An manchen Tagen, wenn es im Sommer heiß wird und der Vater Zeit findet, steigt er mit den Kindern ins Planschbecken. Vergnügt sich mit ihnen im Garten der Familie, den seine Frau in ein "Blumenparadies" verwandelt hat, wie er einmal notieren wird. An anderen Tagen geht es an die Sola, den nahen Fluss, auf eine Fahrt über die Felder in der Umgebung oder in die Ställe, zu den Pferden, die die Kinder so sehr mögen.
Abends liest er Gute-Nacht-Geschichten vor, "Hänsel und Gretel", "Max und Moritz": Rudolf Höß gibt sich alle Mühe, ein guter Vater und Ehemann zu sein. Meistens ist er aber damit beschäftigt, andere Familien auszulöschen.
Seine Wirkungsstätte liegt gleich hinter der Gartenmauer: die Hölle von Auschwitz. Höß hat sie erschaffen und kommandiert sie – als überzeugter Nationalsozialist, der nach Kriegsende gegenüber einem Psychologen äußern wird, er habe "wirklich nie viel Gedanken darauf verschwendet, ob es unrecht war. Es schien einfach nötig".
Das Abitur schafft Rudolf Höß nicht
Rudolf Höß wird 1901 in Baden-Baden in eine tiefkatholische Familie geboren. Der Sohn eines kaufmännischen Gehilfen soll Abitur machen, ist aber ein derart schlechter Schüler, dass er dieses Ziel nie erreicht. Auch die Hoffnung des Vaters, er möge einmal Priester werden, erfüllt sich nicht: Rudolf Höß will Soldat werden, und er ersetzt seinen katholischen Glauben bald gegen völkisch-nationale Überzeugungen.
1918 zieht er in Uniform in den Ersten Weltkrieg und schließt sich danach einem jener Freikorps an, in denen sich in den Anfangsjahren der Weimarer Republik ehemalige Frontkämpfer mit zumeist rechter Gesinnung sammeln. Die neue Ideologie der Nationalsozialisten verbreitet sich in diesen Kreisen rasant.
Höß, der sein Geld schließlich als Landarbeiter auf schlesischen und mecklenburgischen Höfen verdient, tritt der NSDAP 1922 bei. Im Frühjahr 1924 landet er wegen Totschlags im Gefängnis: Mit anderen ehemaligen Freikorpsmitgliedern hat er, angestiftet vom späteren Hitler-Sekretär Martin Bormann, einen Gesinnungsgenossen ermordet, der angeblich als kommunistischer Spitzel agiert hatte.
Gut vier Jahre später wird Höß vorzeitig aus dem Zuchthaus entlassen: Die Nationalsozialisten im Reichstag haben erfolgreich auf eine Amnestie für "Fememörder" wie Höß gedrängt.
Der inzwischen 23-Jährige wird nun Mitglied in dem völkisch-antisemitischen "Bund der Artamanen" – und er findet eine neue Liebe: 1929 heiratet er Hedwig Hensel, die bereits vor der Hochzeit schwanger ist und sechs Monate später das erste Kind zur Welt bringt.
In Dachau organisiert Höß erste Massenerschießungen
Als die Nationalsozialisten in Berlin an die Macht gelangen, schließt sich Höß der Schutzstaffel (SS) an. Der Reichsführer SS Heinrich Himmler, den er aus der Zeit im Artamanen-Bund kennt, verschafft ihm einen Posten im Konzentrationslager Dachau, wo das NS-Regime politische Gegner einsperren lässt. Rudolf Höß leitet die Häftlingsschreibstube des KZ, überwacht die Vollstreckung von Strafen und wird schließlich in den Kommandostab des Lagers erhoben.
Das Urteil seiner Vorgesetzten jener Zeit: Höß sei "sehr dienstfreudig", seine nationalsozialistische Weltanschauung "sehr gut u. fest", zudem trete er "bescheiden, aber doch energisch" auf und trinke "fast nie".
