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Interview Über die Glücksseligkeit Europa per Zug zu entdecken

Bernina Express
Tolle Panoramen haben viele europäische Zugstrecken zu bieten - so auch die Schweiz
© AerialVision_it / Shutterstock
Der britische Reisejournalist Tom Chesshyre ist drei Wochen lang kreuz und quer durch Europa gefahren, ohne Plan, in möglichst langsamen Zügen. Sein Weg nach Venedig führte ihn nach Maastricht und Leipzig, nach Krakau und Zagreb – und sogar bis ans Schwarze Meer. Endstation: sein Buch »Slow Trains«, eine Liebeserklärung an Europa

Herr Chesshyre, Sie schreiben, der Brexit war Schuld, dass sie aufgebrochen sind. Wie müssen wir uns das vorstellen?

Wir steckten in dieser furchtbar wütenden Debatte über den Austritt aus der Europäischen Union. Die Auseinandersetzungen waren erbittert und endlos, und die Vorstellung, dass wir Europa verlassen würden, war so schrecklich. Ich musste einfach weg. Gleichzeitig wollte ich mir diesen freundlichen Club, den wir da verlassen sollten, genauer ansehen. Ich nahm mir einige Zeit frei und machte mich auf, Europa zu umarmen.

Hat Europa Sie zurück umarmt?

Ich habe so viel Wundervolles erlebt. Mit am meisten berührt hat mich eine Begegnung in Belgien – wo sie sehr stolz auf ihre Eisenbahn sind. Auf der Fahrt von Brügge nach Liège kam ich kurz hinter dem Bahnhof Brüssel- Süd mit zwei Schaffnern ins Gespräch. Zwei lustige Typen, die mir davon erzählten, wie sie jeden Tag mit Schwarzfahrern Katz und Maus spielen. Am Ende versprachen sie, mir eine ihrer Zugführer-Krawatten und den dazugehörigen Gürtel mit einem großen »B« auf der Schnalle zu schicken. Das haben sie tatsächlich getan. Beides habe ich dann zur Feier meiner Buchveröffentlichung in London getragen. Leider sind nicht alle Erlebnisse so schön. Wenn man durch die Ukraine fährt, wird einem so richtig klar: Es gibt in Europa ein Land, in das Russland gerade einmarschiert. Ausländische Truppen stehen auf seinem Boden. Man versteht nicht, was das für die Menschen dort bedeutet, solange man nicht hinfährt und hört, was sie dazu sagen.

Wie sind Sie ins Gespräch gekommen?

Es hilft, die richtigen Unterkünfte zu wählen. Wenn Sie damit anfangen, fremde Menschen in der Lobby des »Ritz« anzusprechen, werden Sie möglicherweise schnell von Sicherheitsleuten zur Tür gebracht. Hostels dagegen sind dafür gemacht, dass man einander begegnet. Ein Türöffner ist natürlich auch das Bahnfahren selbst, mit allem, was dazugehört. In Maastricht habe ich lange mit einer Ticketverkäuferin der Nederlandse Spoorwegen gesprochen. Ihr Englisch war sehr gut, und als ich sie darauf ansprach, erzählte sie mir davon, wie sie einmal in London gelebt und an der Oxford Street Weihnachtskugeln verkauft hat.

Tom Chesshyre
Belgische Schaffner, die aus dem Nähkästchen plaudern
© Tom Chesshyre

Begegnungen mit Einheimischen und anderen Reisenden - ist das der Grund, warum Sie sich für die Bahn entschieden haben?

Ein wichtiger, ja! Das mag in Corona-Zeiten schwerer geworden sein, Speisewagen sind möglicherweise geschlossen, alle gehen etwas auf Abstand. Aber das ist nicht das Ende spontaner Begegnungen in Zügen. Was Smalltalk angeht, bietet das Virus sogar einen Vorteil: Es ist ein Thema, das wir alle gemeinsam haben. Das verbindet.

Der Titel ihres Buchs lautet "Slow Trains", langsame Züge. Was verstehen Sie unter langsam?

Da habe ich keine präzise Definition. Alles ist relativ. Der erste Personenzug der Welt, er verkehrte zwischen Manchester und Liverpool, fuhr 48 Kilometer pro Stunde. Was damals Rekord war, ist heute sehr langsam. Für mein Buch habe ich versucht, die schnellsten Routen zu vermeiden und mich entlang der Nebenstrecken treiben zu lassen. Aber ich war auch nicht so verrückt, eine Woche irgendwo festzusitzen, um auf einen besonders langsamen Zug zu warten.

