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80. Jahrestag Aufstand der Todgeweihten: Der verzweifelte Kampf im Warschauer Ghetto

80. Jahrestag: Mit vorgehaltener Waffe führen SS-Männer jüdische Familien währen des Aufstands im Warschauer Ghetto ab. Die Widerständler haben den Deutschen wenig entgegenzusetzen. Dennoch gelingt es ihnen, den Besatzern empfindliche Verluste zuzufügen
Mit vorgehaltener Waffe führen SS-Männer jüdische Familien währen des Aufstands im Warschauer Ghetto ab. Die Widerständler haben den Deutschen wenig entgegenzusetzen. Dennoch gelingt es ihnen, den Besatzern empfindliche Verluste zuzufügen
© United States Holocaust Memorial Museum
1943 haben die deutschen Besatzer Warschaus Hunderttausende Juden in ein Ghetto gesperrt – und beginnen damit, sie in Vernichtungslager zu deportieren. Doch im April vor 80 Jahren begehren die Eingeschlossenen auf. In einem verzweifelten Kampf auf Leben und Tod

Dunkelheit. Ein paar flackernde Kerzen. Mühsam tastet die Gruppe sich vor. Die Hände suchen Halt am feuchten Mauerwerk. Zehn Flüchtende, erschöpft, kotverschmiert, verloren im Labyrinth der Warschauer Kanalisation. Der Gestank der Exkremente ist unerträglich.

Leise müssen sie sein, vorsichtig. Über vielen Ausstiegslöchern, oben, wo jetzt Nacht ist, stehen deutsche Posten. Hören die Wachen etwas, schießen sie in den Kanal, werfen Handgranaten, leiten Gas hinab. An manchen Stellen haben sie Sprengfallen installiert, anderswo die Deckel zugeschweißt. Keiner, der in die Unterwelt der Kanäle geflüchtet ist, soll entkommen, nicht einer überleben.

Die zehn im Dunkeln wollen nichts anderes als das: überleben. Drei Wochen lang haben sie gegen die Deutschen gekämpft – seit jenem 19. April 1943, an dem die deutschen Besatzer begannen, das Warschauer Ghetto zu räumen, und der Aufstand der Eingeschlossenen losbrach.

Das stickige Labyrinth ist der letzte Ausweg

Tausende sind seither umgekommen. Als es aussichtslos wurde, als das Ghetto brannte und die Anführer des Aufstands tot waren, sind die zehn hinabgestiegen in das stickige Labyrinth. Es ist ihr letzter Ausweg. Ein tückischer Ausweg. Wer die Gänge nicht kennt, hat kaum eine Chance. Zahllose Verzweifelte haben es versucht und sind ertrunken, erstickt, verhungert, von den Deutschen aufgegriffen und erschossen worden.

Nervös waten die zehn weiter. Immer tiefer brennen die Kerzen in ihren Händen herunter. Plötzlich hören sie Geräusche. Die Gruppe verharrt. Ein deutscher Suchtrupp? Das Ende? Ein Wort kommt aus dem Dunkel. Stille. Dann noch einmal: „Jan?“

„Jan“, der Allerweltsname: ihr Kennwort! Sekunden später stehen die zehn vor Szymon Ratajzer, genannt „Kazik“, einem Kundschafter der Aufständischen auf der anderen Seite, jenseits der Ghettomauern. Bei ihm stehen ein weiterer Rebell und zwei polnische Kanalarbeiter, die in der Finsternis jeden Winkel kennen: die Rettungsmission, auf die sie im Ghetto gewartet haben.

Rund 60 Männer und Frauen wagen die Flucht

Sie kommt zu spät. Unter Tränen berichten die zehn von dem Grauen der vergangenen Tage. Umso mehr, entscheidet Kazik, zählt jetzt jedes einzelne Leben. Er schickt zwei aus der Gruppe los, um zwischen den zerstörten Häusern und Verstecken im Ghetto weitere Überlebende zu suchen.

Er selbst wird zurückgehen, in die Welt außerhalb des Ghettos, und den Ausstieg organisieren. Den Weg wird er ihnen kennzeichnen. Gegen Morgen sind es rund 60 Männer und Frauen, die Kaziks Markierungen folgen. Stellenweise verengt sich der Kanal so sehr, dass sie kriechen müssen: Oft bleibt nur noch ein schmaler Streifen Atemluft zwischen der schleimigen Brühe und der Decke. An anderen Stellen, dort, wo der Hauptkanal sich bis zu zwei Metern Höhe wölbt, wird der Strom reißend, kann einen Menschen fortspülen.

Warschauer Ghetto - Karte
Mehr als 450.000 Juden müssen in einem etwa vier Quadratkilometer großen, von einer breiten Straße zerschnittenen Ghetto leben
© Geo Grafik

Dann gelangen sie in eine niedrige Röhre, kaum 70 Zentimeter hoch. Sie sind da. Hier sollen sie warten. Die Stunden vergehen. Immer wieder fallen Einzelne in Ohnmacht. Mancher kann seinem Durst nicht widerstehen und trinkt von dem dicken Kanalwasser. Aus den Stunden wird ein Tag. Dann klappt jemand den Kanaldeckel zur Seite.

Warschau, 5. Oktober 1939

Dreieinhalb Jahre zuvor: Deutsche Truppen paradieren durch die zerstörte polnische Hauptstadt. Dort begegnen viele junge Soldaten erstmals den Menschen, die die NS-Propaganda seit Jahren karikiert: Männer mit langen Schläfenlocken und dichten Bärten, gekleidet in dunkle, knöchellange Kaftane. Orthodoxe Juden. „Untermenschen“, haben die Besatzer von ihren Führern gelernt, Wesen, denen kein Respekt gebührt.

Die Deutschen reißen alten Männern die Hüte vom Kopf, stoßen sie nieder, nehmen jüdischen Passanten Geld und Wertsachen ab. Es spricht sich herum, dass es einen orthodoxen Juden zutiefst demütigt, den Bart zu verlieren. Lange Scheren kommen in Gebrauch. Anderswo halten die Deutschen brennende Zeitungen an die Bärte. Indes sind die Orthodoxen nur eine, wenn auch starke Minderheit unter den rund 375 000 Warschauer Juden, knapp einem Drittel der Stadtbevölkerung.

