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Zukunft Nachhaltigkeit in der Krise: Warum brauchen wir eine "spirituelle Revolution", Herr Reheis?

Welche Wirtschaft verträgt sich mit der Zukunft? Ein Weiter-So scheint in eine Sackgasse zu führen
Welche Wirtschaft verträgt sich mit der Zukunft? Ein Weiter-So scheint in eine Sackgasse zu führen
© Jiojio / Getty Images
In der Multikrise scheint Wirtschaftswachstum wichtiger zu sein als Nachhaltigkeit. Ein Gespräch mit einem ihrer Vordenker, dem Soziologen und Erziehungswissenschaftler Fritz Reheis, über Brandschutz, Sachzwänge, Schule und den Wert des Scheiterns

GEO: Herr Reheis, Deutschland hat die Ressourcen, die die Erde jedes Jahr bereitstellt, schon am 2. Mai aufgebraucht, und jedes Jahr rückt der "Overshoot Day" etwas weiter nach vorn. Dabei gibt es die Idee der Nachhaltigkeit schon seit über 300 Jahren. Was läuft schief?

Fritz Reheis: Wir haben ein sehr ambivalentes Verhältnis zum Thema Nachhaltigkeit. Der Begriff ist zwar im Lauf der vergangenen 10, 15 Jahre in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Allerdings sagen viele: "Eigentlich sollten wir …", um dann das große "Aber" hinterherzuschieben. Dann heißt es oft: "Was soll ich denn machen, ich kann mich sehr oft einfach nicht so verhalten, wie ich es eigentlich müsste." Dass viele Menschen diesen Widerspruch empfinden, das ist gewissermaßen das Positive. Das Negative ist, dass der Begriff zu einer Worthülse geworden ist, zu einem Marketing-Werkzeug, das mittlerweile für nahezu jedes Produkt verwendet wird.

Sie spielen auf den "ethischen" oder "nachhaltigen" Konsum an, der in der Praxis unserer Wirtschaft immer noch eine viel zu geringe Bedeutung hat ...

Ja, aber es muss differenziert werden: Wenn von der Wirtschaft die Rede ist, wird meist die Konsumentenperspektive beleuchtet. Aber es gibt eben auch noch die Perspektive der Investoren und derjenigen, die die Produktionsbedingungen gestalten. Die Vorstellung, der Konsument sitze am Manual der Wirtschaftsorgel und ziehe nach Belieben die Register, ist irreführend. Als bemühten sich Investoren und die Produzenten lediglich darum, den Wünschen der Konsumenten nachzukommen. Als hätten wir bereits das demokratischte Wirtschaftssystem, das man sich vorstellen kann. Mit der Fixierung auf die Rolle der Konsumenten bedient man genau diese Ideologie. Ich plädiere stattdessen dafür, "Nachhaltigkeit" in einem zeitökologischen Sinn zu verwenden ...

Das müssen Sie erklären.

Mir geht es darum, die implizite Dimension der Zeit, die in dem Wort "nachhaltig" angesprochen ist, explizit zu machen. In der Forstwirtschaft, aus der der Begriff stammt, ging es ja darum, dem Wald nicht mehr Holz zu entnehmen, als innerhalb einer bestimmten Zeit, also etwa innerhalb eines Jahres, nachwachsen kann. Wenn man diese Zeitdimension konsequent ernst nimmt, dann könnte der Begriff der Nachhaltigkeit absolut fruchtbar sein für die Transformationsdiskurse, die in Politik und Wissenschaft derzeit überall geführt werden.

Fritz Reheis gilt als einer der geistigen Väter des Konzepts der Entschleunigung. Der promovierte Soziologe und habilitierte Erziehungswissenschaftler ist Autor viel beachteter Bücher wie "Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus", "Die Kreativität der Langsamkeit" und "Erhalten und Erneuern"
Fritz Reheis gilt als einer der geistigen Väter des Konzepts der Entschleunigung. Der promovierte Soziologe und habilitierte Erziehungswissenschaftler ist Autor viel beachteter Bücher wie "Entschleunigung: Abschied vom Turbokapitalismus", "Die Kreativität der Langsamkeit" und "Erhalten und Erneuern"
© Weissbach

In diesen Diskursen plädieren Sie dafür, das Leitbild der Nachhaltigkeit durch Begriffe wie "Entschleunigung", "Resonanz", "Suffizienz" und andere Begriffe, die auf die Zeitdimension des Lebens verweisen, zu konkretisieren. Doch nach den Jahren der Pandemie und des Krieges in der Ukraine scheinen sich viele Menschen vor allem danach zu sehnen, dass alles so wird, wie es einmal war ...

