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von GEO EPOCHE

1980er Jahre Friedensbewegung in Ost und West: Die große Angst vor dem Atomkrieg

Zwei Bürgerrechtler halten einTransparent mit Slogan "Schwerter zu Pflugscharen", 1983
Schwerter zu Pflugscharen: Der DDR-Bürgerrechtler Roland Jahn (r.) wurde 1983 in den Westen abgeschoben, kämpfte aber auch dort weiter. Hier präsentierte er das Ost-Antikriegslogo bei ein Demonstration in Mutlangen
© Ann-Christine Jansson / SZ Photo / laif
Zu Beginn der 1980er Jahre standen die Zeichen im Kalten Krieg auf Eskalation und Aufrüstung. In leidenschaftlichen Bürgerbewegungen begehrten Besorgte in Ost und West dagegen auf. Doch das Risiko für die Aktivisten in der DDR war ungleich größer – denn der Staat schlug erbarmungslos zurück
Von Fabian Klabunde

Am 18. März 1983 demonstriert Jena für den Frieden. Tausende sind zur staatlichen Kundgebung ins Zentrum der Stadt im Südwesten der DDR gekommen. Sie ziehen zum Marktplatz, gelegen neben dem weitläufigen Platz der Kosmonauten mit dem zylinderförmigen Uni-Hochhaus, einem sozialistischen Prestigebau. Zu Ehren des berühmten Optikers Carl Zeiss soll er einem Fernrohr ähneln. 

Die Losung der Friedensversammlung klingt erstaunlich aggressiv. Es geht, wie es heißt, um den "Jahrestag der Bombardierung Jenas durch angloamerikanische Terrorbomber". 38 Jahre zuvor haben alliierte Flieger etwa ein Sechstel der Stadt zerstört. Und die SED, die die Jenaer heute hierher bestellt hat, will die Erinnerung an die Luftangriffe von 1945 hochhalten, um Stimmung gegen den Klassenfeind im Westen zu machen. Sie spielt dabei bewusst auch auf die aktuelle Lage an: Bei den Menschen geht Angst um vor den neuartigen Atomwaffen der Amerikaner.

Am Marktplatz stößt eine Gruppe zur Demonstration dazu, rund 30 junge Frauen und Männer, die erkennbar anders aussehen. Handgestrickte Mützen, Parkas, Vollbärte. Einige haben ihre Kinder dabei. Sie ähneln den "Alternativen", die man zu jener Zeit auch in Hamburg, München oder Köln kennt, Menschen abseits des Mainstreams. Selbst gemalte Schilder halten sie in die Höhe: "Schwerter zu Pflugscharen" oder "Frieden schaffen ohne Waffen" steht darauf. 

Jena war die Hauptstadt der Friedensbewegung

Einer von ihnen ist der 29-jährige Roland Jahn, der sich schon lange an der engen Ordnung und der Unfreiheit in der DDR stört, der dagegen wieder und wieder protestiert. Sein Studium wurde ihm untersagt, er hat in Stasi-Haft gesessen. Vor Kurzem hat er mit Gleichgesinnten die "Friedensgemeinschaft Jena" gegründet, die sich heute erstmals mit einer Aktion in die Öffentlichkeit wagt. 

Die Mitglieder vertreten ein streng pazifistisches Konzept. Es richtet sich nicht zuletzt gegen den eigenen Staat, der zwar Frieden propagiert, aber sich selbst überaus waffenstarrend präsentiert. "Militarismus raus aus unserem Leben", ist auf einem ihrer Transparente zu lesen, mit denen sie sich der Kundgebung nähern.

Dann plötzlich bricht ein Tumult los. Stasileute in Zivil stürmen auf die kleine Gruppe zu, beschimpfen die jungen Leute als "Asoziale". Sie greifen nach den Schildern, zerreißen sie. Ein Kind wird zu Boden geworfen. Es gibt Schläge. "Bringt die Kinder in Sicherheit", ruft einer der Aktivisten, und die Gruppe zieht sich zurück, in Richtung Friedenskirche am Rande der Innenstadt.