Viele gehören liberalen Gemeinden an; andere sind säkularisiert. Es sind Kaufleute darunter und einfache Arbeiter, sterbensarme Bettler, gewöhnliche Handwerker, Offiziere, Zahnärzte und Lehrer. Manche sind internationalistisch gestimmte Sozialisten, andere arbeiten in zionistischen Organisationen für die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina. Zwischen diesen Gruppen bestehen tiefe ideologische Gräben.

Polens jüdische Gemeinschaft gehört zu den größten der Welt. 3,3 Millionen Menschen. Seit dem Mittelalter leben sie mal im Frieden mit der katholischen Mehrheit, zumeist aber angefeindet: Auch an Bug und Weichsel ist der Antisemitismus verbreitet.

Noch hoffen die Juden auf ein gütiges Ende der Besatzung

Nun, nach der Eroberung Polens, leben mehr Juden unter deutscher Herrschaft als je zuvor. Bang fragen sie sich, was mit ihnen geschehen wird. Und hoffen doch: Die Deutschen, ordnungsbeflissen und kultiviert, werden nach den anfänglichen Exzessen ein Besatzungsregime errichten, unter dem es sich aushalten lässt. Und am Ende den Krieg ohnehin verlieren. Bis dahin gilt es, sich einzurichten.

Wahrscheinlich hat mancher Warschauer Jude gehofft, dass die Gemeinde durch eine der ersten Entscheidungen der neuen Obrigkeit sogar eine gewisse Unabhängigkeit erlangen würde: Anfang Oktober 1939 erhält der Ingenieur und Politiker Adam Czerniaków, ein assimilierter Jude, die Anweisung, 24 Kandidaten für ein Selbstverwaltungsgremium zu benennen – den Warschauer „Judenrat“.

Czerniaków sucht angesehene Vertreter der verschiedenen politischen Lager in der Gemeinde aus. Die Deutschen akzeptieren seinen Vorschlag. Doch bald stellt sich heraus, dass die Besatzer in erster Linie einen Apparat wollen, der ihre Anordnungen und Befehle reibungslos ausführt – Befehle, gegen die es kaum einen Einspruch gibt.

Auch die christlichen Polen leiden unter der Okkupation: Zwangsarbeiter werden rekrutiert, politische Führer verhaftet. Die Juden aber trifft all das spürbar härter. Ihre Konten werden eingefroren, Geschäfte unter Zwangsverwaltung gestellt, religiöse Rituale, wie das Schlachten von Tieren nach jüdischen Regeln, verboten. Ende November ergeht ein Erlass, dass jeder Jude eine weiße Armbinde mit einem blauen Davidstern zu tragen hat. An den Zugangsstraßen

des traditionell jüdisch dominierten Viertels von Warschau errichten die Besatzer Stacheldrahtsperren und Warnschilder, die auf eine angebliche Seuchengefahr hinweisen.

Ende März 1940 befehlen die Deutschen dem Judenrat, das „Seuchensperrgebiet“ mit einer Mauer zu umgeben – auf eigene Kosten. Schließlich wird Warschau in einen deutschen, einen polnischen und einen jüdischen Wohnbezirk geteilt. Juden aus dem deutschen Bezirk, ab Oktober 1940 auch aus dem polnischen, müssen in das erweiterte Sperrgebiet umziehen. Dann wird ihnen verboten, das Areal ohne Sondergenehmigung zu verlassen. An den Eingängen ziehen Wachen auf.

Mitten im Stadtzentrum Warschaus ist ein abgeriegeltes Ghetto entstanden, umschlossen von einer etwa drei Meter hohen Ziegelsteinmauer. Anfangs führen 22 Tore in dieses Gebiet; 1943 sind es nur noch fünf.

Das Ghetto besteht aus zwei Teilen, getrennt durch die stark befahrene Chłodna-Straße. Sie ist als Trasse für den Durchgangsverkehr unverzichtbar und von den jüdischen Gassen abgeriegelt. Im Norden befindet sich das

„Große Ghetto“, ein Arbeiterviertel mit zumeist engen, finsteren Gassen und nur wenigen bürgerlichen Häusern.

Südlich liegt das „Kleine Ghetto“, etwa zwei Drittel kleiner; vor dem Krieg war es das Quartier der Großhändler, Eisenwarenverkäufer und Obstimporteure. Hier herrscht ein intensives religiöses Leben. Nur eine Kreuzung verbindet beide Teile miteinander; später wird eine hölzerne Fußgängerbrücke über die Chłodna-Straße errichtet.

Anfangs drängen sich im Ghetto knapp 400 000 Menschen in weniger als 1500 Gebäuden, auf kaum vier Quadratkilometern. Und immer mehr Bewohner kommen hinzu, die die Deutschen aus anderen Gebieten deportieren – bald leben mehr als 450 000 Menschen hinter den Mauern.

Sie haben wenig miteinander gemein: Reiche und Arme, Gläubige und Ungläubige, Gelehrte und Kriminelle, nicht zuletzt zahlreiche assimilierte, auch zum christlichen Glauben übergetretene Familien sowie erklärte Atheisten. Das Einzige, was sie miteinander verbindet, ist die Logik der nationalsozialistischen „Rassenlehre“.

Die innere Verwaltung des Ghettos überlassen die Deutschen dem Judenrat und befehlen ihm, einen eigenen Ordnungsdienst aufzubauen. Diese jüdische Polizei regelt den Verkehr und überwacht die Wirtschaft im Ghetto, klärt Kleinverbrechen auf und bemannt gemeinsam mit deutschen und polnischen Gendarmen die Kontrollposten – privilegiert und schon bald verhasst als korrupter Handlanger der Unterdrücker.

