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Unterschätztes Umweltrisiko Immer mehr Arzneimittelrückstände in der Umwelt – doch die Daten zu Risiken sind Geheimsache

Medikamente in Blistern
Medikamente  sind in weiten Teilen noch ein unterschätztes Umweltproblem
© picture alliance / Zoonar | Karin Jaehne
Arzneimittel sind inzwischen verbreitet in der Umwelt und immer wieder auch im Trinkwasser nachweisbar. Daten zu Risiken gibt es – nur sind sie oft nicht zugänglich, wie Experten bemängeln. Auf EU-Ebene laufen nun Verhandlungen

Arzneimittel sollen im Körper wirken. Doch je nach Präparat werden bis zu 90 Prozent des enthaltenen Wirkstoffes unverändert wieder ausgeschieden und gelangen ins Abwasser. Kläranlagen fangen nur einen Teil der Substanzen ab. In Gewässern sind Arzneimittel daher ebenso nachzuweisen wie – in deutlich geringeren Mengen – in Trinkwasser.

Zwar müssen Hersteller Studien zu Umweltverhalten und -toxizität durchführen. Publik werden die Ergebnisse aber Experten zufolge kaum. "Umweltbehörden und Öffentlichkeit kommen an die Daten oft nicht heran", erklärt die Juristin und Umweltwissenschaftlerin Kim Teppe. Effektiver Gewässerschutz sei in der Folge erheblich erschwert.

Für andere Stoffe wie Industriechemikalien, Biozide und Pflanzenschutzmittel sind die Ergebnisse ökotoxikologischer Studien öffentlich zugänglich. Bei Arzneimitteln hingegen müssen Hersteller bisher nur bei den Zulassungsbehörden Daten einreichen und können sich zudem auf umfangreiche Ausnahmen berufen, sodass in der Praxis oftmals gar keine Daten vorgelegt werden, wie Teppe erklärt.

Von den Zulassungsbehörden dürften die Daten zudem nicht an Umweltbehörden oder Fachöffentlichkeit weitergegeben werden. Selbst bei gezielter Anfrage einer Gewässerüberwachungsbehörde könnten Hersteller unter Verweis auf Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse Teile oder gar das vollständige Umweltdossier als geheimhaltungsbedürftig einstufen, sagt Teppe.

Arzneiwirkstoffe werden nur langsam abgebaut

Wieso gibt es diesen Unterschied zwischen den Substanzgruppen? "Dass Arzneistoffe auch Folgen für die Umwelt haben, war und ist nicht so verbreitet bekannt wie etwa bei Pestiziden, der öffentliche Druck war nicht so da", nennt Teppe einen Grund. Zudem würden Industriechemikalien oft in weit größeren Mengen verwendet, Pflanzenschutzmittel aufs Feld und damit direkt in die Umwelt gebracht. Doch zu berücksichtigen sei eben auch, dass Arzneiwirkstoffe speziell für eine Wirkung in Lebewesen konzipiert und oft sehr persistent sind, also nur langsam abgebaut werden.

Inzwischen dreht sich der Wind. Auf EU-Ebene laufen Verhandlungen für neue Regelungen. Die Kommission hat angekündigt, in ihrer Sitzung am 29. März einen ersten Entwurf für das neue Humanarzneimittelrecht vorzulegen. "Darin sind dann hoffentlich Umweltbelange wie das Schließen von Datenlücken und die Datentransparenz wenigstens ansatzweise schon adressiert", hofft Teppe. Die Juristin hat selbst Vorschläge bei der EU-Kommission eingereicht.

Für ihre juristische Doktorarbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW) und der Universität Hamburg zur Problematik wurde Kim Teppe 2022 mit dem Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung ausgezeichnet. Bei der Recherche im Rahmen des "PharmCycle"-Projekts an der HAW hatte sie selbst erfahren, wie schwierig es ist, an Daten ökotoxikologischer Studien zu gelangen – und klagte am Verwaltungsgericht Köln auf Zugang zu den Umweltdaten. Seither laufe das Verfahren, das Teppe zufolge letztlich zu einer Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) führen könnte.