Soldaten und Panzer in Berlin-Ost 1979
Widerspruch: Die DDR-Führung nannte ihr Land einen "Friedensstaat", doch der Militarismus war im sozialistischen Deutschland allgegenwärtig – wie hier bei einer Parade zum 30. Geburtstag der DDR in Berlin 1979
© Sven Simon / imago images

Im Gotteshaus sammeln sich die Geflüchteten, beraten. Sie haben damit gerechnet, auf Widerstand zu treffen, und Fotos gemacht. Versteckt in Strümpfen und in einem Kinderwagen, unter dem Rücken eines Babys, sind die belichteten Filme sofort in Sicherheit gebracht worden. Nun wollen sie die Bilder über Mittelsmänner den Medien im Westen zuspielen.

Die Geschehnisse von Jena sind eine der spektakulärsten Aktionen der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR. Zahlenmäßig ist sie jener in der BRD weit unterlegen, dort gehen zur selben Zeit Hunderttausende auf die Straße. Doch an Mut und Entschlossenheit ragen die Aktivisten im Osten vielfach heraus. Beide Gruppen reagieren gleichermaßen angstvoll auf eine Welt, die der atomaren Kriegskatastrophe entgegenzustreben scheint. Beide aber müssen zugleich auch mit völlig unterschiedlichen Verhältnissen ringen, mit einem unterschiedlichen Risiko. 

Das Regime der DDR jedenfalls antwortet bald auf den Eklat von Jena in aller Härte: mit der "Aktion Gegenschlag".

Der Kalte Krieg, jene Konfrontation der Machtblöcke von West und Ost, die die internationale Politik nach dem Zweiten Weltkrieg prägt, erlebt in den 1970er Jahren zwar eine Ära der Entspannung; es gibt intensive Gespräche zwischen Moskau und Washington, mehrere Vereinbarungen zur Rüstungsbegrenzung. Gegen Ende des Jahrzehnts aber verändert sich das Klima. 

zwei Jugendliche auf einem Spielzeugpanzer,  DDR 1979
Waffenübung: Schon Kinder, hier Jungpioniere mit Miniaturpanzern, wurden in der DDR mit dem Militär vertraut gemacht. Die Nationale Volksarmee (NVA) war der Stolz des Regimes
© Harald Schmitt / Picture Press / ddp

In dieser Zeit stationiert die Sowjetunion auf dem Gebiet des Warschauer Paktes einen neuen Typ von Atomraketen. Die Waffen, vom Westen "SS-20" genannt, können Ziele in rund 5000 Kilometer Entfernung erreichen und sind besonders präzise und schlagkräftig. Damit verschieben sie ein etabliertes Kräftegleichgewicht: Bislang hatten die Atomwaffenarsenale von Warschauer Pakt und Nato garantiert, dass sich beide Supermächte – USA und UdSSR – gegenseitig vernichten würden, egal wer zuerst den Atomschlag befiehlt. In der Logik der Abschreckung, so das Kalkül der Sicherheitsexperten jener Zeit, führte das zu einem relativ stabilen Patt, in dem keiner den Krieg auslösen würde.

Die neuen Mittelstreckenraketen des Ostblocks machen nun jedoch ein Szenario wahrscheinlicher, in dem Moskau allein Europa attackiert und sowohl die USA als auch die UdSSR selbst das nukleare Gefecht überstehen. Damit steigt die Gefahr eines Atomkrieges – und die Angst davor.

1979 stehen bereits mehr als 100 abschussbereite SS-20 in Osteuropa. Im Dezember des Jahres reagiert die Nato auf das wachsende Ungleichgewicht und beschließt, ab 1983 ihrerseits atomare Mittelstreckenwaffen in Europa zu installieren: sogenannte Pershing-II-Raketen sowie Cruise Missiles, neuartige Marschflugkörper.

Dieser Plan geht als "Doppelbeschluss" in die Geschichte ein, weil das Militärbündnis gleichzeitig noch eine zweite Entscheidung trifft: Es möchte mit der UdSSR über eine Abrüstung verhandeln. Doch von dem zweigleisigen Vorgehen bleibt wenig übrig, als die Sowjetunion zum Jahreswechsel in Afghanistan einmarschiert und im November 1980 mit Ronald Reagan ein Hardliner zum US-Präsidenten gewählt wird, der die UdSSR zum "Reich des Bösen" erklärt. Als Reagan zudem im März 1983 verkündet, die USA entwickelten ein neuartiges weltraumgestütztes Raketenabwehrsystem, abgekürzt SDI, stehen die Zeichen mehr denn je auf Eskalation und Aufrüstung. Kaum je, so scheint es, war die Gefahr eines Atomkrieges größer.