Die Lebensmittelrationen sind zu knapp, der Schmuggel blüht

Doch auch Krankenhäuser und Suppenküchen unterhält der Rat. Es gibt Konzerte und Theateraufführungen, geheime Schulen und politische Zirkel – zudem Bars, Nachtclubs und Bordelle. Weil die Deutschen die Ersparnisse der Juden beschlagnahmt haben und weil der Handel mit dem Rest der Stadt streng reglementiert ist, wird alles geschmuggelt, was begehrt ist. Schmuck, Pelze und Möbelgarnituren werden nach draußen gebracht, an korrupten Wachen vorbei, über die Mauer, durch die Kanalisation. Schnaps und Medikamente kommen herein, vor allem aber Lebensmittel.

Denn die Rationen, die die Besatzer den Eingesperrten zugestehen, sind zum Leben zu wenig. Schon bald reihen sich auf den Straßen die Bettler und Kinder mit aufgeblähten Hungerbäuchen. Typhus und Tuberkulose grassieren. Monat für Monat sterben Tausende – 60 000 bis Ende 1942.

Seit Sommer 1941 richten deutsche Unternehmer Betriebe vor allem im nördlichen Ghetto ein. Männer wie die Textilfabrikanten Walter Caspar Többens und Fritz Emil Schultz nutzen die Not und Rechtlosigkeit der Bewohner, um sie – Sklaven gleich – oft nur für ein wenig Essen arbeiten zu lassen. Doch selbst höhere Töchter bewerben sich, um für etwas Suppe und ein paar Złoty Damenbekleidung und Uniformen herzustellen; andere arbeiten als Bürstenmacher, fertigen Schuhe oder Metallwaren vor allem für die Wehrmacht.

Kompromisslose Nationalsozialisten indes sehen in der Ausbeutung allenfalls eine Zwischenlösung. Ihr Ziel ist radikaler: „Die Juden werden vor Hunger und Elend eingehen und von der jüdischen Frage wird nur ein Friedhof übrig bleiben“, notiert Ludwig Fischer, der Gouverneur des Distrikts Warschau. Männer wie er wollen keine Sklaven. Was sie wollen, ist eine Welt ohne Juden.

Die "Umsiedlung" bedeutet den sicheren Tod

April 1941. Auf der Chlodna- Straße, die das Ghetto durchschneidet, rollen deutsche Militärfahrzeuge nach Osten. Richtung Sowjetunion. Bald verdichtet sich der Verkehr zu einem scheinbar endlosen Strom von Panzern, Mannschaftswagen, Geschützen.

Stundenlang müssen die Einwohner warten, um vom einen in den anderen Teil des Ghettos zu gelangen. Am 22. Juni überschreitet die Wehrmacht die sowjetische Grenze. Im Ghetto sehen es viele mit gespannter Erwartung: Krieg gegen das riesige Russland - der Untergang ihrer Tyrannen scheint nur noch eine Frage der Zeit.

Doch dann kommen immer neue Siegesmeldungen aus dem Osten. Ende 1941 berichten illegale Zeitungen und Flugblätter über schockierende Verbrechen: Die Deutschen verüben unter den dortigen Juden Massaker, erschießen Zehntausende. Und Flüchtlinge aus dem Lager Chelmno, 200 Kilometer südwestlich von Warschau, erzählen, dass die Besatzer dort polnische Juden sowie Sinti und Roma in speziellen Lastwagen mit Auspuffgasen ersticken.

Doch kaum einer will diese Nachrichten glauben: Massenhafter Mord an potenziell nützlichen Sklaven, das wäre doch absurd, sagen viele. Da die Deutschen immer nur davon sprechen, Juden umzusiedeln, hält sich in der Gemeinschaft die Hoffnung, dass das NS-Regime zwar brutal ist, aber nicht auf Vernichtung angelegt. Dass es eine Chance gibt, den Kern der Gemeinde zu erhalten. Und dass es unverantwortlich wäre, diese Chance durch Auflehnung zu gefährden.

Für die meisten Menschen im Ghetto liegt es jenseits ihrer Vorstellungskraft, dass im Herzen Europas ein bürokratisch organisierter, industriell betriebener Massenmord an einem ganzen Volk stattfinden könnte. Doch genau das haben die Nationalsozialisten jetzt vor.

Im Mai und Juni 1942 müssen jüdische Zwangsarbeiter bei dem Dörfchen Treblinka, rund 80 Kilometer nordöstlich von Warschau, ein Vernichtungslager mit zunächst drei Gaskammern bauen. (Es ist nach Belzec und Sobibór bei Lublin sowie Chelmno das vierte Lager, in dem die Deutschen vor allem Juden systematisch durch Giftgas ermorden und deren Leichen beseitigen.)

Etwa zur gleichen Zeit werden im Ghetto Stimmen lauter, die zum Widerstand gegen die Deutschen aufrufen. Doch es handelt sich dabei überwiegend um junge, politisch radikale Leute - Sozialisten und Zionisten, die schon in der Vorkriegszeit als Hitzköpfe galten. Eine Minderheit.

Rebellion gegen die deutsche Militärmaschine, die Polen und Frankreich, Norwegen und den Balkan jeweils in wenigen Wochen unterworfen hat? Diesen Kampf, weiß Adam Czerniaków, können die Bewohner des Warschauer Ghettos nicht gewinnen. Der Chef des Judenrats hofft, durch Verhandlungen und Kompromisse die Mehrheit der Menschen retten zu können - obwohl er an den Berichten über die Vernichtungslager in Polen und den Massenmord an sowjetischen Juden kaum zweifeln dürfte.

Berlin fordert, das Ghetto zu vernichten

22. Juli 1942. In der Leszno-Straße im Ghetto kaufen jene, die es sich leisten können, Eiscreme bei "Lilia". Schwitzend ziehen Rikscha-Läufer ihre besser gestellten Kunden vorbei. An anderen Straßen liegen Verhungerte. Vor dem Gebäude des Judenrats in der Zamenhofa-Straße 19 parken mehrere Personenwagen und zwei Mannschaftstransporter.