Wie viel auf Ihrer Tour war geplant, wie viel spontan?

Ich hatte ein festes Ziel: Venedig. Ein Ort, mit dem ich Zug-Assoziationen verbinde, die Stadt war eine Station des legendären Orient-Express. Die Vorstellung, am Ende einer langen Reise dort anzukommen und auf den Canal Grande zu schauen, ließ mein Herz schneller schlagen. Mein Zeitrahmen stand auch fest: Ich hatte mir drei Wochen Urlaub genommen. Aber für den Weg selbst gab es keinen Plan. Ich habe mir ein Interrail-Ticket gekauft, um jeden Tag zu entscheiden, wohin ich als Nächstes reise. Und nicht immer bin ich dort auch angekommen, weil ich spontan irgendwo ausgestiegen bin.

Wo zum Beispiel?

In Nordserbien. Der Zug hielt in einer winzig kleinen Stadt namens Vrbas. Plötzlich, ohne dass ich darüber nachgedacht hätte, bewegten sich meine Beine. Ich stieg aus dem Zug und wusste überhaupt nicht, wo ich war – wie befreiend! Ich lief durch einen verschlafenen, sehr aufgeräumten Ort, der mich mit seinen Vorgärten und von Ahornbäumen gesäumten Straßen an US-amerikanische Kleinstädte erinnerte. In einem Café im Zentrum traf ich Peter, einen ehemaligen Basketballprofi. Er wusste alles über den Ort und erzählte mir vom vergangenen Ruhm der Lebensmittelindustrie dort. Außerdem half er mir, ein Bett zum Übernachten zu finden. Ebenso wenig hätte ich vor meiner Abreise gedacht, dass ich in Odessa landen und meine Zehen ins Schwarze Meer stecken würde. Das war ein richtiges Reiseabenteuer, nichts, was ein Anbieter »perfekt« für einen zusammengestellt hat. Da kann auch mal was schiefgehen.

Was zum Beispiel?

Bald nach Ankunft meiner Fähre in Calais musste ich erfahren, dass die französischen Eisenbahner streikten. Das machte es naturgemäß schwer, das Land mit dem Zug zu bereisen. Ich war enttäuscht und ärgerte mich, dass ich davon vorher nichts mitbekommen hatte. Es fuhr nur ein einziger Zug, und zwar nach Lille, und von dort eine Verbindung ins belgische Kortrijk. Und so habe ich Frankreich leider sehr schnell verlassen, obwohl ich gern länger geblieben wäre. Aber immer, wenn mich etwas ärgerte, dachte ich gleichzeitig: »Jetzt habe ich etwas, über das ich schreiben kann.« Man schreibt ja kein gutes Reisebuch, wenn alles klappt. Ich habe echte Geschichten erlebt, und echte Geschichten sind nicht immer perfekt.

Wir Deutschen beschweren uns ja sehr gern über die Deutsche Bahn.

Das verstehe ich nicht. Die Deutsche Bahn ist sehr effizient, ihr Service großartig! Übertroffen wird sie nur von den Belgischen Zügen – und den indischen, aber das ist ein Thema für sich! In Polen waren die Züge oft überfüllt, in Großbritannien meist unpünktlich und dreckig, in Frankreich drohte immer das Streik- Risiko. Als ich bei Dumont, meinem deutschen Verlag, von meiner Begeisterung für die Deutsche Bahn erzählte, hielten sie mich dort für verrückt. Aber wussten Sie, dass Service-Mitarbeiter an den Bahnhöfen in Budapest und Ljubljana die Website der Deutschen Bahn nutzen, um Verbindungen herauszusuchen? So gut ist Ihre Bahn! Überhaupt hat mir in Deutschland viel gefallen: In Köln transportiert einen der Zug ins Herz der Stadt, direkt vor den Dom. Und der Leipziger Hauptbahnhof ist verrückt groß! Er erstreckt sich über 83 460 Quadratmeter!

Slow Train Buchcover
© DuMont

Tom Chesshyre, 49, lebt in London, hat 21 Jahre lang als Reisejournalist für die »Times« gearbeitet und ist Autor mehrerer Reisebücher. Nach »Slow Trains« kündigte er seine Stelle, seither ist er freier Autor.