In Westdeutschland treibt vor allem Bundeskanzler Helmut Schmidt von der SPD die Stationierung der neuen Nato-Raketen voran. Weil Schmidt fürchtet, die BRD könnte einem Angriff des Warschauer Pakts, der im Übrigen über deutlich mehr Panzer und Soldaten in Europa verfügt als die Gegenseite, schutzlos ausgeliefert sein, will er mit dieser sogenannten Nachrüstung die Balance des Schreckens wieder herstellen. Allerdings steht er damit gegen große Teile der Bevölkerung.

Je nach Umfrage lehnen bis zu drei Viertel der Westdeutschen Anfang der 1980er Jahre die Aufstellung neuer Atomwaffen in ihrer Heimat ab. Vielen ist der schlichte Gedanke daran unheimlich; die Menschen bezweifeln auch, dass ein Mehr an Waffen zu mehr Sicherheit führt, misstrauen der Logik der Strategen, dass nur das Versprechen gegenseitiger Vernichtung Frieden garantiere. Und so wallt – getrieben von Angst und Hoffnung – binnen kürzester Zeit eine neue Bürgerbewegung auf, größer als jede andere in der Geschichte der BRD. Bereits in den 1950er und 1960er Jahren hatte es Proteste und Ostermärsche gegen die Wiederbewaffnung und die Gründung der Bundeswehr gegeben. Doch die neue Friedensbewegung erreicht eine andere Dimension: Mindestens eine halbe Million Menschen zählen bald zu ihren Aktivisten.

Brennende Barrikaden in Berlin, 1981
Aufruhr: Als nach der UdSSR auch die Nato neue Atomraketen in Europa stationieren wollte, brachen in der BRD heftige Proteste aus, etwa 1981 in Westberlin
© Paul Glaser / SZ Photo

Der Protest gärt in den Kirchengemeinden, Pfarrer und Gläubige organisieren Friedensgebete und Mahnwachen. Eine vor allem protestantisch geprägte, aber ökumenisch gedachte Initiative fordert einen Globus ohne Militär: "Frieden schaffen ohne Waffen" wird zum weitverbreiteten Motto. Beim Evangelischen Kirchentag in Hamburg im Juni 1981 steht der Kampf gegen die Nachrüstung im Mittelpunkt, demonstrieren fast 100 000 Menschen unter dem Motto "Fürchtet Euch".

Auch in den Gewerkschaften und der Partei des Kanzlers finden sich viele Friedensaktivisten und deren Sympathisanten. Auf SPD-Parteitagen muss Schmidt, der die Pazifisten mitunter als "infantil" abtut, den Delegierten mühsam Kompromisse abringen, um seinen Rüstungskurs fortsetzen zu können. Ganze Landesverbände fordern bald die Abkehr von den Nato-Beschlüssen.

Wer an seinem Pazifismus um jeden Preis festhalten will, hat inzwischen sogar eine neue Partei zur Auswahl. "Die Grünen" haben sich Anfang 1980 gegründet, nur wenige Wochen nach dem Rüstungsbeschluss der Nato; neben dem Engagement für Frieden eint die Mitglieder die Sorge um die Umwelt und der Wunsch, alternativen Lebensentwürfen zu folgen. 

Eine neue Partei tauchte auf: Die Grünen 

Viele Grüne sind bald bundesweit bekannt, etwa das ungleiche Paar aus der US-deutschen Aktivistin Petra Kelly und dem Ex-Generalmajor der Bundeswehr Gert Bastian. 

Die Führung der DDR versucht Einfluss auf den Friedensaktivismus in der BRD zu nehmen. Der SED nämlich kommt eine Bewegung, die die politische Landschaft des Nachbarstaates aufwühlt und geeignet ist, dessen Bindung an Nato und USA zu schwächen, durchaus gelegen. Der Hebel: Geld. Von der DDR heimlich finanzierte Gruppen wie die Deutsche Kommunistische Partei und die ihr nahestehende Deutsche Friedens-Union (DFU) sind bei den bundesweiten Treffen der Friedensbewegung dabei. Und als bei einer Zusammenkunft von Aktivisten in Krefeld die rund 1000 Anwesenden einen Appell verabschieden, sorgen die Abgesandten der DFU dafür, dass die Raketen der UdSSR mit keiner Silbe erwähnt und nur die US-Atomwaffen als Bedrohung angeprangert werden. 

