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75 Jahre Demokratie Die Geburt des Grundgesetzes – erst Provisorium, dann Fundament der Freiheit

Versammlung von Männern, die als Parlamentarischer Rat über das Grundgesetz beraten
Ringen um das Grundgesetz: Am 1. September 1948 treffen sich die Ministerpräsidenten aus den drei Westzonen zur Verfassungsgebenden Versammlung. Ganz vorne sitzt der Präsident dieses Parlamentarischen Rats, Konrad Adenauer, der ein gutes Jahr später zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt wird
© akg-images
"Die Würde des Menschen ist unantastbar" lautet der erste und bekannteste Satz im deutschen Grundgesetz. Doch es waren viele Diskussionen nötig, bis sich die Parlementarier 1949 auf den Gesetzestext einigen konnten - der bis heute die demokratische Ordnung schützt 

Jedem Menschen wohnt ein achtunggebietender, unveränderlicher Wert inne. Vom Beginn bis zum Ende seines Lebens, egal wie alt oder jung er sein mag, wie reich oder arm, wie nützlich in den Augen von Staat oder Gesellschaft. Das ist die Idee der Menschenwürde.

Wohl kein politisches System hat sie je so missachtet wie die NS-Diktatur. Die Nationalsozialisten verüben millionenfachen Mord, erklären ganze Völker zu "Untermenschen", verdammen Behinderte und psychisch Kranke als "lebensunwertes Leben". Doch als auf den Trümmern des Regimes die Bundesrepublik Deutschland entstehen soll, werden die Urheber ihrer neuen Verfassung Lehren daraus ziehen, wie es zu der Tyrannei kommen konnte.

Das Grundgesetz galt als Provisorium

Den Auftrag zur Staatsgründung erteilen im Juli 1948 die USA, Großbritannien und Frankreich – jene drei Siegermächte, die seit Ende des Zweiten Weltkriegs den Westen Deutschlands besetzt halten. Sie wollen die elf "Länder", die sie dort inzwischen gebildet haben, zu einem Bundesstaat zusammen schließen. Die Landesparlamente wählen daher 65 Abgeordnete, die eine Verfassung ausarbeiten sollen. Sie erhält jedoch nur den Namen "Grundgesetz", denn das Dokument ist als Provisorium gedacht – bis zur Wiedervereinigung mit dem Osten Deutschlands, den die Sowjetunion kontrolliert (und wo 1949 die DDR entstehen wird). Fast alle der 65 auserkorenen Mitglieder des "Parlamentarischen Rats" waren während der NS-Diktatur Regimegegner, manche zeitweise sogar Häftlinge in Konzentrationslagern.

Die Abgeordneten, die in Bonn tagen, erheben den Schutz der Menschenwürde zum Grundsatz der Verfassung. Daraus abgeleitete Rechte – etwa Meinungs- und Glaubensfreiheit – sollen alle staatlichen Organe gewährleisten müssen. Um den ersten Satz ringen die Parlamentarier: "Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen", lautete er in einer Vorlage. "Was für ein Deutsch!", kritisiert der spätere Bundespräsident Theodor Heuss. Schließlich entscheiden sie sich für die Worte: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

Das Parlament wird durch das Grundgesetz gestärkt

Die neue Demokratie soll dazu befähigt sein, sich vor ihren Feinden zu schützen. Schließlich gelangte Adolf Hitler 1933 auf weitgehend legalem Weg an die Macht. Nichts hinderte seine faschistische NSDAP daran, stärkste Partei im Reichstag zu werden. Die 1919 erlassene demokratische Verfassung der Weimarer Republik stattete zudem das Staatsoberhaupt mit weitreichenden Vollmachten aus: Der Reichspräsident konnte das Parlament fast nach Belieben auflösen und mit Notverordnungen Grundrechte aussetzen.

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in einer der frühesten Ausgaben aus dem Jahr 1949. Der Zusatz "Besatzungsstatut" verweist darauf, dass die westlichen Siegermächte sich noch ein weitreichendes Mitspracherecht vorbehalten 
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in einer der frühesten Ausgaben aus dem Jahr 1949. Der Zusatz "Besatzungsstatut" verweist darauf, dass die westlichen Siegermächte sich noch ein weitreichendes Mitspracherecht vorbehalten 
© Ulrich Baumgarten / dpa

Das Grundgesetz beschneidet darum die Autorität des Präsidenten. Parlamentsauflösungen sind ihm nur noch in Ausnahmefällen möglich, und er kann den Regierungschef nicht mehr stürzen: Das vermag nur noch das Parlament, dessen Rolle die neue Verfassung stärkt. Allerdings muss es zugleich einen Nachfolger bestimmen – damit der Staat nicht ohne handlungsfähige Regierung dasteht. Wächter der neuen Ordnung soll ein Bundesverfassungsgericht sein: Es kann Gesetze für ungültig erklären und Parteien verbieten, falls sie im Widerspruch zum Grundgesetz stehen.

Zweimal weisen Ausschüsse des Rates den Satz "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" zurück, den Elisabeth Selbert – eines von nur vier weiblichen Mitgliedern – vorschlägt. Als die SPD-Abgeordnete die Bürgerinnen zum Protest auffordert, erreichen bald körbeweise Briefe den Bonner Tagungsort. Daraufhin erhält der Passus endlich die Zustimmung.

Erst mit der Zeit lernten die Menschen, das Grundgesetz zu schätzen  

Mitte Mai 1949 ratifiziert die nötige Mehrheit der Landesparlamente die vollendete, von den Besatzungsmächten genehmigte Verfassung. Als sie in Kraft tritt, ist die Bundesrepublik offiziell gegründet. Doch die westdeutsche Nachkriegsbevölkerung braucht Zeit, um sich für ihren neuen Staat zu erwärmen. Viele wünschen sich zunächst eine einzelne starke Partei zurück, die alles regelt. Erst mit dem in den 1950er Jahren einsetzenden "Wirtschaftswunder" beginnen die Bürger die Demokratie zu schätzen.

Das Grundgesetz bewährt sich als Basis einer stabilen, krisenfesten Ordnung. Und auch nach der Wiedervereinigung bleibt es in Kraft: Die DDR wird im Oktober 1990 in fünf Länder unterteilt, die schlicht seinem Geltungsbereich beitreten. Das einstige Provisorium wird ein dauerhaftes Fundament der Demokratie für ganz Deutschland.

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