Ja, das nehme ich auch in meinem Umfeld so wahr. Da höre ich schon mal Sätze wie: "Wir haben doch jetzt ganz andere Probleme." Ich vergleiche das gerne mit der Feuerwehr: Wenn das Haus brennt, kümmert sich niemand um den Brandschutz, der nötig ist, um die Gefahr, dass Brände entstehen, möglichst gering zu halten. In der Notlage schaut man weder räumlich noch zeitlich sehr weit, sondern man konzentriert sich auf das Hier und Jetzt. Und in einer solchen Situation blendet man – manchmal sogar aggressiv – alles aus, was diesen engen Blick gefährden könnte. Dann rechtfertigt man ein Verhalten, von dem man weiß, dass es falsch ist, indem man auf die momentane Dringlichkeit der Situation verweist und darauf, dass jetzt der falsche Zeitpunkt sei, Grundsatzfragen zu stellen.

Wenn man aber analytisch herangeht, und das müssen wir, dann besteht ein guter Umgang mit der Institution Feuerwehr darin, dass Brände schnell gelöscht werden, dass aber gleichzeitig, mit derselben Intensität und demselben Einsatz von Ressourcen, präventiver Brandschutz betrieben wird. Wenn diese Gleichzeitigkeit, diese Balance, nicht gelingt, kann es passieren, dass schneller neue Brände entstehen als alte gelöscht werden. Leider neigt die Politik dazu, und die Bürger in demokratischen Staaten unterstützen sie dabei, sich zu sehr auf das Löschen zu konzentrieren, die lange Sicht der Prävention zu gering zu gewichten – und dabei die Kontrolle zu verlieren.

Viele Menschen sorgen sich vor einem sozialen Abstieg. Ist es nicht verständlich, dass sie sich in der Krise an das Bekannte, an Wachstum und materiellen Wohlstand klammern?

Ja, das ist naheliegend. Aber es bringt uns nicht weiter. Unsere Aufgabe als Journalisten, als Wissenschaftler oder Lehrer ist, möglichst transparent werden zu lassen, wohin das Wachstumsdogma und die einseitige Mehrung des materiellen Wohlstands führen – und kritische Impulse zu setzen. 

Welche Rolle spielen Schule und Bildungspolitik? In Bayern sollen in den Grundschulen Kunst und Musik zugunsten der Pisa-Fächer Mathe und Deutsch zurückgefahren werden ...

Ja, das zeigt, wie aus falschen Diagnosen falsche Schlüsse gezogen werden. Ich halte an der Uni Bamberg seit Jahrzehnten Seminare zum Thema Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE). Es ist ein Skandal, dass in den Schulen von dieser zentralen pädagogischen Aufgabe so wenig ankommt. Ein Problem ist, dass Schulen Lernprozesse überwiegend als Fachunterricht organisieren. Fächerübergreifende Themen, und dazu gehört ja auch die Nachhaltigkeit, kommen systematisch zu kurz – schon in der Lehre und erst recht bei den Lernenden. Das ist ein Grund, warum die BNE in so einem schlechten Zustand ist. Mehr noch: Unser Schulsystem bringt Schüler hervor, die sich bereitwillig zum Homo oeconomicus sozialisieren lassen, indem sie in den einzelnen Fächern mit möglichst geringem Zeiteinsatz möglichst gute Noten zu bekommen versuchen. Mit einem solchen Lernverhalten wird es schwierig, die Welt als Ganzes zu erfassen, ebenso wie die eigene Verantwortung für den Zustand der Welt zu erkennen und  Freude zu entwickeln, in sie einzugreifen und eingreifen zu können.

Was müsste sich denn ändern?

Ich war lange Zeit Gymnasiallehrer und habe versucht, möglichst viel in Projekten zu arbeiten. Projekte ermöglichen Schülern, möglichst stark am Lernprozess teilzuhaben. Als ich als Lehrer anfing, war gerade das Thema Waldsterben relevant. Wir haben ein jahrgangs- und fächerübergreifendes Projekt zum Thema gemacht. Wir haben Förster einbezogen und die Fächer, Biologie, Geschichte, Wirtschaft, Geografie und Sozialkunde zusammengelegt. Entscheidend war: Die Schüler haben das Thema selbst gewählt, es war ihr Thema, und alle haben nach ihren Interessen und Neigungen Akzente gesetzt. Eine Bildungspolitik, die den Fächerunterricht reduziert und die Lehrpläne verschlankt, würde Räume schaffen für ein solches fächerübergreifendes und selbstbestimmtes Lernen. Damit wäre für das Ziel der nachhaltigen Entwicklung einiges erreicht. Leider spielen solche Projekte im regulären Schulalltag eine völlig untergeordnete Rolle.