Trotzdem unterzeichnen Millionen Westdeutsche den Krefelder Appell. Und Massen gehen bald auch auf die Straßen: Am 10. Oktober 1981 versammeln sich im Bonner Hofgarten rund 300 000 Menschen, angereist aus der ganzen Bundesrepublik, mit 30 Sonderzügen und mehr als 3000 Bussen. Als Ehrengast ist Coretta Scott King, die Witwe von Martin Luther King, geladen. Es ist der vorläufige Höhepunkt der Friedensbewegung in Westdeutschland.

Demonstration gegen die geplante Stationierung von Raketen BRD 1983
Widerstand: 1983 spitzten sich die Proteste in der BRD zu. An einer Blockade des US-Luftwaffenstützpunkts Mutlangen nahm auch der für die grüne Partei aktive Literat Heinrich Böll (mit Baskenmütze) teil
© AP / akg-images

Von den Demonstrationen jenseits der Grenze erfahren auch die Bürgerinnen und Bürger der DDR ausführlich. Nicht ohne Genugtuung über den Aufruhr berichtet etwa die Parteizeitung "Neues Deutschland". Die SED sieht sich auf der Seite der Friedliebenden, die DDR sei ein ausgewiesener "Friedenstaat", so lassen die Funktionäre immer wieder verlauten. Denn mit Gründung des ersten sozialistischen Gemeinwesens auf deutschem Boden habe man einen Neuanfang vollzogen und damit nicht nur sämtliche Verbindungslinien zum nationalsozialistischen Terror, sondern auch zum Militarismus gekappt. Jegliche Kriegslust sei imperialistisch und damit der DDR fremd, aus Prinzip. 

Die Realität aber sieht anders aus. Wie die BRD hat auch die DDR ein Jahrzehnt nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg eine neue Armee aufgestellt. Doch während die Bundeswehr mit dem Konzept des Staatsbürgers in Uniform versucht, Zurückhaltung und Kritikfähigkeit zu demonstrieren, ist die Nationale Volksarmee der unverhohlene Stolz der SED. Die Truppe ist im Osten allgegenwärtig. Völlig selbstverständlich sind Militärparaden an staatlichen Feiertagen in vielen Städten. Ästhetisch greifen die Machthaber dabei ungezwungen auf deutsche Traditionen zurück. Die steingraue Farbe und der Schnitt der Uniform ähneln jenen der Wehrmacht. Auch der preußische Stechschritt wird in der DDR weiter gepflegt, während die Bundeswehr bewusst darauf verzichtet.

Die Militarisierung reicht tief in die Gesellschaft – bis hinein in die Kindergärten, wo der Staat die Spielzeugkisten mit Schützenpanzern ausstattet. Schüler besingen die Armee: "Soldaten sind vorbeimarschiert im gleichen Schritt und Tritt – wir Pioniere kennen sie und laufen fröhlich mit." Es gibt "Wehrkundeunterricht" sowie jedes Jahr das "Manöver Schneeflocke", bei dem die Schulkinder mit Holzgewehren exerzieren und sich im "Handgranatenzielwurf" üben. Der Wehrdienst im Osten, der für alle Männer gilt, ist strenger und seit 1972 länger als in der BRD. Aber nicht nur in der NVA dienen die Bürger: Fast ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung ist eingebunden in die Landesverteidigung, etwa bei der Wehrerziehung oder in militärischen Vereinigungen. 

