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Marco d’Eramo im Interview Warum Touristen keine Touristen mögen − aber Selfies

Selfies
Mit Selfies vergewissern sich Menschen ihrer Existenz, sagt Marco d’Eramo: "Ich bin hier, vor Notre-Dame, vor dem Kolosseum, vor der Golden Gate Bridge"
© Mikail McVerry / Kal Visuals / Pascal van de Vendel / Unsplash
Der italienische Autor Marco d’Eramo spricht in unserem Interview über die Manie des Urlaub-Selfies, die Macht des Reisens und den Versuch aller Reisenden, kein Tourist zu sein

»Die Welt im Selfie« heißt Ihr neues Buch. Warum fotografieren wir uns ständig selbst?

Die Menschen vergewissern sich dadurch ihrer Existenz: Ich bin hier, vor Notre-Dame, vor dem Kolosseum, vor der Golden Gate Bridge. Sicher hat das auch mit Narzissmus zu tun.

Haben Sie mal eines gemacht?

Wirklich wahr: Ich weiß gar nicht, wie das geht.

Aber Sie fotografieren etwas anderes als sich selbst?

Menschen, die ich unterwegs treffe, um mich an ihre Gesichter zu erinnern, an Begegnungen, etwa zuletzt mit ­Bewohnern des Amazonasgebiets. Sie wird es nicht mehr lange geben. Bilder von Monumenten und schönen Landschaften ermüden mich. Aber ich mache selten Fotos. Überlegen Sie mal, wie oft Sie Ihre Urlaubsbilder später wirklich ansehen.

Sie sagen, wir leben im touristischen Zeitalter. Was heißt das?

Vor nicht allzu langer Zeit bewirkte die Forderung nach Reisefreiheit mehr als Atomwaffen und Militär: Die Sowjet­union fiel letztlich auch deshalb, weil im August 1989 Ungarn die Grenze zu Österreich öffnete und 13000 beharrliche DDR-Bürger einreisten – der Beginn der Wende. Außerdem ist der Tourismus zur wichtigsten Industrie unseres Jahrhunderts geworden. Laut der Welt­orga­nisa­tion für Tourismus warf das inter­nationale Reisegeschäft im Jahr 2017 rund 1,4 Billionen US-Dollar ab. Hinzu ­kommen noch alle damit verbundenen Wirtschaftszweige.

Sie leben in Rom. Wie oft treffen Sie Touristen?

Ständig. Ich wohne im Epizentrum. Vom Balkon blicke ich auf das Kolosseum, das liegt nur einen Steinwurf entfernt.

Sie haben die Massen also vor der Tür?

Sie kommen sogar in mein Haus. Meine Nachbarn bieten ihre Wohnungen auf Airbnb an, zwölf von den 40 Wohnungen im Gebäude sind ständig an Gäste ­vermietet. Vor zehn Jahren war das noch ­anders: Da lebten nur Italiener in dem Gebäude. Die sind jetzt woanders hingezogen und nutzen die zentrale Lage ihrer Wohnung, um Geld zu verdienen.

Wie ist es, Tür an Tür mit Besuchern aus aller Herren Länder zu wohnen?

Ich nehm’s mit Humor, vergleiche das gern mit der Situation, zu viele Freunde zum Übernachten eingeladen zu haben: Man muss über sie steigen, wenn man irgendwohin möchte. Das engt ein, aber ich ärgere mich nicht. Im Gegenteil: Ich kann die Mieter auf Zeit gut verstehen. Sie sparen für den Jahresurlaub, nehmen Strapazen auf sich, um einmal im Leben Rom zu sehen. Das geht mir nahe.

Sie wurden in Rom geboren, verbrachten die meiste Zeit Ihres Lebens hier. Kann die Stadt Sie noch begeistern?

Die Stadt fasziniert mich noch immer in ihrer Schönheit und Vielfalt. Sigmund Freud verglich Rom mit dem menschlichen Ego: Je tiefer man gräbt, desto mehr findet man, was den Charakter ausmacht, all die Geschichte, die Rom vereint als ewige Stadt.

Was fällt Ihnen auf an den Touristen?

Dass sie vieles nicht verstehen. Ein Beispiel: Italiener essen spät am Abend. Oft sehe ich also Amerikaner und Deutsche, die am Nachmittag hungrig und ver­zweifelt nach geöffneten Restaurants ­suchen. Der reinste Karneval.

Karneval?

Ein verkleideter Umzug. Sie tragen ­unnötigerweise Trekkingschuhe in der Stadt, Wanderstöcke, komische Hüte, Funktionskleidung. Als gäbe es einen Dresscode, auf den sich alle Touristen wie selbstverständlich einigen.

Die Spanier protestieren auf Mallorca und in Barcelona gegen den soge­nannten Overtourism, die Venezianer gehen gegen Kreuzfahrtschiffe vor. Was halten Sie als Betroffener von dem Widerstand?

Solche Proteste finde ich schwierig, vor allem, weil die Wirtschaft vom Tourismus abhängt. Erst haben sie alles ­darauf angelegt, möglichst viele Menschen in die Gegend zu locken, passten die Infrastruktur an, leben davon. Und nun wollen sie das umkehren? Das ist kurzsichtig. Außerdem lief ja alles gut, bis Airbnb aufkam. Bis dahin waren die meisten Touristen an den Sight­seeing Spots unterwegs, wo auch die ­Hotels liegen. Mit der Möglichkeit, ­privat zu wohnen, übernehmen sie nun aber ganze Städte.

