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Judenverfolgung Janusz Korczak: Der Arzt, der mit 200 Kindern in den Tod ging

Janusz Korczak, ein älterer Mann mit Bart und Brille, wird von mehreren Kindern umringt
Der Arzt, Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak (eigentlich Henryk Goldszmit) im Kreis "seiner" Waisenkinder. Korczak setzte sich früh für Kinderrechte und eine kindgerechte Erziehung ein; unter anderem gründete er eine landesweit erscheinende Zeitung von und für Kinder
© The Ghetto Fighters' House Archive
Das Wohl der Kinder lag dem polnischen Arzt und Pädagogen Janusz Korczak stets am Herzen. Als 1939 nach der deutschen Besetzung Polens der nationalsozialistische Terror gegen die Juden begann, kümmerte er sich um Waisen im Warschauer Ghetto. Er blieb bei ihnen – bis zum bitteren Ende

Fast alle Jungen und Mädchen in Polen kennen den "Alten Doktor". Am Donnerstagnachmittag ist seine Kindersendung im Rundfunk zu hören. Auch viele Erwachsene verfolgen, wie der Arzt mit warmer Stimme mal junge Patienten im Krankenhaus interviewt, mal eines der vielen Märchen aus seinem unerschöpflichen Repertoire erzählt. 

Korczaks Reformpädagogik machte ihn landesweit berühmt 

Trotz seiner Beliebtheit weiß kaum jemand, wer sich hinter dem "Alten Doktor" verbirgt: Janusz Korczak (geboren als Henryk Goldszmit), der bekannte jüdische Reformpädagoge und Leiter eines der angesehensten Waisenhäuser Warschaus. Denn sein Name darf im Radio nicht genannt werden: Die Redakteure fürchten den Vorwurf von Antisemiten, deren Ideologie in den 1930er-Jahren auch in Polen verbreitet ist, ein Jude könne die Gedanken polnischer Kinder beeinflussen.

Eine neue Art des Hasses lernen die polnischen Juden kennen, als die Deutschen 1939 das Land überfallen. Polens jüdische Gemeinschaft, eine der größten der Welt, zählt etwa 3,3 Millionen Menschen, rund zwei Drittel davon leben nun unter deutscher Besatzung. In den meisten größeren Städten legen die Besatzer Ghettos an.

Mehrere Dutzend Waisenkinder sitzen in einem hohen Saal im Warschauer Waisenhaus von Janusz Korczak
Nach Plänen von Janusz Korczak wurde 1912 in Warschau das "Dom Sierot" (Waisenhaus) erbaut. Das Gebäude – hell, offen, großzügig – und der darin herrschende reformpädagogische Geist wirkten sich positiv auf die Kinder aus; es gab ein Kinderparlament, eine Selbstverwaltung und sogar ein "Gericht" für Streitfälle
© Dora Forbert

1940 trennen sie in Warschau, Korczaks Heimatstadt, ein nicht einmal vier Quadratkilometer großes Gelände im Zentrum mit einer Mauer vom Rest der Stadt ab – ein Gefängnis für bald mehr als 400.000 Menschen. Auch Janusz Korczak, Anfang 60, muss mit den 150 Kindern seines Waisenhauses umsiedeln. Sie leben nun im früheren Haus einer Kaufmannsvereinigung, wo es nur ein Bad gibt.

Wie andere Ghettos auch wird das von Warschau rasch zu einem Ort des Elends. Fleckfieber und andere Krankheiten brechen aus, jeden Morgen liegen Leichen auf den Straßen. Hunger quält die Menschen. Nur etwa 200 Kilokalorien erhalten die Juden von den Deutschen pro Tag. Wer nicht Geld oder Schmuck nach draußen schmuggeln und gegen Lebensmittel tauschen kann, ist dem Tod geweiht.

Janusz Korczak verbringt daher viel Zeit damit, bei der jüdischen Gemeinde oder zu Geld gekommenen Kollaborateuren um Lebensmittel zu bitten. Aber er versucht, das Waisenhaus weiter im Geist seiner fortschrittlichen Pädagogik zu führen. So tagt auch jetzt samstags das von ihm erfundene "Kindergericht": Fünf Jungen und Mädchen entscheiden dabei über Streitfälle im Haus. Auch Korczak kann verurteilt werden, etwa wenn er ein Kind zu Unrecht in die Ecke gestellt hat.

22. Juli 1942. Im Ghetto hängen verstörende Ankündigungen aus: Die Deutschen wollen den Bezirk auflösen – und deportieren täglich um die 6000 Menschen "nach Osten“. Denn die Nationalsozialisten haben nun einen Plan für das, was sie "Endlösung der Judenfrage" nennen: Die Juden sollen nicht – wie zwischenzeitlich in Berlin erwogen – in unwirtliche Gebiete abgeschoben werden und dort langsam zugrunde gehen. Stattdessen wollen die Deutschen sie rasch durch Motorabgase oder Giftgas ermorden.

Seit Herbst 1941 hat das NS-Regime in Polen daher sechs Vernichtungslager gebaut. Eines befindet sich etwa 80 Kilometer von Warschau entfernt bei der Ortschaft Treblinka. Täglich fahren nun Güterzüge voller Menschen in diese Mordfabrik. Was ihnen dort bevorsteht, ahnt kaum einer.

Janusz Korczak ging den letzten Weg mit seinen Kindern

Zwei Wochen nach Beginn der Deportationen, Anfang August 1942, umstellen SS und jüdische Polizei das Waisenhaus. Als Arzt hätte Janusz Korczak noch im Ghetto bleiben dürfen. Doch er macht sich mit seinen inzwischen knapp 200 Schützlingen auf den Weg. Zwischendurch singen sie: "Auch wenn uns der Sturm umweht, lasst uns den Kopf hochhalten."

Als sie den Güterbahnhof erreicht haben, drängt sich dort schon eine große Menge, schreiend und betend. Doch Korczak und seine Kinder steigen ruhig in einen der Waggons, so berichtet ein Augenzeuge. Was ihnen in Treblinka geschieht, hat niemand festgehalten. Doch wie alle dort Angekommenen müssen auch sie sich entkleiden. Dann werden sie von Wachmannschaften erschossen oder in die Gaskammern getrieben. Fast alle Juden, die Treblinka erreichen, sind etwa eineinhalb Stunden später tot – so wohl auch Korczak und seine Kinder.

Zusammengepfercht auf der Ladefläche eines Lastwagens stehen jüdische Männer 1941 im Warschauer Ghetto
Die Nationalsozialisten deportierten Tausende Juden aus dem Warschauer Ghetto in die Vernichtungslager (oben jüdische Männer, die 1941 abtransportiert werden). Janusz Korczak und seine Waisenkinder wurden 1942 in Treblinka ermordet
© Reinhard Schultz / imago images

Im April 1943 leben nur noch etwa 60.000 Menschen im Warschauer Ghetto. Ihre Lage ist hoffnungslos. Doch um den Besatzern wenigstens hohe Verluste zuzufügen, wagen sie einen Aufstand. Vier Wochen dauert es, bis die Deutschen die Rebellion erstickt und einen Großteil der Aufständischen getötet haben, sie sprengen Gebäude und brennen das Ghetto nieder. Das jüdische Leben in Warschau hat aufgehört zu existieren. Von allen polnischen Juden werden nur etwa 380.000 den Holocaust überleben.

Erschienen in GEO EPOCHE Nr. 117 "Polen" (2022)

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