Soldaten marschieren im Stechschritt. Ostberlin 1990
Im Stechschritt: Das SED-Regime versuchte, die Friedensbewegung im eigenen Land mit allen Mitteln zu unterdrücken: Ausgrenzung, Verhaftung, Abschiebung (im Bild NVA-Soldaten 1990)
© Diether Endlicher / AP / akg images

Und so wünschen sich zu Beginn der 1980er, teils angeregt durch die Friedensbewegung im Westen, immer mehr DDR-Bürger – junge Eltern, Wehrpflichtige, ohnehin mit dem System Unzufriedene – eine Entmilitarisierung der Gesellschaft. Für ihren Protest finden sie zunächst scheinbar harmlose Mittel: Der Dresdner Landesjugendpfarrer Harald Bretschneider lässt 1981 Aufnäher mit einer kleinen Grafik drucken, auf der ein Schmied mit einem Hammer einen Säbel umbiegt; darum laufen im Kreis die programmatischen Worte: "Schwerter zu Pflugscharen", ein Bibelzitat aus dem Buch des Propheten Micha. Der Trick: Die Aufnäher können zu Hunderttausenden hergestellt werden, weil sie als "Textiloberflächenveredlung" keiner Druckgenehmigung unterliegen. Schnell verbreiten sich die Stoffteile, geraten, auf Jacken und Taschen angebracht, zum Symbol der wachsenden Friedensbewegung.

Für das Regime ist die pazifistische Kritik besonders unangenehm, weil sie einen zentra-
len Widerspruch entlarvt: die Kluft zwischen Friedensparolen und Säbelrasseln, von der SED nur notdürftig mit dem Motto "Der Friede muss bewaffnet sein" kaschiert. Zunehmend energisch geht die Partei gegen die Aktivisten vor, verbietet etwa den Aufnäher und lässt ihn nicht selten zwangsweise entfernen. 

Trotzdem finden sich Pazifisten nun überall in der DDR in kleinen Gruppen zusammen, vor allem im Schutz der evangelischen Kirche. Aktiver Christ oder Christin zu sein ist in der DDR verpönt und karriereschädlich, aber die Gemeinden genießen zugleich eine gewisse Freiheit, weil sie selbst über ihr Personal und ihre Einrichtungen entscheiden dürfen. 

Ein Pfarrer lud zum montäglichen Friedensgebet

So sind die Kirchen auch der wichtigste Anlaufpunkt für Menschen, die den Wehrdienst an der Waffe verweigern und den Ersatzdienst bei den "Bausoldaten" wählen, unbewaffneten Einheiten, die etwa beim Errichten von Militärflughäfen eingesetzt werden. Von 1980 an veranstalten viele Gemeinden im Herbst eine "Friedensdekade", zehn Tage voller Gottesdienste, Gedenk- und Diskussionsrunden. Anfang 1982 veröffentlicht der Friedrichshainer Pfarrer Rainer Eppelmann zusammen mit dem Publizisten Robert Havemann den "Berliner Appell" für Abrüstung in Ost und West, der bald weithin kursiert. Und in Leipzig etabliert im selben Jahr der Pastor Christian Führer ein montägliches Friedensgebet in der Nikolaikirche. (Es ist die Keimzelle der Montagsdemonstrationen, die später den Zusammenbruch der SED-Herrschaft mit auslösen werden.)

Auch für Roland Jahn, geboren in Jena, ein Mann mit weichen Gesichtszügen und starkem Willen zum Widerspruch, wird in dieser Zeit der Kampf gegen den Militarismus immer wichtiger. Nach Kritik an der Ausbürgerung des oppositionellen Liedermachers Wolf Biermann war er 1977 von seinem Ökonomiestudium an der Jenaer Universität ausgeschlossen worden und hatte einen Job als Transportarbeiter angenommen. Jahn findet Anschluss an die "Junge Gemeinde" in Jena, doch die Gespräche im Schutz der Kirche reichen ihm nicht. Schon bald sucht er die Öffentlichkeit. Er demonstriert, meist allein, gegen das Militär, die Obrigkeit, deren Bildungsverbote, für Menschenrechte. Hängt sich eine Polen-Fahne mit dem Wort "Solidarność" ans Fahrrad, zur Unterstützung der im Nachbarland verbotenen Gewerkschaft. Für die SED-Kundgebung zum 1. Mai frisiert er sich 1982 halb als Hitler, halb als Stalin.

Mehrmals wird Jahn festgenommen und verhört. Im Januar 1983 verurteilt ihn das Regime zu knapp zwei Jahren Haft, wegen "Missachtung staatlicher und gesellschaftlicher Symbole" und "mehrfacher öffentlicher Herabwürdigung" der DDR. Etwa zur selben Zeit werden auch viele seiner Freunde und Mitstreiter wegen ähnlicher scheinbarer Lappalien verhaftet – darunter die Mutter seiner wenige Jahre alten Tochter.