Andererseits ist es nachvollziehbar, dass Eltern wollen, dass ihre Kinder einmal auf mindestens demselben Wohlstandsniveau leben wie sie selbst. Und das scheint am ehesten mit einem gut bezahlten Job, mit Mathematik und Informatik zu gehen. Was sagen Sie denen?

Man müsste in ein intensives Gespräch mit ihnen treten – darüber, was eigentlich Wohlstand, was Fortschritt ist. Warum verengte Begriffe davon problematisch sind, warum es problematisch ist, wenn wir eine ganze Generation in dieser Verengung aufwachsen lassen. Dass diese Strategie, angesichts des Tempos, mit dem sich Dinge heute entwickeln, hochgradig riskant ist. Noch einmal zurück zum Feuerwehr-Beispiel: Nur Brände löschen und individuelle Karrieren optimieren, das bringt uns nicht wirklich weiter. Es schafft vielleicht gute Wachstumsraten und gute Pisa-Ergebnisse, blendet aber die daraus resultierenden aktuellen Krisen und existenziellen Bedrohungen aus, die für die Zukunft prognostiziert sind.

Eine Zukunft, die ja auch die Rechte zukünftiger Generationen miteinschließt, wie das Bundesverfassungsgericht 2021 festgestellt hat.

Das Urteil ist historisch, weil das Gericht feststellt, dass man die Freiheitsräume, die Menschen haben, auch in diachroner, zeitlicher Folge sehen muss und nicht nur zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt.

Bislang hat das Urteil allerdings nur dazu geführt, dass die Bundesregierung bei den Plänen zur Emissionsreduktion nachschärfen musste.

Was jetzt notwendig wäre, wäre etwas, was linke SPDler in den 70er-Jahren eine Doppelstrategie nannten. Gemeint war damit eine Politik, die die Bedürfnisse der Menschen im Hier und Heute ernst nimmt, zugleich aber auch, und zwar mit jedem Schritt, bedenkt, dass es darum geht, Strukturen zu überwinden, die zu diesen Problemen geführt, sich also nicht bewährt haben. 

Steht der Transformation der Gesellschaft, hin zu einem Wirtschaften innerhalb von planetaren Grenzen, ein erstarkender rückwärtsgewandter Konservatismus entgegen?

Eine konservative Grundeinstellung finde ich gar nicht abwegig. Die Bürger sollten sich – wohlgemerkt, in einer Demokratie – fragen, was sie eigentlich erhalten möchten, was sich bewährt hat. Was für ihr Leben unverzichtbar ist. Das zu bewahren und zu schützen, ist im Wortsinn konservativ. Gleichzeitig gilt es aber auch, herauszufinden, welche Kräfte sich als zerstörerisch herausgestellt haben, und sie zu überwinden. Das wäre meine Formel für die Verbindung von Konservatismus und Progressivität. Die Politik müsste sich, so wie es selbstbestimmte Individuen tun, diesen beiden Aufgaben, dem Erhalten und dem Erneuern, stellen und dafür belohnt werden, wenn sie es ernsthaft und glaubwürdig tut.

Das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung hat errechnet, dass wir bis 2050 mit Einkommensverlusten von 19 Prozent durch die Klimakrise rechnen müssen. Bekommen wir Klimaschutz und nachhaltiges Wirtschaften doch eher by disaster als by design?

Das weiß ich nicht. Ich hoffe, dass beide zusammenwirken, sich vielleicht sogar synergetisch ergänzen. Und dass das Desaster nicht so groß ist, dass es irreversible Zerstörungen anrichtet. Um die Gefahr eines nicht mehr kontrollierbaren Desasters einzudämmen, wäre es auch hier wieder wichtig, dass wir uns klar machen, was wir erhalten wollen – zum Beispiel die Demokratie, den Rechts- und den Sozialstaat –, und gleichzeitig eine Zukunftsperspektive zu entwickeln, die die neuen Herausforderungen mit den schon erprobten und bewährten Mitteln zu bewältigen versucht. Wir müssen uns immer wieder die Zeitlichkeit der Gegenwart bewusst machen: Die Gegenwart ist etwas Gewordenes, und sie ist etwas, das weiter werden soll. In dieser Temporalität stecken wir drin. Wir müssen die Zeit zum Fließen bringen. 