"Daten für alte Wirkstoffe müssen nachgeliefert werden"

Der EuGH könnte demnach entscheiden, dass es sich bei den Umweltrisikobewertungen von Arzneimitteln um Informationen über Emissionen im Sinne des Umweltinformationsrechts handelt – damit wären sie unabhängig von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen auf Antrag zugänglich zu machen. "Wichtig wäre auch, dass Daten für alte Wirkstoffe nachgeliefert werden", sagt Teppe, die seit einigen Monaten für das Umweltbundesamt (UBA) arbeitet. Solche Substanzen machen einen Großteil der verfügbaren Wirkstoffe aus, wurden aber einst kaum auf ihre Umweltfolgen hin untersucht.

Auf der Liste sogenannter prioritärer Stoffe im Sinne der EU-Wasserrahmenrichtlinie taucht bisher kein einziger Arzneimittel-Wirkstoff auf, wie Gerd Maack von der Fachgruppe zur Umweltbewertung von Arzneimitteln des Umweltbundesamtes erklärt. Gelistet werden dort Stoffe mit besonders hohem Umweltrisiko wegen ihrer öko- oder humantoxikologischen Wirkung und einer weiten Verbreitung in Gewässern. Für prioritäre Stoffe werden rechtsverbindliche Normen etwa für Kontrollen und gezielte Maßnahmen zum Gewässerschutz festgelegt.

Auch hier ändert sich die Lage: Wirkstoffe wie die hormonell wirksamen Substanzen Estradiol und Ethinylestradiol sowie das Schmerzmittel Diclofenac könnten demnächst auf der Liste stehen, die Diskussion auf EU-Ebene dazu laufe, sagte Maack.

Für Ethinylestradiol liege die Konzentration, bei der noch keine Effekte auf das Ökosystem auftreten (predicted no effect concentration, PNEC), bei 0,016 Nanogramm pro Liter. Der im EU-Mittel an offiziellen Messstellen an Oberflächengewässern erfasste Wert aber liege bei 0,3 Nanogramm pro Liter, also dem mehr als 18-fachen. Hormonell wirksame Stoffe wirken häufig schon in sehr niedrigen Dosen.

Bei Diclofenac liegt der vorgeschlagene PNEC-Wert Maack zufolge bei 0,04 Mikrogramm pro Liter, der gemessene mittlere EU-Wert bei 0,4 Mikrogramm pro Liter, also dem Zehnfachen. Die Substanz – in Deutschland unter anderem Bestandteil von Salben, die gegen Schmerzen wirken sollen – ist ein Beispiel dafür, dass Arzneistoffe ebenso überraschende wie furchtbare Folgen für Natur und Umwelt haben können.

Massensterben der Geier, ausgelöst durch Diclofenac

Als indische Landwirte in den 1990er-Jahren begannen, ihre Rinder mit Diclofenac zu behandeln, begann ein Massensterben der Geier. Bestände schrumpften um 90 Prozent und mehr, einige Arten starben fast aus. Das Mittel verursacht bei den Greifvögeln, die es beim Verzehr von Kadavern aufnehmen, schon in kleinsten Mengen ein qualvolles, tödliches Nierenversagen.

Allein in Deutschland werden pro Jahr etwa 80 Tonnen des Wirkstoffes verbraucht. "Maximal sechs Prozent kommen am gewünschten Zielort im Körper an", sagt Maack. "Die Haut ist eine effektive Barriere, das ist ja auch ihre Aufgabe." Als Salbe aufgetragen gehe der Großteil des enthaltenen Wirkstoffs beim Händewaschen, Duschen oder dem Waschen der getragenen Kleidung ins Abwasser. In den Kläranlagen wird nur ein Teil eliminiert.