Vielleicht ist es die Universität oder der weltweit renommierte Industriebetrieb Zeiss, vielleicht das Erbe des Freiheitsdenkers Friedrich Schiller – die Stadt Jena jedenfalls bringt eine beträchtliche Zahl an DDR-Oppositionellen hervor und lässt die SED hier besonders energisch gegen den Widerstand vorgehen. Womöglich liegt das auch an den guten Kontakten in den Westen. Einige Menschenrechts- und Friedensaktivisten sind in die BRD ausgewandert, haben dort Anschluss gefunden, vor allem an Mitglieder der neuen Partei "Die Grünen", und halten über geheime Kanäle Verbindung in die alte Heimat.

Porträtfoto von Roland Jahn
Mutig: Um den Oppositionellen Roland Jahn (u.) gründete sich in Jena eine Gruppe von Friedensaktivisten, die mit spektakulären Aktionen auffiel
© Manfred Hildebrandt / epd-bild

Der Informationsfluss funktioniert auch diesmal: Nach den Verhaftungen von Jahn und seinen Freunden berichten "Bild", "Spiegel" und die "Tagesschau" darüber; ein ARD-Bericht nennt sogar ihre Namen. Die Grüne Petra Kelly spricht öffentlich über die Gefangenen aus Jena, Amnesty International schickt Hilfspakete. 

Und weil die SED-Führung wohl trotz aller Skrupellosigkeit um ihren Ruf bemüht ist, bewegen sie die Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen in den Medien dazu, Zugeständnisse zu machen. Im Februar 1983 entlässt der Staat überraschend alle 14 Jenaer Gefangenen. Ein Triumph für die Friedensaktivisten der Stadt – und offenbar Ansporn weiterzukämpfen. 

Die westdeutschen Medien berichteten über die Aktion

So geben die Engagierten ihrem Kreis kurz darauf einen neuen Namen und fassen einen mutigen Plan. Einen Monat später wollen die Mitglieder der "Friedensgemeinschaft Jena" ein unübersehbares Zeichen setzen.

Nach dem Eklat auf dem Marktplatz am 18. März 1983 erreichen die geschmuggelten Fotos von der Protestaktion tatsächlich den Westen. Doch es dauert gut zwei Wochen, ehe die "Tagesschau" von den Ereignissen berichtet. Und diesmal wird die öffentliche Aufmerksamkeit die Aktivisten nicht vor der Härte des Regimes schützen. Im Gegenteil: Jetzt will der Staat die Gruppe vernichten.

Rudi Mittig, Vize-Chef der Stasi, kümmert sich wenig später persönlich um die "Aktion Gegenschlag". Die Behörden, so der Plan, werden die Aktivisten diesmal nicht inhaftieren – sondern kollektiv des Landes verweisen. Das Kalkül vermutlich: Eine Ausreise, zumal wenn sie vordergründig freiwillig wirkt, erscheint im Blick der internationalen Öffentlichkeit weitaus weniger rabiat als eine Inhaftierung.

Schon während der letzten Haft der Protestler hat die Stasi deshalb vorgearbeitet. Sie hat die Friedenskämpfer Ausreiseanträge verfassen lassen. Bei einigen ohne Gegenwehr – desillusioniert wollen sie lieber ihre Heimat verlassen, als in einem ständigen Gewissenskonflikt zu leben. Andere aber werden unter Druck gesetzt: In der DDR drohe ihnen mehrjährige Haft, so die Offiziere beim Verhör, der einzige Weg in die Freiheit führe über den Antrag. 

Die Friedensaktivisten mussten die DDR verlassen

Ab dem 18. Mai erfahren rund 40 Friedensbewegte, dass sie ausreisen sollen – binnen weniger Tage müssen sie samt ihren Familien das Land verlassen. Die Brücken abbrechen, vollständig und für immer. Minutiös beobachten und dokumentieren die Spitzel der Stasi die Abschiedsszenen am Bahnhof – ein letztes Foto mit Sektflasche unter der DDR-Fahne am Bahnhofseingang, Umarmungen, das Anrollen des Zuges, nach Berlin und von dort in den Westen. Bereits Ende Mai ist die Aktion Gegenschlag aus Sicht des Regimes erfolgreich abgeschlossen. Bis auf eine Ausnahme. 