Drinnen im Konferenzraum sitzt Adam Czerniaków acht SS-Offizieren gegenüber. Ein Sturmbannführer teilt Czerniaków mit: Alle Warschauer Juden, ungeachtet ihres Alters und Geschlechts, seien "nach Osten umzusiedeln", mit Ausnahme all jener, die für deutsche Behörden und Unternehmen arbeiten sowie für die Krankenhäuser - und den Judenrat.

Sollte der Rat den Befehl nicht umsetzen, "werdet ihr alle aufgeknüpft, dort drüben" - der Sturmbannführer weist mit der Hand aus dem Fenster auf einen Kinderspielplatz. Bis zum Abend sind die ersten 6000 Ghettoinsassen zur Deportation zu stellen.

Gegen Mittag hängen entsprechende Bekanntmachungen aus. Immer noch glauben viele, es handele sich um eine begrenzte Abschiebung aus dem übervölkerten Bezirk.

Nicht wenige begeben sich freiwillig zur Sammelstelle. Der Ordnungsdienst des Judenrats räumt Gruppenunterkünfte und einige Gefängniszellen. Jeden Tag soll sich nun eine vorgegebene Zahl Bewohner für die Deportation sammeln. Nur wenig Gepäck, so die Anweisung, dürfen die Betroffenen mitnehmen. 6250 Menschen besteigen an diesem Abend Viehwaggons mit unklarem Ziel.

Am Abend des folgenden Tages lässt sich Adam Czerniaków ein Glas Wasser in sein Büro bringen. Der Vorsitzende des Judenrates macht sich keine Illusion, was "Umsiedlung" tatsächlich bedeutet: den Tod. Czerniaków hebt das Glas und schluckt Zyankali.

Auch andere ahnen es. Am 28. Juli treffen sich Vertreter mehrerer jüdischer Jugendorganisationen. Die Alten, urteilen sie, seien nicht entschieden genug. Das Ghetto müsse sich endlich wehren. Gegen die Unterdrücker, gegen die Willkür, gegen den Abtransport. Zu diesem Zweck gründen sie noch am selben Tag die "Jüdische Kampforganisation" (Zydowska Organizacja Bojowa, kurz ZOB). Das Problem: Sie ist praktisch unbewaffnet.

Deshalb schickt die ZOB Kuriere auf die andere Seite der Mauer, um Kontakte zum polnischen Untergrund herzustellen, Waffen zu besorgen. Vorerst indes kann die ZOB nicht viel mehr tun, als die Menschen im Ghetto vor den wahren Absichten der Deutschen zu warnen - Kundschafter werden bald die schlimmsten Befürchtungen bestätigen.

Allmählich verbreitet sich die Sorge, dass mit der "Umsiedlung" etwas nicht stimmt. Da bleiben darf, wer in den Fabriken arbeitet oder für den Judenrat und seine Organe, beginnt eine fieberhafte Jagd nach entsprechenden Bescheinigungen, die das belegen.

Doch je länger die Deportationen andauern, desto weniger scheren sich die Polizisten um diese Papiere - auch die jüdischen, die mitmachen, um sich zu retten. Die Häscher treiben die Menschen in den Höfen oder auf der Straße zusammen, dann entscheidet ein Blick:

Unverdächtige und Arbeitsfähige mit Papieren nach rechts - Kinder, Alte, Schwache, Renitente nach links. "Links" bedeutet: in die Kolonne zum "Umschlagplatz", wo Viehwaggons stehen.

Der Umschlagplatz ist ein ummauertes Geviert am Nordende des Ghettos, beim Danziger Bahnhof. Hier herrscht tödliche Willkür. Wachen schießen in die Menge, prügeln die Menschen in die Waggons, bis die überfüllt sind.

Zusammengetriebene warten hungrig und durstig, Hitze und Regen ausgesetzt, auf ihren Abtransport. Geschwister werden getrennt, Ehepaare, Eltern von Kindern.

Binnen sieben Wochen verschleppen die Deutschen fast 300 000 Menschen aus dem Warschauer Ghetto in die Vernichtungslager. Am 24. September erklären sie die Deportation für abgeschlossen.

Der größte Teil des südlich der Chlodna-Straße gelegenen Ghettos wird nun dem polnischen Warschau zugeschlagen, der nördliche in zwei Areale mit Werkstätten aufgeteilt, getrennt durch entvölkerte Straßenzüge. Abermals werden Grenzmauern gezogen.

35 000 "legal" registrierte Arbeiter bleiben in diesem verkleinerten Ghetto zurück, außerdem mindestens 25 000 "Illegale", die sich vor ihren Schergen verstecken konnten, in getarnten Kammern, auf Dachböden. Hoffnung über den Tag hinaus haben die wenigsten. Jederzeit können die Deutschen auch die letzten Bewohner verschleppen.

Im Herbst treffen sich die verbliebenen Mitglieder der ZOB, um sich neu zu formieren. Fast alle Waffen, die sie bislang einschmuggeln konnten, sind den Deutschen in die Hände gefallen. Zu ihrem Kommandanten wählen sie den 23-jährigen Mordechai Anielewicz.

Ihm gelingt es, zahlreiche zumeist linke, teils verfeindete politische Kräfte im ZOB für den Kampf gegen die Deutschen zu vereinen. Lediglich eine geheime Kampforganisation konservativer ehemaliger Offiziere und Soldaten der polnischen Armee agiert weiterhin unabhängig vom ZOB gegen die Besatzer.

Kaum jemand zweifelt daran, dass die Deutschen früher oder später auch das restliche Ghetto räumen werden. Das gemeinsame Ziel ist nun: im Kampf sterben, nicht im Lager - und vorher dem Feind möglichst hohe Verluste zufügen. Ein Problem aber bleibt: Es gibt praktisch keine Waffen im Ghetto.