Sehen Sie eine Lösung?

Das Problem ist nicht der Tourismus, sondern dass man ausschließlich auf Tourismus setzt, wie es in Barcelona geschieht. Die wichtigste Einnahmequelle in New York, Paris und London ist zwar auch der Tourismus, aber sie sind nicht ausschließlich Touristenstädte: Es gibt die Wall Street, Kulturbetriebe, eine starke Verlagsindustrie. New York und London sind lebendige, unabhän­gige Städte, weil sie keine wirtschaftliche Monokultur betreiben.

Wie gehen die Römer mit den vielen Touristen um?

Die nörgeln natürlich, wie es sich für ­Italiener gehört. Fragen Sie einen, wie es ihm geht, antwortet er: »Könnte besser sein.« Aber die Römer kommen zurecht. Rom ist zum Glück riesig und noch vielfältig genug.

Warum möchte niemand Tourist sein?

Aus Selbstverleugnung. Dahinter steckt ein Klassenkampf. Wir sind zwar alle Touristen, verachten aber andere Touristen, weil wir uns abgrenzen wollen. Das geht auf den Adel im 19. Jahrhundert ­zurück, der mit dem Begriff »Tourist« abfällig das Bürgertum bezeichnete, das plötzlich auch auf Bildungsreisen ging. Heute stuft sich das noch feiner ab, weil jeder günstig rumkommt.

Ihr Freund Hans Magnus Enzensberger stellte fest: Der Tourist zerstört das, was er sucht, indem er es findet. Stimmen Sie zu?

Wer nur den Tourismus kritisiert, übersieht das zugrunde liegende Problem: den Kapitalismus. Flugreisen etwa ­waren früher ein Privileg der Reichen, heute fliegt jeder. Fliegen ist kein Pri­vileg mehr, die Distinktion ist dahin. Also geht die Hatz weiter: Weiter weg, ungewöhnlicher, luxuriöser. Und sobald alle das Neue erreichen, wird es abermals entwertet.

Bezeichnen Sie sich selbst also lieber als Reisenden?

Nein, ich nehme mich davon nicht aus, verachte nicht, weil ich mich damit ja selbst verachten würde. Da hilft Selbst­ironie, ein erkennender Blick in den Spiegel: Ich bin einer von ihnen! Wenn ich mit meiner Frau unterwegs bin, ­reißen wir ständig Witze darüber. Einmal waren wir im Hochland von ­Papua-Neuguinea, hielten inne und stellten fest: Endlich sind wir außerhalb des Lonely Planet. Und ertappten uns dabei, wie wir uns in dieser Abgrenzung gefielen.

Wie reist man also richtig?

Nicht immer an denselben Ort fahren. Nicht durch Städte laufen wie durch ein Museum, in dem man Sehenswürdigkeiten abhakt. Lesen Sie vorher etwas über das Land, sprechen Sie mit den Menschen, lernen Sie ein wenig von der Sprache. Bevor ich nach Sibirien reiste, lernte ich etwas Russisch. Das veränderte alles.

Mancher besinnt sich auf das Nahe, das Einfache.

Und das kann spannender sein als ­gedacht. Als mein Sohn 15 war, hatte er schon Moskau, Peking, Jakarta und New York gesehen, aber noch nie Florenz, Lucca oder Siena. Also zeigte ich ihm ­italienische Städte. Und so wurde die Heimat plötzlich zur Neuentdeckung.

Sie sagen: Sobald die Unesco einen Ort als Kulturschatz adelt, nimmt Sie ihm das Leben. Was meinen Sie damit?

Es ist doch verrückt, wie alte Steine uns faszinieren. Wenn wir alles Alte konservieren, müssen wir in ein paar Tausend Jahren die Erde verlassen, weil dann ­alles schützenswert ist und leblos konserviert. Wäre man früher so vorgegangen, hätten in Rom nie die Renaissancepaläste entstehen können, die auf Ruinen und alten Steinen errichtet wurden. Eine kreative Zerstörung! Ich ­wünsche mir zumindest, dass man alte ­Bauwerke mit Leben füllt, sie nutzbar macht. Deshalb fühle ich mich in Rom zum Glück auch noch nicht wie in einem Museum. Die Paläste werden öffentlich genutzt, zum Beispiel von den Unis.

Haben Sie einen Geheimtipp für uns?

Ich würde zur Abwechslung mal rausfahren aus Rom. Touristen verschlägt es eher selten in die Castelli Romani in den Albaner Bergen. Das sind kleine Dörfer, in denen sich adlige und reiche Bürger Villen und Schlösser bauten. In dieser Gegend, 20 Kilometer von Rom entfernt, liegen tiefe, vulkanische Kraterseen, umgeben von dichten Wäldern. Das sind mystische Orte.

Marco d’Eramo, 72, lebt in Rom. Er ist Journalist, war USA-Korrespondent und schreibt Sachbücher. Gerade wurde er für sein Buch "Die Welt im Selfie. Eine Besichtigung des ­tou­ristischen Zeitalters" mit dem ITB-BuchAward 2019 ausgezeichnet (Suhrkamp, 26 €).

GEO Saison Nr. 05/2019 - Ostsee

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