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Fotografie Ein Bild und seine Geschichte: Ein Leben im Hamburger Menschenzoo

Kinder aus Samoa stehen vor einer traditionellen Hütte, beobachtet von einer Schülergruppe hinter einem Zaun
Entwürdigend: Ein Fotograf hält im frühen 20. Jahrhundert fest, wie junge Menschen aus Samoa sich in einer traditionellen Hütte den Besuchern eines Hamburger Tierparks präsentieren müssen – beobachtet von deutschen Schülern
© Scherl / SZ Süddeutsche Zeitung Photo
Um 1900 erfreuen sich im deutschen Kaiserreich "Völkerschauen" größter Beliebtheit. Sie stellen Menschen ferner Länder aus wie Tiere. Eine Aufnahme aus Hamburg offenbart das Drama der kolonialen Ungerechtigkeit in den Augen der Kleinsten

Hamburg, 1910. Zwei Kindergruppen im norddeutschen Schmuddelwetter. Fünf Meter trennen sie, ein Holzzaun, Welten. Eine Hamburger Schülergruppe ist an diesem Tag in den damaligen Zoologischen Garten in der Nähe des Dammtorbahnhofs gekommen, um sich Menschen anzuschauen. Dorthin, wo nicht nur Tiere aus aller Welt in abgesperrten Arealen präsentiert werden, sondern auch Bewohner ferner Kontinente, Kinder aus dem pazifischen Samoa vor einer Hütte aus Flechtwerk etwa. Solche "Völkerschauen", die an unterschiedlichen Orten im Land mit wechselnden Programmen stattfinden, sind ein gewaltiger Erfolg. Fremde Kulturen sollen sie den Deutschen um 1900 näher bringen. Was sie aber eigentlich sind: das rassistische und für die Betroffenen zutiefst entwürdigende Begleitprogramm zur Kolonialpolitik des Kaiserreichs. 

Seit den 1880er-Jahren mischt Deutschland mit im Rennen um die europäische Beherrschung des Globus, strebt der Kaiser nach Weltgeltung, indem er sich Gebiete in Übersee einverleibt. Das Land ist ein Spätzünder unter den Kolonialmächten, und viele Untertanen können den Sinn dieser Expansion nicht immer nachvollziehen. 

Ungefähr zur gleichen Zeit kommen die "Völkerschauen" auf. In Hamburg beispielsweise zählt die Familie Hagenbeck zu den Pionieren unter den Veranstaltern. Anfangs führt sie einen Fischhandel, spezialisiert sich dann auf das Geschäft mit exotischen Tieren, zeigt diese vor Publikum. Und beginnt schließlich, Menschen aus fremden Weltgegenden zu rekrutieren, um sie gegen Eintritt als lebende Exponate zur Schau zu stellen – unter Titeln wie "Nubier", "Menschenrassen am Nil", "Ceylon-Karawanen". Zunächst in Hamburg, bald auch, wie auf einer Tournee, in Berlin oder Wien.

Aufgabe der Kinder: ihre eigenen Zerrbilder darzustellen

Die Ausgestellten bewegen sich den ganzen Tag vor Kulissen, die ihrer Heimat nachempfunden sind, müssen rituelle Tänze oder Zeremonien vorführen, tragen traditionelle Kleider, permanent begafft von den Besuchern. Zwar geben sich die Schauen den Anstrich völkerkundlicher Authentizität, doch eigentlich geht es mehr darum, die Menschen als fremdartige Skurrilität vorzuführen, als unterhaltsame Klischees. Das schließt nicht aus, dass sich vereinzelt sogar indigene Anführer aus Übersee ganz bewusst für eine gewisse Zeit den Veranstaltungen anschließen, um etwa aus dem Kontakt mit deutschen Amtsträgern Prestige für ihr eigenes Ansehen in der Heimat zu schlagen.

Dennoch: Ganz bewusst inszenieren die deutschen Macher die Ausstellungen und Darbietungen in aller Regel so, dass sie gängigen Stereotypen entsprechen – oder sie befeuern: Zerrbilder von "wilden", "primitiven", "kuriosen" Nicht-Europäern. 

Die Schauen rechtfertigen Unterdrückung

Denn eines ist klar: Hier soll eine Hierarchie zementiert werden. Vor dem Zaun, bei den Betrachtern, die vermeintlich zivilisatorisch überlegene europäische Welt, hinter dem Zaun die unterentwickelte Welt der Fremden. Es ist die große, perfide Rechtfertigungserzählung des Kolonialismus: Die Europäer besäßen die Erlaubnis, ja sogar die Pflicht zur Weltherrschaft, weil sie so den Unterworfenen die Segnungen der Zivilisation zuteil werden ließen.  

Ob all das in den Blicken der beiden Kindergruppen auf dem Foto aus Hamburg zu erkennen ist? Wohl höchstens als feine Spur. Doch die aberwitzige Konstruktion der "Völkerschauen", das reale Erlebnis eines menschlichen Zoos, wird diese Kinder prägen. 1910 im norddeutschen Schmuddelwetter. 

Hinweis: In einer früheren Version des Textes haben wir fälschlicherweise geschrieben, die auf dem Foto abgebildete "Völkerschau" mit samoanischen Kindern habe im Zoo der Familie Hagenbeck stattgefunden. Auch wenn Hagenbeck zahlreiche solcher Veranstaltungen organisiert hat: Diese Aufnahme stammt aus einem anderen Hamburger Tiergarten. Wir haben die Stellen entsprechend geändert.

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