Mit einer Arbeitsbrigade verlässt die junge Feigele Peltel an einem Morgen im Dezember 1942 das Ghetto. Für 500 Zloty hat der Brigadeführer sie zum Schein in seine Mannschaft aufgenommen. Feigele Peltel ist eine ZOB-Agentin. Sie soll Waffen beschaffen. Wenig später fährt sie mit den anderen auf einem Lastwagen durch Warschau. Als für einen Moment keine Passanten zu sehen sind, streift Peltel die Armbinde ab, die sie als Jüdin kennzeichnet, springt herunter und biegt in eine Nebenstraße.

In den folgenden Wochen wird aus Feigele Peltel die polnische Näherin Wladka Kowalska. Sie lernt jüdische Untergrund-Aktivisten kennen, die aus dem Ghetto Geflohenen helfen, bei christlichen Freunden oder Mitgliedern des polnischen Widerstands Zuflucht zu finden, die falsche Papiere besorgen, Arbeitsstellen vermitteln.

Aber sie macht auch die Erfahrung, dass ihr nur wenige außerhalb des Ghettos beistehen. Der deutsche Terror wirkt. Wer einem Juden hilft, wird hingerichtet - wer dagegen einen Untergetauchten verrät, erhält ein Kopfgeld.

Oft reicht ein unbedachtes Wort oder ein jiddischer Akzent, ein dunkler Teint, eine große Nase: Überall in Warschau gibt es Erpresser, die Verdächtige anhalten, Verstecke aufspüren. Kann das Opfer zahlen, ist es frei - vorläufig. Hat ein geflohener Jude nichts mehr zu geben, liefern die Banden ihn aus.

Stets von Denunziation und Verrat bedroht, kaufen Wladka und ihre Genossen von Schwarzhändlern, Kriminellen, polnischen Untergrundkämpfern und sogar Deutschen Pistolen, Granaten, Dynamit und schmuggeln sie ins Ghetto. Bessere Waffen könnte die Armia Krajowa liefern. Die konspirative "Heimatarmee" ist die größte Widerstandsgruppe und wird von den Alliierten unterstützt.

Doch manche der polnischen Offiziere sind Antisemiten oder haben ideologische Vorbehalte gegen die sozialistischen Kämpfer, andere fürchten die unkontrollierbaren Folgen eines spontanen Aufstandes für das ganze Land.

Unterdessen hat in Berlin Heinrich Himmler, der "Reichsführer SS", Chef der deutschen Polizei und zudem für die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik im eroberten Osteuropa zuständig, angeordnet, das Warschauer Ghetto komplett aufzulösen. Die ansässigen Betriebe sollen mitsamt Arbeitern nach Ostpolen verlagert, die "Illegalen" in Vernichtungslager gebracht werden.

Doch die Firmenbesitzer fürchten um ihre Profite - und Wehrmachtsstellen wollen auf deren Lieferungen nicht verzichten. Wohl auch deshalb setzt Ferdinand von Sammern-Frankenegg, der SS- und Polizeichef im Distrikt Warschau, die Anordnung bis Januar 1943 nicht um. Verärgert reist Himmler schließlich selbst nach Warschau. Dort befiehlt er, die "illegal" im Ghetto Lebenden "ab zufahren" - um sie in Treblinka zu ermorden.

Am frühen Morgen des 18. Januar 1943 dringen deutsche Uniformierte, unterstützt von ukrainischen und baltischen Hilfstruppen, in das abgeriegelte Areal ein. Die Attacke trifft die jüdischen Bewohner unerwartet - auch die Widerstandskämpfer der ZOB.

Dennoch schlagen ZOB-Aktivisten in kleinen Gruppen los, beschießen die Angreifer, verschanzen sich hinter Toren und auf Dachböden. Drei Tage lang wehren sie sich. Die Deutschen töten fast 1200 Juden, verschleppen etwa 5000. Doch die Besatzer sind irritiert, dass sie auf Widerstand stoßen. Am 21. Januar ziehen sie sich zurück.

Ihre Verluste sind gering, vermutlich ein Dutzend Tote. Sammern-Frankenegg versucht selbst das in seinem Bericht zu vertuschen: Er hält den Auftrag für erfüllt und will kein Aufsehen. Von nun an meiden die Deutschen das Ghetto nach Einbruch der Dunkelheit.

Unter den Eingeschlossenen aber wirkt der Aufruhr wie ein Fanal. Trotz der vielen Toten und der Deportationen: Die ZOB hat bewiesen, dass Juden sich wehren können. Die Kampforganisation gewinnt an Autorität. Die Armia Krajowa liefert nun rund 50 Revolver und 50 Handgranaten. Sie schickt zwei Sprengstoffexperten, die einigen ZOB-Aktivisten beibringen, mit einfachen Mitteln Brand- und Sprengsätze zu fertigen. Im Ghetto richten Widerständler geheime Bomben-Werkstätten ein.

Waffen, Sprengstoff und Chemikalien zu beschaffen und einzuschmuggeln kostet viel Geld. Noch immer gibt es im Ghetto stattliche Barvermögen - zurückgelegt, um im Notfall den Weg hinaus zu kaufen. Wenn die Widerständler die Besitzer solcher Vermögen ausgekundschaftet haben, bitten sie zunächst um einen bestimmten Betrag. Erhalten sie nichts, nehmen sie ein Kind als Geisel oder überfallen den Betreffenden.

Als bei einer dieser Aktionen das Opfer darauf setzt, dass ein Jude einem Juden nichts tun wird, verfällt ein ZOB-Mann auf einen Trick: "Kazik", sagt er zu dem mit einer Pistole herumfuchtelnden Szymon Ratajzer, "leg ihn um." "Kazik", das ist Jargon für "Pole".

Szymon ist blond, hat eine kleine Nase. Er sieht aus wie ein "Goj", ein Nichtjude - in dieser Zeit orientiert sich fast jeder am Klischee eines "semitischen" Äußeren. Da bekommt der Bedrohte Angst - und zahlt. So erwirbt Ratajzer seinen Kampfnamen: "Kazik".

Derweil bereiten sich auch die vielen Tausend "Zivilisten", die nicht zu den wenigen Hundert Kämpfern gehören, auf einen erneuten Angriff vor. Nacht für Nacht sind Schläge von Hämmern und Spitzhacken zu hören: Die Bewohner bauen Wohnungen und Keller zu Verstecken und Bunkern um.