Medizinisch notwendig seien die Salben – mit Ausnahme gegen Arthritis – oft nicht, ist Maack überzeugt. "Die Menschen müssten sich viel stärker bewusst machen, was sie mit der Verwendung in die Umwelt bringen." In Schweden werden demnach auf die Haut aufzutragende Diclofenac-Präparate nur auf Nachfrage und nach Beratung zur richtigen Anwendung und zu Umweltwirkungen verkauft.

Unbedingt achten sollten Verbraucher, die auf Diclofenac-Salben nicht verzichten können, auf eine Maßnahme: "Hände nach dem Auftragen nicht direkt waschen, sondern zuerst mit einem Tuch abwischen und dieses in den Müll werfen", erklärt Maack. Generell sollten Überbleibsel und Reste von Medikamenten nicht in Waschbecken oder Toilette entsorgt werden.

Einer Studie im Auftrag des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) zufolge könnten allein die Diclofenac-Einträge in einem Zeitraum von 30 Jahren bis 2045 Umweltreinigungskosten von bis zu 1,5 Milliarden Euro verursachen. Dabei gehe es vor allem um zusätzliche Reinigungsstufen für Kläranlagen.

Der BDEW fordert, Arzneimittelproduzenten an der Finanzierung von Reinigungsleistungen zu beteiligen. "Nur wenn die Hersteller für die von ihnen verursachte Verschmutzung zahlen müssen, schaffen wir wirksame Anreize zur Verminderung von Einträgen", wird Martin Weyand, BDEW-Hauptgeschäftsführer Wasser/Abwasser, in einer Mitteilung von Mitte Januar zitiert.

Vom Verband der forschenden Pharma-Unternehmen (vfa) heißt es dazu: "Da Medikamente zur Linderung, Heilung und Prävention von Krankheiten zu den Grundbedürfnissen der Bevölkerung gehören, ist es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die aus der Medikamenteneinnahme resultierenden Arzneistoffspuren aus dem Wasser zu entfernen, die Probleme verursachen." Diese gesamtgesellschaftliche Verantwortung erstrecke sich auch auf die Finanzierung.

"Röntgenkontrastmittel rauschen einfach so durch"

Die Wasserrahmenrichtlinie der EU sieht eine weitere Reinigungsstufe vor, auch in Deutschland werden immer mehr 4. Klärstufen eingebaut. Sie halten Spurenstoffe etwa durch sogenannte Ozonierung oder Aktivkohlefiltration zurück. "Viele Wirkstoffe wie Röntgenkontrastmittel rauschen aber auch da einfach so durch", sagt Maack vom Uba.

Diskutiert werden deshalb verschiedene weitere Maßnahmen, etwa eine Umweltverträglichkeits-Ampel als Zusatzinfo für Fachpersonal. "Wirkstoffe wie Diclofenac sollten nicht mehr rezeptfrei abgegeben werden", sagt Maack. Zudem muss sich in Deutschland an der Mentalität in Gesundheitsfragen grundlegend etwas ändern, wie Experten schon seit Jahren betonen: Mehr Bereitschaft zu eigenem Handeln wie etwa zu einer besseren Ernährungsweise und einem höheren Bewegungspensum sei nötig.

"Dass verbreitete Ansicht ist, ein Medikament oder eine Behandlung müsse jede Erkrankung richten und man selbst müsse gar nichts tun, ist Teil des Problems", sagt Maack. Würde weniger auf Substanzen gesetzt und mehr auf Verhaltensänderungen, würde sich in vielen Bereichen die Menge verwendeter Medikamente vermindern.

Derzeit gelangen in Deutschland jährlich Tausende Tonnen biologisch aktive Wirkstoffe aus Human- und Tiermedizin über Abwässer, Klärschlamm und Gülle in die Umwelt. Mehr als 2000 verschiedene Substanzen sind im Handel, häufig in Gewässern nachgewiesen werden dem UBA zufolge Schmerzmittel, Antibiotika, Hormone, Betablocker, Kontrastmittel und Antidepressiva.

