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Erziehung Schwarze Pädagogik: Wie Johanna Haarer den Willen von Kindern brechen wollte

Johanna Haarer und die schwarze Pädagogik
Erst Ärztin, dann Bestseller-Autorin: Johanna Haarer (1900–1988) propagierte die schwarze Pädagogik. Das oberste Erziehungsziel, so schrieb sie, sei es, dass jeder "Deutsche zum nützlichen Gliede der Volksgemeinschaft werde"
© Ida Seele Archiv
Kein Elternratgeber verkaufte sich während der NS-Zeit so gut wie Johanna Haarers "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind". Zärtlichkeit und Nachgiebigkeit produziere "Haustyrannen", warnte die Autorin – und prägte mit schwarzer Pädagogik die Erziehung hunderttausender Kinder

Was tun, wenn das Baby schreit und auch der Schnuller keine Beruhigung bringt? "Dann, liebe Mutter, werde hart!", empfahl die Ärztin Johanna Haarer in ihrem Ratgeber "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind", erstmals erschienen 1934. 

"Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten. Das Kind begreift unglaublich rasch, dass es nur zu schreien braucht, um eine mitleidige Seele herbeizurufen." Ein Übermaß an Zärtlichkeit – "und der kleine, aber unerbittliche Haustyrann ist fertig!", warnte Haarer.

Disziplin, Strenge, emotionale Distanz: Fast 700.000 Exemplare wurden in der NS-Zeit von Haarers Buch gedruckt, kein anderer Elternratgeber verkaufte sich so gut wie "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind". Auch deshalb gilt die Autorin bis heute als Inbegriff von NS-Pädagogik. Nicht nur das: Ihr Buch wurde nach dem Krieg neu aufgelegt, verkaufte sich bis in die 1980er-Jahre hinein abermals hunderttausendfach. Wer war diese Frau, die nie als Pädagogin oder Kinderärztin gearbeitet hatte, und doch die Erziehung derart vieler Kinder mitgeprägt hat? Und worauf gründete sie ihre pädagogischen Grundsätze?

Johanna Haarer schreibt zunächst Kolumnen über Säuglingspflege

Haarer wird im Jahr 1900 im böhmischen Bodenwald geboren. Ihre Eltern betreiben ein Schreibwarengeschäft, doch statt – wie von den Eltern erwartet – den Familienbetrieb weiterzuführen, studiert die Haarer in Deutschland Medizin. In einer Zeit, in der die meisten Ärzte männlich sind, wird sie in München Lungenfachärztin.

Als Haarer 1932 ein zweites Mal heiratet und wenig später Mutter von Zwillingen wird, gibt sie ihren Beruf auf. Stattdessen schreibt sie Kolumnen für "Die deutsche Frau", eine Beilage des nationalsozialistischen "Völkischen Beobachters", und gibt Tipps zur Säuglingspflege. Ihre Texte stoßen auf ein so breites Interesse, dass der Verleger Julius Friedrich Lehmann, ein glühender Nationalsozialist, Haarer beauftragt, ein ganzes Buch zu schreiben.

1934 kommt "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" auf den Markt. Es klärt über Schwangerschaft und Entbindung auf, gibt Pflegehinweise für Säuglinge und Kleinkinder, von der Ernährung bis zur Kleidung. Die Erziehung schildert Haarer als eine Kraftprobe zwischen Mutter und Kind. Oberstes Ziel sei es, dass jeder "Deutsche zum nützlichen Gliede der Volksgemeinschaft werde", und lerne, "sich einzuordnen in eine Gemeinschaft und um ihretwillen eigene Wünsche und Bestrebungen zurückzustellen." Zudem müsse das Kind für die raue Realität abgehärtet werden.

Deshalb rät Haarer Eltern zu einer autoritären Erziehung. "Auch das widerstrebende und schreiende Kind muss tun, was die Mutter für nötig hält, und wird, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt, gewissermaßen ’kaltgestellt’, in einen Raum verbracht, wo es allein sein kann und so lange nicht beachtet wird, bis es sein Verhalten ändert." Durchsetzen sollten sich Eltern auch bei der Ernährung: Bei einem Kleinkind, das Gemüse verschmäht, bleibe "gar nichts übrig, als es einmal hungern zu lassen". 

Frau hebt Kind aus Kinderwagen
Auf Distanz: Zu viel körperliche Nähe zwischen Mutter und Kind galt lange Zeit als schädlich (hier eine Schulung des Reichsmütterdienstes in den 1930er-Jahren)
© United Archives / imago images

Haarer warnt davor, Kinder "unablässig mit Zärtlichkeiten" zu überschütten, ihren Wünschen nachzugeben, ja ihnen überhaupt zu viel Beachtung zu schenken. "Von vornherein mache es sich die ganze Familie zum Grundsatz, sich nie ohne Anlass mit dem Kinde abzugeben" – auch direkt nach der Geburt nicht: "Nach der Abnabelung wird das Kind erst einmal beiseitegelegt und für 24 Stunden in einem abgedunkelten Raum frei von Nahrung und fern der Mutter verwahrt."  