Türen werden verstärkt und Eingänge getarnt, Latrinen angelegt, Vorräte und Matratzenlager in geschützt liegenden Räumen zusammengebracht. Unter den Häusern und auf Dachböden brechen die Menschen Durchgänge, um im Ernstfall von einem Haus ins andere wechseln und Verfolger abschütteln zu können.

Und schließlich gibt es weitere Ghettobewohner, die kämpfen wollen, der eher linken ZOB aber ideologisch fernstehen oder von ihr zurückgewiesen wurden. Viele von ihnen schließen sich der Geheimorganisation ehemaliger Soldaten an, die sich nun den Namen "Jüdischer Militärverband" (Zydowski Zwiazek Wojskowy) gegeben hat.

Dem ZZW ist gelungen, woran die ZOB weitgehend gescheitert ist: eine enge Zusammenarbeit mit dem nationalpolnischen Widerstand außerhalb des Ghettos aufzubauen.

Durch zwei geheime Tunnel liefert die Armia Krajowa bald Waffen und Munition in größerer Menge. Im Hauptquartier des ZZW agiert ein professionell organisierter Stab, ausgerüstet mit Radioempfänger und Schreibmaschine.

Beide Organisationen sprechen sich ab und legen fest, wer bei einem deutschen Angriff welchen Sektor verteidigen soll. Um nicht wieder überrumpelt zu werden, lagern die Kämpfer nun in festen Quartieren, inmitten ihrer Waffen. Wachen beobachten, was vor den Mauern des Ghettos geschieht.

Knapp drei Monate nach den ersten Unruhen soll der Bezirk geräumt werden, gleichgültig was aus den Arbeitern wird. Doch Himmler befürchtet, dass Sammern-Frankenegg, den er angesichts des Januar-Aufstands für unfähig hält, seinen Auftrag nicht zu erfüllen vermag. Deshalb schickt er Jürgen Stroop, SS-Brigadeführer und Generalmajor der Polizei, zur Unterstützung Sammerns nach Warschau.

Stroop, zuvor Polizeiführer in Lemberg, ist den SS-Oberen durch die brutale Behandlung von Zivilisten aufgefallen. Am 17. April trifft er in Warschau ein.

Wer in den Verstecken weint, riskiert sein Leben

In der Nacht auf den 19. April 1943 geben die jüdischen Wachen Alarm: Uniformierte nähern sich dem Ghetto und umstellen es. Kuriere der ZOB hasten los und fordern die Zivilisten auf, in die vorbereiteten Schutzräume zu gehen. Die Kampftrupps beziehen versteckte Posten an den beiden Hauptstraßen, die von Süden nach Norden durch das Wohnghetto führen.

Es ist der Tag, mit dessen Abend das Passafest beginnt, das an den Auszug der Israeliten aus Ägypten erinnert. Und nun auch der Tag, an dem sich die Juden im Warschauer Ghetto zu einem letzten großen Aufstand erheben werden.

Um kurz vor sechs Uhr morgens stehen außen entlang der Ghettomauern deutsche Ordnungspolizei und Hilfstruppen, alle 25 oder 30 Meter ein Posten. Von Dächern, Balkonen und Fenstern der gegenüberliegenden Häuser richten sich MG-Läufe auf das jüdische Viertel. Auf den beiden Haupteinfallstraßen ist Waffen-SS aufmarschiert.

Gegen sechs Uhr rücken die SS-Männer vor. Der Tritt zweier eng geschlossener Kolonnen hallt durch die Straßen. Aus einem Lautsprecherwagen schallen Aufforderungen an die Juden, sich freiwillig für den Abtransport aus dem Ghetto zu stellen. Nichts geschieht.

Dann fallen plötzlich in einer Straße Schüsse. Von Balkonen, aus Fenstern und Toren gehen zudem Handgranaten und Brandflaschen auf die dicht marschierenden Soldaten nieder. Panisch laufen die Männer auseinander, Verwundete und Tote bleiben auf der Straße liegen. Bald mischt sich der Lärm der Explosionen mit deutschem Gegenfeuer.

Gleichzeitig wird auch die SS-Kolonne in der zweiten Hauptstraße angegriffen. Die Verteidiger werfen Brandsätze, Schüsse knallen, die einzige Maschinenpistole der ZOB ist zu hören. Nach jedem Wurf ducken sich die Kämpfer hinter die Fenstersimse.

SS und Polizei erwidern das Feuer, doch ohne Erfolg. Ein Panzer geht in Flammen auf. Nicht einmal eine Stunde dauert das Gefecht, dann ziehen die Deutschen sich zurück. Die Räumung des Ghettos ist vorerst gescheitert.

Sämtliche deutsche Einheiten im besetzten Polen werden in Alarmbereitschaft versetzt. Stroop erhält das direkte Kommando über die "Ghetto-Aktion". Noch einmal setzen die Deutschen an diesem Tag neu an, doch es gelingt ihnen nicht, den Widerstand zu brechen. Gegen 20.30 Uhr ruft Stroop seine angeschlagenen Truppen zurück.

Am nächsten Tag marschiert eine SS-Einheit auf einen vom Hauptghetto getrennten Bezirk mit Bürstenmacher- Werkstätten zu. Da reißt eine gewaltige Detonation die Straße auf: eine Sprengfalle von Widerstandskämpfern.

Dutzende SS-Männer sterben, andere sind verletzt, die Übrigen rennen um ihr Leben. Die Verteidiger schleudern Brandflaschen, schießen auf Deutsche, deren Uniformen Feuer gefangen haben. Dann kehrt Stille ein.

Zwei Stunden dauert es, bis die SS erneut antritt - diesmal mit Granatwerfern und Kanonen; geduckte Stoßtrupps nähern sich mit Flammenwerfern. Bald fangen die jüdischen Stellungen in den Gebäuden Feuer. Erstickender Rauch breitet sich aus.