Das Problem wird an Brisanz gewinnen: Die Generation der Babyboomer erreicht das Rentenalter – und vor allem Senioren nehmen viele Medikamente. Verglichen mit dem Jahr 2015 sei bis 2045 mit einer bis zu 70-prozentigen Steigerung beim Einsatz rezeptpflichtiger Arzneimittel zu rechnen, sagt UBA-Experte Maack. Um Blutdrucksenker geht es dabei, Schmerzmittel, Magensäureblocker, Mittel gegen Osteoporose, Neuropharmaka und etliches mehr.

Zudem summieren sich die Mengen vieler Substanzen in der Umwelt von Jahr zu Jahr. "Arzneimittel sind oft sehr stabil verglichen mit anderen Chemikalien", erklärt Maack. Schließlich seien sie dafür geschaffen, unwirtliche Körpergefilde wie den Magen-Darm-Trakt und Passagen durch Zellwände heil zu überstehen. In der Umwelt werden sie häufig nur sehr schlecht abgebaut und behalten ihre biologische Wirksamkeit lange Zeit, wie Maack sagt.

Bei Neuentwicklungen werde von Pharmafirmen auf noch mehr Haltbarkeit geachtet – zum Beispiel, damit Medikamente nur noch einmal statt zweimal täglich genommen werden müssen. Die Umweltverträglichkeit werde bei der Entwicklung bisher gar nicht beachtet.

Lange Haltbarkeit bereitet zusätzliche Probleme

Vom Pharma-Unternehmensverband vfa heißt es dazu, dass es nur begrenzt möglich sei, chemisch-synthetische Wirkstoffe von vornherein gut biologisch abbaubar zu entwickeln. Zum einen müssten viele Medikamente bei Raumtemperatur und ohne Luftabschluss jahrelang lagerfähig sein, was chemische Stabilität voraussetze. Zum anderen erreichten besonders leicht abbaubare oder umbaubare Substanzen im menschlichen Körper gar nicht ihre Zielorgane oder könnten dort nicht lange genug wirken.

Immer mehr, immer haltbarer: Was richtet das letztlich an? Konkrete Folgen eindeutig nachzuweisen, ist unglaublich schwer. Gesicherte Zusammenhänge sind für den Menschen bisher nicht erfasst. Auch beobachtete Phänomene in der Umwelt lassen sich nur selten ursächlich auf einzelne Schadstoffe zurückführen, weil es insgesamt unzählige Schadstoffe und Einflussfaktoren gibt, die typischerweise in einem komplexen Netzwerk zusammenspielen und sich gegenseitig beeinflussen, wie Maack erklärt. Hinzu kämen chronische Effekte und Veränderungen des Erbgutes, denen noch schwerer auf die Spur zu kommen sei.

Einzelne Ergebnisse belegen Schlimmes: In einem kanadischen See stellte eine der Schlüsselarten unter den Fischen unter dem Einfluss des Pillenhormons Ethinylestradiol die Vermehrung ein – mit Folgen für das gesamte Ökosystem, wie Maack sagt. Antidepressiva in einem See in Schweden wiederum hätten das Verhalten von Flussbarschen verändert. "Sie haben häufiger den Schwarm verlassen und hatten so ein größeres Risiko, gefressen zu werden."

Über die Wasserentnahme aus Gewässern und Grundwasser gelangen die Substanzen unvermeidbar auch ins Trinkwasser, ebenso in Mineralwasser. "Das ist nicht unbedingt weniger belastet als Wasser aus dem Hahn", sagt Maack. Zwar liegen die Konzentrationen meist weit weg von den therapeutisch wirksamen. Die möglichen Langzeitfolgen für den Menschen sowie potenzielle Wechselwirkungen seien aber völlig unklar, gibt Maack zu bedenken. "Wir alle sind dafür die Langzeit-Probanden."

Annett Stein, dpa

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