Am 7. Juni 1983 betritt Roland Jahn das Büro des Stadtrats für Wohnungsfragen in Jena. Der Friedensaktivist ist optimistisch. Er hat den in der Haft erpressten Ausreiseantrag gleich nach seiner Freilassung offiziell wieder zurückgenommen. Er will nicht gehen, sondern hier in der Stadt weiterkämpfen. Wehmütig, aber entschlossen hat er die Abreise seiner Freunde hinnehmen müssen, seiner Tochter mit der Ex-Freundin. Nun möchte er in die Wohnung eines ausgereisten Freundes ziehen. Doch die Einladung ist eine Falle.

Auf dem Amt warten Stasi-Offiziere auf ihn. Sie eröffnen ihm, dass er an diesem Tag die DDR verlassen werde. Alles geht nun sehr schnell. Die Beamten verfrachten Jahn in ein Auto, legen ihm, nachdem er noch kurz versucht hat zu fliehen, Knebelketten an, metallene Fesseln an den Handgelenken, die sich durch Verdrehen schmerzhaft verkürzen lassen. Dann transportieren sie ihn zum Grenzbahnhof Probstzella, eine gute Stunde Fahrt Richtung Südwesten. In der Nacht sperren sie ihn im hier haltenden Interzonenzug Berlin–München in ein Abteil. 

Im Westen protestierten Hundertausende

Nach wenigen Kilometern erreicht der Zug die BRD, und erst dort öffnet ein instruierter Schaffner das Abteil wieder. Jahn tobt, verlangt, in die DDR zurückgebracht zu werden. "Das können Sie aber schnell vergessen", bescheidet ihm der bayerische Grenzpolizist. Mit einem dramatischen Schlussakt geht so der "Gegenschlag" zu Ende – nachdem 
Stasi-Minister Mielke selbst den Plan abgezeichnet hatte, einen DDR-Bürger gegen dessen Willen zum Klassenfeind zu schicken.

Jahn ist fassungslos, er schreibt Eingaben an den UN-Generalsekretär und an Erich Honecker, weigert sich zunächst, den westdeutschen Pass anzunehmen. Aber er kommt in Westberlin sofort bei dem Netzwerk von Ex-Jenaern unter, die vor ihm ausgereist sind. 

In der BRD hat sich der Kampf um den Frieden unterdessen ebenfalls zugespitzt. Kanzler Schmidt stürzt über ein konstruktives Misstrauensvotum: Die FDP hat die Koalition mit den Sozialdemokraten verlassen, nicht zuletzt wegen der unsicheren Position der SPD in der Atomwaffenfrage. Seit Oktober 1982 regiert nun eine christlich-liberale Koalition unter Kanzler Helmut Kohl, der die Atomraketenstationierung voll unterstützt – und im März 1983 bei Neuwahlen nochmals bestätigt worden ist. Doch auch die Friedensbewegung hat bei diesem Wahlgang gewonnen: Mit den Grünen gelangen ihre Vertreter erstmals in den Bundestag.

In den folgenden Monaten erreichen die Proteste in der BRD nie gekannte Ausmaße. An den Ostermärschen beteiligen sich rund 700 000 Menschen im ganzen Land, bei späteren Demos noch einmal mehr als eine Million an einem einzigen Tag. Und es gibt gezielte Widerstandsaktionen, die militärische Einrichtungen lahmlegen sollen. 

Wasserwerfereinsatz gegen Demonstranten während einer Friedensdemo Bonn 1983
Niederlage: Am 22. November 1983, einen Tag nach einer weiteren Demo in Bonn (oben), stimmte der Bundestag der Raketenstationierung zu. Die Friedensbewegung im Westen hatte ihr Ziel verfehlt
© Sven Simon / imago images

Am 1. September versammeln sich etwa 4000 Demonstranten vor dem US-Luftwaffenstützpunkt Mutlangen östlich von Stuttgart. Sie wollen für drei Tage die Zufahrt zu dem Areal blockieren, das als zukünftiger Stützpunkt für Pershing-II-Raketen ausersehen ist. Unter den Anwesenden, die sich ein Zeltlager unweit des Tores eingerichtet haben, sind zahlreiche Prominente, etwa die Schriftsteller Heinrich Böll und Günter Grass, dazu SPD-Spitzenpolitiker wie Erhard Eppler und Saarbrückens Oberbürgermeister Oskar Lafontaine. Auch der westdeutsche Neubürger Roland Jahn ist da. Er trägt ein Transparent mit dem Schriftzug "Schwerter zu Pflugscharen", verziert mit dem bekannten Schmied-Symbol. "Geh doch rüber", schleudert ausgerechnet ihm ein Passant entgegen. 