1938 wird der aufstrebende SS-Mann ins KZ Sachsenhausen bei Berlin versetzt, steigt dort vom Adjutanten zum Lagerführer auf. Unter Höß' Führung finden in Sachsenhausen erste Massenerschießungen statt, in einer von der Gestapo entwickelten Genickschussanlage sterben reihenweise Regimegegner und, nach Kriegsbeginn im September 1939, gefangene Rotarmisten.
Er sucht das perfekte Tötungsmittel – und findet Zyklon B
1940, Höß ist inzwischen 39 Jahre alt und Vater von vier Kindern, beordert Berlin ihn nach Oświęcim, einen Ort im Süden des besetzten Polens, den die Deutschen Auschwitz nennen. Hier, unweit von Krakau und an einem Eisenbahnknotenpunkt, soll er eine ehemalige Artilleriekaserne zum Durchgangslager für polnische Häftlinge erweitern: Die Gefängnisse in dem von Adolf Hitler überfallenen und annektierten Land sind längst überfüllt.
Mithilfe von Zwangsarbeitern macht sich der Lagerkommandant an sein Werk – das bald monströse Dimensionen annimmt. Im Sommer 1941 befiehlt Heinrich Himmler, Auschwitz zum zentralen Ort für die Vernichtung der europäischen Juden auszubauen.
Höß tut, wie ihm geheißen, plant die entsprechenden Anlagen, sucht und findet ein Mittel, mit dem sich viele Menschen auf einen Schlag töten lassen: Zyklon B, ein Blausäurepräparat, das auf dem Lagergelände zur Unkrautbekämpfung eingesetzt wird.
Angetan mit einer Gasmaske, überzeugt sich der Lagerkommandant persönlich von den Vorzügen des Präparats, das testweise in Arrestzellen geworfen wird (er selbst bleibt wohl vor der Tür stehen). "Nur ein kurzes, schon fast ersticktes Schreien, und schon war es vorüber", heißt es in Aufzeichnungen, die Höß nach seiner Verhaftung anfertigt. Und weiter: "Ich muss offen sagen, auf mich wirkte diese Vergasung beruhigend, da ja in absehbarer Zeit mit der Massen-Vernichtung der Juden begonnen werden musste."
Rund drei Kilometer von seinem Haus entfernt lässt Höß zwei Bauernhäuser zu Gaskammern umbauen: die Anfänge des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau, in dem mehr als eine Million Jüdinnen und Juden sowie Zehntausende Sinti und Roma, Polen und sowjetische Kriegsgefangene ihr Leben verlieren werden.
Einen kleinen Teil der Deportierten, jene, die zu Arbeit fähig scheinen, lässt der von Himmler zum SS-Obersturmbannführer beförderte Lagerkommandant durch den KZ-Arzt Josef Mengele und andere Schergen aussortieren: Sie schuften in den nahen Rüstungsfabriken und den Werkstätten und landwirtschaftlichen Betrieben, die samt 47 Nebenlagern im "Interessengebiet KL Auschwitz" entstehen, ein eigenständiger Amtsbezirk des Deutschen Reichs, der direkt der SS unterstellt ist und bis 1943 auf eine Fläche von rund 40 Quadratkilometern anschwillt.
Ständig muss Höß die Lagereinrichtungen in dem teils durch die Flüsse Sola und Weichsel begrenzten Sperrgebiet vergrößern, und er tut es mit perfektionistischer Hingabe. So ersinnt er ein Kennzeichnungssystem für Häftlinge, das es in keinem anderen KZ gibt: Statt den Deportierten Nummern an die Kleidung zu heften, lässt er sie Neuankömmlingen in den Arm tätowieren.
Und als er feststellen muss, dass SS-Männer vor ihren Wohnhäusern "wahl- und planlos" Gärten haben anlegen lassen, schafft er auch in dieser Hinsicht Ordnung – und führt ein Genehmigungsverfahren für die Anlage solcher Grünflächen ein.