Gegen Abend wird klar, dass das Gelände nicht zu halten ist. Doch der einzige Weg hinaus führt direkt durch die Flammen. Über zersplittertes, glühendes Glas laufen die Kämpfer los. Brennende Balken krachen auf sie herab, das Feuer versengt ihre Kleider. Sie erreichen die einzige, streng bewachte Bresche in der Mauer zum Hauptghetto. Inzwischen ist es Nacht.

Ein gezielter Schuss schaltet den Suchscheinwerfer der Posten aus. Die Kampfgruppen brechen durch und verschwinden hinter der Absperrung.

21. April

Im Ghetto gibt es kein Gas mehr, keinen Strom, kein Wasser. Nur die Telefone haben die Deutschen abzuklemmen vergessen. Die wichtigste Nachricht aus dem umkämpften Bezirk sind jedoch die beiden Flaggen, die die Aufständischen gehisst haben. Die eine zeigt die blau-weißen Farben der zionistischen Bewegung, die andere das Weiß- Rot Polens.

Himmler tobt, als er in Berlin von der Beflaggung erfährt. Stroop stimmt ihm zu: Die Fahnen müssen weg - nur kommen seine Leute nicht an sie heran.

22. und 23. April

Jürgen Stroop setzt mehr und mehr auf Feuer. Der Feind mag schlecht ausgerüstet sein, doch zu fassen ist er nicht - zu verwirrend sind die Ausweichpfade und Verbindungswege, zu gut versteckt die Bunker.

Stroop lässt jedes Gebäude, in dem sich Widerstand zeigt, niederbrennen. Unter Verlusten gelingt es der SS schließlich, die verhassten Flaggen abzureißen. Die Widerstandskämpfer halten sich nun tagsüber versteckt, nachts patrouillieren sie, greifen den Feind an, erbeuten Waffen, suchen nach Lebensmitteln. Gruppen der ZOB lauern den Deutschen auf, die zum Feuerlegen in die Hausflure kommen. Anfangs mit Erfolg.

24. April

Eine große Uniformfabrik geht in Flammen auf. Diesmal sind es jüdische Kämpfer, die das Feuer legen. Nach und nach vernichten sie alle deutschen Werkstätten und Lagerhäuser.

25. April, Ostersonntag

Auf dem Krasinskich-Platz, unmittelbar außerhalb des Ghettos, dreht sich ein Karussell. Kinder reiten auf Holzpferden im Kreis, Händler preisen mit lauter Stimme Kunstblumen an. Aus dem ummauerten Areal dringen Schüsse und Explosionen. Menschen stürzen sich aus brennenden Häusern in den Tod. Manche Polen starren fassungslos auf das Inferno. Andere heben ihre Kinder hoch, damit sie besser sehen können.

30. April

Die Lage in den Bunkern im Ghetto wird immer dramatischer.

Schwitzend und hungernd liegen die Menschen nebeneinander und atmen flach die knappe, schlechte Luft. Die überlaufenden Aborte stinken. Es muss absolute Stille gewahrt werden. Hustende Kranke, weinende Kinder bedeuten Lebensgefahr. Manchmal werden sie von den panischen Insassen erstickt.

Mit Flammenwerfern und Artillerie, Gas und Sprenggranaten dringen die Deutschen nun Keller um Keller vor. Da entscheiden Anielewicz und die Gruppenkommandeure der ZOB: Wenn mit ihren unzulänglichen Waffen, der wenigen verbliebenen Munition kein wirkungsvoller Widerstand mehr möglich ist - warum dann nicht versuchen, sich auf die andere Seite zu retten und dort den Kampf gegen die Deutschen fortzusetzen?

Dazu jedoch muss jemand die Genossen draußen informieren, alles vorbereiten. Der polnisch aussehende Kazik und Zalman Frydrych, Kampfname "Zygmunt", sollen es versuchen. Am Abend schlüpfen Kazik und Zygmunt durch den ZZW-Tunnel.

1. Mai

Als die Sonne aufgeht, verlassen die beiden Kundschafter den Dachboden außerhalb des Ghettos, auf dem sie sich versteckt haben. Ihr Ziel ist die Wohnung zweier Polinnen, die untergetauchten Juden helfen.

Doch als sich die beiden auf offener Straße bewegen, schöpft eine Erpressergruppe Verdacht und macht sich an sie heran - sie rennen los, es gelingt ihnen, sich an einen Lastwagen zu klammern und zu entkommen.

2. Mai

In Berlin wächst die Ungeduld. Aus Krakau, dem Sitz des deutschen Generalgouverneurs, kommt Stroops Vorgesetzter Friedrich-Wilhelm Krüger zur Inspektion nach Warschau. Auch er ist beunruhigt. In den folgenden Tagen sprengen die Deutschen Bunker um Bunker, töten Widerständler, deportieren Tausende Zivilisten.

5. Mai

Seit einer knappen Woche sind Kazik und Zygmunt auf der anderen Seite. Sie haben jüdische und nichtjüdische Untergrundkämpfer alarmiert, einen Plan gefasst: Die überlebenden Kämpfer sollen durch die Kanalisation evakuiert und von Lastwagen in einen Wald nahe Warschau gebracht werden.

Doch kein polnischer Kanalarbeiter mag sein Leben riskieren und die Juden aus dem Ghetto hinausführen.

8. Mai

Hunderte Menschen drängen sich in einem Bunker an der Mila- Straße, darunter das Gros der verbliebenen ZOB-Kämpfer um Mordechai Anielewicz. Ein Überlebender wird später berichten, eine Mutter habe an diesem Tag nicht mehr ertragen, wie ihr Kind unter der Hitze litt, und es für einige Augenblicke an die Luft gelassen. Dort hätten die Deutschen es entdeckt, ihm ein Bonbon gegeben und gefragt: "Wo ist denn deine Mutter?" Das Kind habe sie zu Anielewicz' Bunker geführt.