Wie meinen Sie das?

Wir sind oft konfrontiert mit einer geronnenen Zeit. Der so genannte Sachzwang ist für mich der Begriff, der das am deutlichsten macht. Wir können angesichts von Sachzwängen aus unserer Haut nicht heraus. Wenn wir alternative Wege einschlagen, drohen sofort riesige Konsequenzen, die niemand wollen kann. Diese Sachzwanghaftigkeit kann man mental und dann auch praktisch auflösen, indem man sich bewusst macht, dass Sachzwänge letztlich menschengemacht sind, dass sie über lange Zeiträume und durch kollektives Handeln entstanden und genau deshalb veränderbar sind.

Sie schreiben in Ihrem Buch "Erhalten und Erneuern", Nachhaltigkeit sei ohne eine "spirituelle Revolution" nicht möglich. Können Sie das erklären?

Wir nutzen technischen Fortschritt heute vor allem dafür, neue Produkte, neue Produktionsverfahren zu ersinnen, unsere "Weltreichweite" zu erhöhen, wie der Soziologe Hartmut Rosa sagt. Das Tempo des technischen Fortschritts nimmt ständig zu. Wir greifen immer schneller und immer weiter in die Welt ein. Deshalb kommt es immer mehr darauf an, dieses Eingreifen auch begreifen zu können, wenn wir die Kontrolle nicht verlieren wollen.

"Begreifen" im Sinne von "verstehen und die Konsequenzen absehen"?

Genau. Verstehen und fühlen. Begreifen ist hier keine rein kognitive Aktivität, sondern es geht auch um das leibliche Begreifen. Voraussetzung dafür ist, dass wir ein ganz bestimmtes Verhältnis zum eigenen Körper ebenso wie zur Natur entwickeln. "Achtsamkeit" ist so ein Begriff, der in diesem Zusammenhang oft verwendet wird. Wir sollten unser Wirtschaften und unser Leben so umgestalten, dass Raum und Zeit für das Begreifen in diesem ganzheitlichen Sinn bleibt – und unsere Zeit, unsere Energien und Potenziale nicht auf die ständige Schaffung künstlicher Bedürfnisse, das zwanghafte Ersinnen neuer Produkte und das ziellose Ausgreifen in die Welt fokussieren. Mehrere Flugreisen im Jahr – das muss und kann kein Fortschrittsmodell sein. Wir sollten den technischen Fortschritt vermehrt in Zeit ausbezahlt bekommen, die wir für die menschliche Entwicklung, seine geistige "Veredelung", wie es im 18. Jahrhundert genannt wurde, verwenden. Das meine ich, wenn ich von spiritueller Revolution spreche. 

Woher soll denn der Anstoß für diese Revolution kommen?

Aus eigenen Erfahrungen. Zum einen aus Erfahrungen des Scheiterns. Dass bisherige Bemühungen um ein gutes Leben aus verschiedenen Gründen nicht erfolgreich waren, und der Einsicht, dass auch unsere Kinder und Enkel damit nicht erfolgreich sein werden. Und auf der anderen Seite Erfahrungen der Alternative. Es geht darum, Freiräume zu schaffen, in denen Menschen etwas Neues ausprobieren können. Von dem Zukunftsforscher Robert Jungk gibt es die Idee der Zukunftswerkstätten. Wenn wir im großen Stil nicht nur Geschichtswerkstätten, sondern auch Zukunftswerkstätten hätten, die Menschen Gelegenheit geben, sich an ihrem Arbeitsplatz, an ihrem Wohnort, in den Gruppen, in denen sie tätig sind, spielerisch mit Alternativen vertraut zu machen, dann wäre das eine starke Motivation, ein positiver Anstoß für eine andere, bessere Art des Umgangs mit Zeit, mit Ressourcen und Energie.

Wir könnten uns fragen, welches die Momente in unserem Leben oder in unserem Alltag sind, in denen wir uns wirklich lebendig fühlen. Beim Sport, in der Natur, beim Musikmachen oder in einem guten Gespräch kann mehr Energie entstehen, als wir einsetzen. Das ist für mich die andere Seite der energetischen Wende, an der wir gerade arbeiten. Es geht darum, auch in unserem Inneren die nicht-erneuerbaren Energiequellen durch Erneuerbare zu ersetzen.

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