Tom Chesshyres Reisebericht in 25 Stationen schlägt viele Bögen: von der kleinen Alltagsbeobachtung zur aktuellen Politik, von historischen Umwälzungen bis zu detailliertem Eisenbahnwissen, verbunden mit einer Hommage ans Sich-treiben-Lassen. DuMont Reiseverlag, 14,95 Euro

Welche waren denn die europäischsten Orte auf Ihrer Seite?

So viele Orte in Europa haben symbolische Bedeutung. Nehmen Sie die hoch aufragenden Kreidefelsen von Dover, die als »Tor nach Großbritannien« gelten. Oder Calais, auf der anderen Seite des Kanals, wo es die provisorische Zeltstadt gab, genannt, »der Dschungel«, in der Flüchtlinge auf eine Möglichkeit harrten, weiterzureisen. Und natürlich Maastricht: der Ort, wo das Drama, das zum Brexit führte, begonnen hat. Dort hatte ich sehr, sehr großes Glück: Ich tauchte am »Gouvernement« auf, dem Sitz der Provinzialregierung von Limburg, ohne jeden Termin. Und ein unglaublich freundlicher Mitarbeiter, der sich ebenfalls als Peter vorstellte, zeigte mir den Raum und den Tisch, an dem 1992 der Vertrag über die Europäische Union unterschrieben worden ist.

Sie waren aber auch weniger Staatstragend. In Belgrad zockten Sie eine Runde im Glücksspielladen, in Lwiw gingen Sie ins Irish Pub statt lokale Küche auszuprobieren.

Ich habe versucht, zu variieren. Natürlich gibt es diese Orte: Kathedralen, Plätze und Museen, die einen einfach anziehen. Aber nie habe ich Listen abgehakt. Ich habe immer nur eine Nacht an einem Ort verbracht und dachte mir: Ich sehe, was ich in der Zeit sehe, ich erlebe, was ich erlebe, und am nächsten Tag wartet der nächste Ort, das nächste Abenteuer. Eine herrliche Art, zu reisen! Ich hätte Monate so weitermachen können.

Die meisten von uns wollen ja lieber an Orte, die Sie von Instagram oder aus dem Reiseführer kennen. Mit dem Ergebnis, dass es sehr voll vor Ort werden kann.

Das Problem, denke ich, sind die preiswerten Flüge. Als Easyjet und Ryanair mit ihren Angeboten begannen, habe ich ein Buch darüber geschrieben, wie lächerlich billig das Reisen geworden ist. An vielen Orten führen diese niedrigen Preise zu Overtourism. Dazu fielen vor Corona Kreuzfahrtschiffe über die Städte her: Barcelona, Amsterdam, Venedig, Dubrovnik, sie alle ächzten unter den schwimmenden Hochhäusern in ihren Häfen. Ohnehin ist eine Menge Druck auf dem Thema, durch Greta Thunberg und viele andere Klimaschutzaktivisten. Vielleicht wird durch das Virus nun etwas justiert, sodass wir unsere Reisen sorgfältiger planen und insgesamt weniger reisen.

Werden wir vielleicht alle auch ein wenig demütiger, was das Reisen angeht?

Hoffentlich. Wir können uns glücklich schätzen, wenn wir reisen dürfen. Warum sich darüber ärgern, wenn der Balkon keinen perfekten Meerblick hat? Wer sich an solch kleinen Dingen aufhält, verliert den Blick für das Ganze, nämlich: Was für ein Glück es ist, reisen zu können.

Sie schreiben vom "goldenen Zeitalter" der Eisenbahn, das Mitte des 20. Jahrhunderts zu Ende ging. Jetzt stehen viele Urlaubsflieger am Boden. Bekommt das Bahnfahren eine neue Chance?

Das kann ich mir gut vorstellen. Es ist immer noch sehr romantisch, mit dem Zug zu reisen und ein Land dadurch richtig kennenzulernen. Man hat viel Zeit, kann aus dem Fenster gucken, etwas über das Land lesen und versuchen, es zu verstehen. Wenn man fliegt, sieht man nur Wolken und nichts davon, wie sich die Landschaft unterwegs ändert. Doch genau das gehört für mich zu den Freuden, die man erlebt, wenn man die Überholspur verlässt. Definitiv, es wäre wunderschön, eine zweite Goldene Ära des Zugreisens zu erleben.

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