Auf der anderen Seite der Ghettomauern treffen Kazik und die Genossen letzte Vorbereitungen. Endlich haben sich zwei Kanalarbeiter gefunden. Als Stützpunkt wird ausgerechnet das Hauptquartier einer Bande von Judenerpressern dienen. Kazik hat sich eine Lüge ausgedacht: Es handele sich um ein Geheimkommando der nationalen Untergrundarmee zur Rettung von Polen, die im Ghetto der Aufstand überrascht habe. Gegen 22.00 Uhr steigen Kazik, die beiden Kanalarbeiter und ein weiterer Kampfgefährte hinab.

Immer wieder muss Kazik in der gefährlichen Enge den Arbeitern Schnaps geben, die Pistole vorhalten - beide bereuen ihre Hilfsbereitschaft längst. Dann sind sie da. Der Gefährte passt auf die beiden Polen auf. Kazik klimmt die Eisensprossen in der Kanalwand empor, drückt vorsichtig den Deckel auf und schiebt sich hinaus.

Der Ausstieg ist so nah am Ghettoeingang, dass er erst im Licht eines deutschen Suchscheinwerfers vorsichtig wegrobben muss. Dann kann er aufstehen und läuft los.

Das Ghetto ist vollständig niedergebrannt

Die Bunker und Verstecke des Ghettos: zerschossen, menschenleer. Außer Toten und Sterben den trifft Kazik niemanden mehr an. Es ist, als sei er der letzte lebende Jude in diesem Ruinenfeld. Er denkt an Selbstmord.

Taumelt zurück zum Kanaleinstieg. Der Trupp macht sich auf den Rückweg. Es war alles vergebens. Da dringt aus einem Nebenkanal ein Geräusch. Kazik legt den Finger an den Abzug seines Revolvers. Zweimal ruft er die Parole: "Jan". Zehn Kämpfer treten aus der Dunkelheit hervor.

Der Rettungstrupp erfährt, dass er einen Tag zu spät gekommen ist. Nachdem die Deutschen den Kommandobunker von Anielewicz entdeckt hatten, leiteten sie Gas hinein. Einige der Kämpfer fielen an den Bunkereingängen. Die Übrigen begannen, sich selbst zu erschießen oder mit Zyankali zu vergiften, um der Gefangennahme zu entgehen.

Auch Anielewicz ist unter den Toten. Zugleich erfährt Kazik jedoch, dass es noch Überlebende gibt und die zehn deren Verstecke kennen. Er gibt seine Befehle und eilt voraus, um deren Rettung zu organisieren. Einige Stunden später folgen etwa 60 Männer und Frauen seinen Markierungen durch die Unterwelt.

10. Mai, fünf Uhr morgens. Kazik und seine Vertrauten stehen an der vereinbarten Öffnung des Abwasserkanals. Sie warten auf die Transportfahrzeuge. 100 Meter entfernt liegt eine ukrainischdeutsche Wachstation. Es wird neun Uhr. Nichts geschieht. Mit jeder Stunde wird der Passantenstrom dichter, steigt das Risiko.

Endlich, gegen zehn Uhr rollt ein Lastwagen heran. Kaziks Leute klappen den Kanaldeckel auf. Der Ausstieg der Überlebenden beginnt. Einer nach dem anderen kommen die Kämpfer ans Licht. Verdreckte, ausgehungerte, abgezehrte Gestalten, durchnässt und kaum in der Lage zu gehen. Ein Dutzend. Ein zweites.

Die Passanten stutzen, bleiben stehen und gaffen. Plötzlich nähert sich ein polnischer Polizist dem Lastwagen. Geistesgegenwärtig stellt sich Kazik dem Mann in den Weg. Er solle weitergehen, fordert er ihn höflich, aber bestimmt auf, es handele sich um eine Aktion der nationalen Untergrundbewegung. Der Polizist zieht sich zurück.

Mehr als 30 Minuten dauert die gefährliche Aktion. Dann ruft Kazik in den Schacht hinab - keine Antwort. Etwa 40 Gerettete liegen auf der Fläche des Lasters, als er losfährt. Eine Frau aus der Gruppe protestiert, es seien noch Kameraden unten, in einem Seitenkanal. Doch der Wagen ist überfüllt, jeden Moment können die Deutschen auftauchen. Kazik bleibt hart. Nach kurzer Fahrt erreicht der Transport den Wald von Lomianki. Sie sind entkommen.

Literaturempfehlungen

  • Barbara Engelking/ Jacek Leociak, „The Warsaw Ghetto. A Guide to the Perished City“, Yale University Press: Standardwerk. Israel Gutman, „Resistance: The Warsaw Ghetto Uprising“, Houghton- Miffl in: konzise Darstellung des Aufstandes.
  • Israel Gutman, „Resistance: The Warsaw Ghetto Uprising“, Houghton-Miffl in: konzise Darstellung des Aufstandes.

Jene 20 Kämpfer aus dem Seitenkanal, die es nicht rechtzeitig zu der Öffnung geschafft hatten, unternahmen später einen Ausbruch auf eigene Faust. Sie wurden allesamt erschossen.

Am 16. Mai ließ Kommandeur Jürgen Stroop zum Zeichen seines Sieges die Große Warschauer Synagoge sprengen.

Stroops Angaben zufolge deportierten seine Männer während des Aufstands 56 056 Juden oder ermordeten sie im Ghetto. Etwa 12 000 weitere starben bei den Kämpfen, verbrannten, erstickten, kamen in den Kanälen um oder begingen Selbstmord. Die Verluste seiner Truppen bezifferte Stroop beschönigend auf 16 Tote und 85 Verwundete.

Unbestimmt ist die Zahl aller Entkommenen. Manche wurden später von Besatzungstruppen aufgegriffen und ermordet. Einige kämpften in den folgenden Jahren an der Seite polnischer Partisanen gegen die Deutschen.

Nur wenige überlebten den Krieg. Zwei von ihnen sind Feigele Peltel alias Wladka Kowalska und Szymon Ratajzer, genannt "Kazik". Sie leben noch heute, die eine in New York, der andere in Jerusalem.

GEO EPOCHE Nr. 44 - 08/10 - Der Zweite Weltkrieg - Teil 2

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