Haarers Buch wird ein kolossaler Erfolg – obwohl ihre pädagogischen Leitlinien keineswegs neu sind. Bereits lange vor dem Nationalsozialismus propagierten vor allem Ärzte eine autoritäre, bindungsarme Erziehung, später "schwarze Pädagogik" genannt. Adalbert Czerny etwa riet 1908, Babys außerhalb der Fütterungszeiten möglichst "in Ruhe" zu lassen. Wichtigstes Ziel der Erziehung sei es, "so wenig wie möglich Ansprüche wachzurufen". 

Der Höhepunkt der "schwarzen Pädagogik"

Als Voraussetzung für ein gesundes Leben galt ein geregelter Alltag. Deshalb führten Ratgeber exakte Still- und Essenszeiten ein, schrieben gar vor, zu welchen Uhrzeiten Kinder Stuhlgang haben müssen. 

In einer engen Bindung zwischen Mutter und Kind sahen viele Ratgeber dagegen eine "Affenliebe". "Müttern wurde das Gefühl vermittelt, ihre Nähe sei nicht gut für das Kind", sagt die Bloggerin Karin Bergstermann, die Erziehungsratgeber seit dem 19. Jahrhundert analysiert hat. "Bereits um 1900 waren viele Erzieher*innen, Ärzt*innen und Eltern bindungsgestört." Auch Johanna Haarer wurde von ihrer Mutter, die sie nie mit ihrem Vornamen ansprach, sondern schlicht "Kind" nannte, streng und emotional distanziert erzogen. 

Buchcover "Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind" / schwarze Pädagogik
1934 erschien die erste Auflage von Johanna Haarers "Die Deutsche Mutter und ihr erstes Kind". Bis 1987 wurden 1,2 Millionen Exemplare verkauft
© Internet Archive

In der NS-Zeit findet die "schwarze Pädagogik" schließlich ihren Höhepunkt. Dabei ist Haarers Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind" vor allem ein Marketingerfolg: Ihr Verlag vermarktet den Titel ausdrücklich als Werk von "Dr. Johanna Haarer". "Hier schreibt nicht, wie so häufig, eine unverheiratete Pflegerin oder gar ein Mann", erklärt der Herausgeber. "Die Verfasserin verfügt als Hausfrau, Mutter und Ärztin über all die persönlichen Erfahrungen, aus denen ein solches Buch eigentlich immer entstehen sollte."

Damals ein Novum: Haarer duzt ihre Leserinnen, beschwört im Vorwort die "Schicksalsverbundenheit" aller Mütter. Die Botschaft: Hier schreibt eine, die es wissen muss – und die sich mit ihren Leserinnen verbunden fühlt.

"Ärzt*innen und Autor*innen wie Johanna Haarer wollten genau wie die meisten Eltern sicherlich das Beste für die Kinder", sagt Bergstermann, "Doch die Vorstellung davon, was das Beste fürs Kind ist, hat sich seitdem zum Glück weiterentwickelt. Wir wissen heute zudem viel mehr über kindliche Entwicklung und Bedürfnisse."

Johanna Haarers Buch wird in der DDR verboten – und in der Bundesrepublik neu aufgelegt

So gut passt ihr Erziehungsideal vom "nützlichen Gliede der Volksgemeinschaft" zum Weltbild des NS-Regimes, dass das Buch in Mutterschulen als Lehrmaterial dient. Haarer selbst tritt in die NSDAP ein, engagiert sich in der "Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt" und im "Hilfswerk Mutter und Kind". 1939, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, beschreibt sie in ihrem Propaganda-Vorlesebuch "Mutter, erzähl mir von Adolf Hitler" kindgerecht den Aufstieg der Nationalsozialisten. 

Fünf Kinder bringt Haarer zur Welt. Sie selbst ist so streng zu ihren Kindern, wie sie es anderen Müttern rät. Ihre Tochter Gertrud Haarer beschreibt ihre Mutter später in einem Interview: "Mütterlich war sie nicht. Aber man konnte sich auf sie verlassen. Sie war groß, stattlich, hat Respekt eingeflößt." Auf dem Schoß der Mutter habe sie nie sitzen dürfen, in ihrer ganzen Kindheit sei sie von ihrer Mutter nur einmal in den Arm genommen worden.

Nach Kriegsende sind ihre Bücher in der DDR verboten. Anders in der Bundesrepublik: 1949 darf ihr Bestseller unter dem Namen "Die Mutter und ihr erstes Kind" – bereinigt von NS-Propaganda, aber weiter im Geiste autoritärer Erziehung – neu erscheinen. Die letzte Ausgabe kommt 1987 auf den Markt. Ein Jahr später stirbt Haarer in München.

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