Derweil machen es sich der Kommandant und seine Frau in ihrer direkt hinter dem elektrischen Zaun des Stammlagers gelegenen Villa schön. Die polnischen Vorbesitzer hat die SS, wie alle Bewohner des Interessengebiets, vertrieben. Die Eheleute lassen die Räume neu streichen, hängen Gemälde und Gobelins aus jüdischem Besitz und bunte Gardinen auf, geben Dinnerpartys.
Auf Rudolf Höß' Schreibtisch im Erdgeschoss stehen Fotos von der Familie, die sich von KZ-Insassen bedienen und umsorgen lässt: "Die Häftlinge taten alles, um meiner Frau, um den Kindern etwas Liebes zu tun, um ihnen eine Aufmerksamkeit zu erweisen."
Im November 1943, das fünfte Kind ist gerade geboren, die anderen gehen in der Stadt Auschwitz zur Schule, muss die Familie ihr Heim wieder verlassen. Höß wird nach Oranienburg versetzt, in das Inspektorat für Konzentrationslager des "SS Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes". Ein Jahr später zieht die Familie wiederum um, dieses Mal ans KZ Ravensbrück.
Der Massenmörder flieht nach Flensburg
Nur einmal kehrt Höß auf Anordnung Himmlers nach Auschwitz zurück, um den Massenmord an den ungarischen Juden im Mai 1944 zu organisieren. Ein gutes halbes Jahr später befiehlt der Reichsführer SS angesichts des Vormarsches der Roten Armee, die unter Höß' Kommando errichteten Gaskammern und Krematorien zu zerstören: Das NS-Regime macht sich daran, seine Blutspur zu tilgen.
Als der Krieg im Mai 1945 verloren ist, flieht Rudolf Höß wie etliche andere NS-Täter nach Flensburg und taucht als Hilfskraft auf einem Bauernhof im Umland der Stadt unter. Dort spürt ihn schließlich ein Fahnder auf: Knapp zehn Monate nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht fasst die britische Militärpolizei den einstigen Kommandanten von Auschwitz.
Rudolf Höß wird nach Nürnberg gebracht, wo er im Kriegsverbrecherprozess als Zeuge der Verteidigung des NS-Täters Erich Kaltenbrunner aussagt – und in dem Zuge detailliert schildert, wie die Massenvernichtung in Auschwitz ablief.
Er selbst wird nach Polen ausgeliefert. Ein Jahr sitzt Höß in Krakau in Haft, verfasst in den Monaten des Wartens auf seinen Prozess eine ausschweifende, an Lügen nicht arme Autobiografie voll nüchterner, teils auch zynisch-ironisch vorgebrachter Schilderungen seines Alltags in Auschwitz.
So erinnert sich Höß unter anderem, wie dort eine Frau beim Zumachen der Gaskammer "ihre Kinder herausschieben wollte und weinend rief 'Lasst doch wenigstens meine lieben Kinder am Leben'". Und notiert nur ein paar Seiten weiter, er bereue es schwer, sich nicht mehr Zeit für die eigene Familie genommen zu haben. "Denk nicht immer an den Dienst", habe seine Frau ihn oft ermahnt.
Am 2. April 1947 verurteilt ein polnisches Kriegsverbrechertribunal den Mann, der im absoluten Gehorsam gegenüber dem "Führer" dreieinhalb Jahre lang das massenhafte Morden in Auschwitz orchestrierte, zum Tod durch den Strang.
14 Tage später wird das Urteil vollstreckt: Rudolf Höß stirbt an einem Galgen, den die Richter unweit jenes Hauses aufstellen, in dem er als Kommandant mit Frau und Kindern gelebt hat, auf dem Gelände des einstigen Lagers Auschwitz – seiner "Zone of Interest".