Die Polizei ist aufmarschiert, Hubschrauber kreisen, Militärfahrzeuge stehen auf den Zufahrtstraßen. Doch wohl wegen der vielen bekannten Persönlichkeiten verzichten die Beamten darauf einzugreifen.

Jahn aber will anecken, eilt kurz darauf weiter nach Bitburg, zur Blockade des Flugplatzes am dortigen US-Luftwaffenstützpunkt. Hier wird er von Polizisten weggetragen und anschließend wegen Nötigung verurteilt. Weil er die Geldstrafe nicht zahlen will, wird Jahn auch im Westen noch einmal verhaftet und eingesperrt (das Bundesverfassungsgericht rehabilitiert ihn allerdings später, weil es seine Sitzblockade nicht als Nötigung wertet).

Die Friedensbewegung verlor den Kampf 

Aller Kampf aber ist am Ende vergebens. Am 22. November 1983 beschließt der Bundestag mit den Stimmen von CDU, CSU und FDP die Stationierung der neuen Nuklearwaffen in der BRD. In den folgenden Monaten werden die Raketen über das Land verteilt, gelangen auch nach Mutlangen. Die Sowjetunion bricht sofort nach dem Beschluss des Bundestags die Abrüstungsgespräche ab. 

Keine zwei Jahre später jedoch nimmt der neue KPdSU-Chef Michail Gorbatschow den Gesprächsfaden wieder auf. Er verkündet öffentlich, die militärische Überlegenheit der Sowjetunion als Vorsatz aufzugeben. Nun ist auch US-Präsident Ronald Reagan bereit zu Abrüstungsschritten. Am 8. Dezember 1987 unterzeichnen die beiden Mächtigen in Washington einen Vertrag, dessen Kern die völlige Abschaffung einer ganzen Waffengattung vorsieht: der nuklearen Mittelstreckenraketen. Die SS-20 werden ebenso wie die Pershing II und die Cruise Missiles innerhalb von drei Jahren verschrottet.

Im Westen hat die Friedensbewegung ihre Wucht inzwischen verloren – angesichts des nun fehlenden konkreten Ziels zerbricht die Einheit aus Kirchen, Grünen, Sozialdemokraten und Kommunisten. Im Osten dagegen sammeln sich um die in den Gemeinden konzentrierten Friedenskämpfer immer mehr Menschen, die grundsätzlich mit dem politischen System ihrer Heimat unzufrieden sind.

Roland Jahn wurde zum Hüter der Stasi-Akten

Roland Jahn wird zum Mittler zwischen den Friedensbewegten in Ost- und in Westdeutschland. Er arbeitet als Fernsehjournalist und pflegt Kontakte zu DDR-Oppositionellen, schmuggelt über Vertraute verbotene Literatur und Kopiergeräte für Flugzettel in den Osten. Vor allem aber versorgt er Untergrundreporter mit Videokameras, die es im Osten nicht gibt. Die mit einer dieser Kameras heimlich aufgenommenen Videos der Leipziger Montagsdemos gelangen über Jahn ins Westfernsehen und ermutigen so immer mehr Menschen zur Teilnahme.

Nach dem Mauerfall ist Jahn mit dabei, als im Januar 1990 Tausende die Berliner Stasi-Zentrale besetzen, um die Vernichtung von Unterlagen zu stoppen. 21 Jahre später, 2011, wählt der Bundestag ihn zum letzten Bundesbeauftragten für die Stasi-Akten, deren Archivierung er begleitet.

Roland Jahn ist nun Hüter der Erinnerung an die Geheimpolizei und ihre Taten. Und ebenso Hüter jener persönlichen Geschichten, die sich hinter den hunderttausendfach abgehefteten Protokollen und Dokumenten verbergen. Darunter: seine eigene – und die der Friedenskämpfer aus Jena.

Aus GEO EPOCHE Nr. 126 "Das geteilte Deutschland"

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