgefühle sind an diesem Punkt oft so überwältigend, dass Suizidgedanken aufkommen.

Aber Millionen Menschen platzieren Sportwetten und sind weit davon entfernt, solche Probleme zu haben. 

Fraglos wettet die Mehrheit verantwortungsbewusst. Die meisten kaufen sich hin und wieder mit einer Wette Unterhaltung, Spannung, Spaß. Das sehe ich als vollkommen unbedenklich an. Aber es gibt eben einen signifikanten Anteil, bei dem das nicht gut geht. Da wird aus einer ersten Wette auf den Lieblingsverein regelmäßiges Zocken. Dann summieren sich die Verluste – und der Gedanke, sie wieder ausgleichen zu müssen, treibt zu weiteren Wetten an. Das ist eine Spirale nach unten. Ab einem gewissen Punkt geht es nur noch darum, wahllos dem Drang zum Wetten nachzukommen. Ob der Lieblingsverein spielt oder irgendein Viertligist, macht dann keinen Unterschied mehr.   

Was kann man tun, um es nicht so weit kommen zu lassen?

Von außen ist die Sucht im frühen Stadium wie gesagt kaum zu erkennen. Deswegen muss sich jeder, der wettet, ständig selbst hinterfragen: Habe ich länger und intensiver gezockt, als ich es eigentlich vorhatte? Habe ich dafür Geld benutzt, das eigentlich für etwas anderes gedacht war? Habe ich Schuldgefühle? Sobald solche Fragen mit Ja beantwortet werden, ist es höchste Zeit, die Reißleine zu ziehen.

Und wie kann der Gesetzgeber gegensteuern? 

Kein Mensch braucht Werbung für potenzielle Suchtmittel, egal ob Alkohol, Nikotin oder Glücksspiel. Da haben wir in Deutschland meines Erachtens in den letzten Jahren eine Fehlentwicklung erlebt. Wenn ich Fußballübertragungen anschaue, dann sehe ich mittlerweile enorm viel Werbung für Sportwetten. Das ist gesundheitspolitischer Irrsinn. 

Porträt von Dr. Tobias Hayer
Der Psychologe Tobias Hayer forscht seit mehr als einem Jahrzehnt an der Universität Bremen zur Glücksspielsucht. 2012 promovierte er zum Thema "Jugendliche und glücksspielbezogene Probleme: Risikobedingungen, Entwicklungsmodelle und Implikationen für präventive Handlungsstrategien".
© Kai Uwe Bohn / Universität Bremen Hochschulkommunikation

Das heißt, das Umfeld, das wir in den nächsten vier Wochen während der EM erwarten, ist für Glücksspielsüchtige ungefähr so, wie wenn man einen Alkoholiker in einen Schnapsladen führt?

Ja, und ich habe kein Verständnis dafür, dass man ein Angebot mit hoher Suchtgefahr so omnipräsent darstellt. Damit werden Sportwetten noch weiter normalisiert. Jugendliche lernen, dass Zocken halt irgendwie dazugehört, dass es cool ist. Das macht die Suchtprävention nicht einfacher. 

Nach der EM folgen die Olympischen Spiel in Paris. Die Wettanbieter stehen vor lukrativen Monaten.

Solche Großereignisse sind für die Anbieter wie ein dreizehntes Monatsgehalt. Anders als die Wettenden stehen sie ganz sicher auf der Siegerseite. Aber dort sind sie nicht allein. Es profitieren die Medienunternehmen, weil die entsprechende Werbung geschaltet wird. Die ARD-Sportschau etwa lässt sich von Tipico sponsern. Es profitieren die Vereine, die von Wettanbietern gesponsert werden, die Deutsche Fußball Liga, die UEFA. Und es profitiert nicht zuletzt der deutsche Staat.

Durch die Besteuerung von Glücksspiel. 

Die hat Deutschland 2022 erstmals mehr als sechs Milliarden Euro fiskalische Einnahmen durch legale Glücksspielangebote eingebracht. Die Erträge aus alkoholbezogenen Steuern lagen bei etwas mehr als drei Milliarden Euro. Glücksspiel ist als Einnahmequelle für den Staat also mittlerweile doppelt so wichtig wie Alkohol. 

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