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Tauender Permafrost Archäologe: "Uns bleiben noch vier, fünf Jahre, um die Stätte auszugraben"

Sorgsam sichert der Archäologe Richard Knecht am Ufer der Beringsee ein Artefakt
Sorgsam sichert der Archäologe Richard Knecht am Ufer der Beringsee ein Artefakt
© Erika Larsen
In Alaska birgt der Archäologe Richard "Rick" Knecht in einer versunkenen Siedlung der Yupik eine riesige Zahl von Artefakten. Doch der Permafrost taut, und die vom Eis konservierten Schätze zersetzen sich 
Interview: Siebo Heinken

GEO: Herr Knecht, Sie arbeiten in Nunalleq, in der Wildnis der Arktis, wo die brettflache Tundra an die Beringsee grenzt. Wie kam es dazu?
Rick Knecht: Ich forsche schon seit 40 Jahren in Alaska. Eines Tages rief mich Warren Jones an, ein Anführer der Yupik aus dem Dorf Quinhagak. An ihrer Küste würden Artefakte angespült, sagte er, teilweise kunstvolle Schnitzereien. Auf Bildern erkannte ich sie sofort als prähistorisch, also aus der Zeit, als es in dieser Inuit-Kultur noch keine schriftlichen Überlieferungen gab. Ich fuhr bald darauf hin, und als ich die Flutlinie entlang ging, sah ich mit meinem Team immer mehr dieser Dinge. Nach etwa fünf Kilometern stieß ich dann auf den Ort, wo das Meer sie aus dem Ufersaum gespült hatte. Das war im Jahr 2009. Seither grabe ich die Stätte aus.

Was war dort früher?
Ein Dorf der Yupik. Wir wissen noch nicht, wie groß es war. Wir fanden jedoch die Überreste eines ausladenden Hauses, außerdem wissen wir von mindestens einem weiteren Gebäude. Das große Haus war aus einem mit Grassoden bedeckten Holzrahmen errichtet. Was interessant ist: Es hatte offenbar versteckte Eingänge und war so gebaut, dass draußen niemand sehen konnte, wo sich die Bewohner darin bewegten. Es war wie eine Festung und funktionierte ganz ähnlich wie europäische Burgen.

Portrait Richard Knecht
Richard Knecht forscht an der University of Aberdeen und arbeitet seit 40 Jahren in Alaska
© Erika Larsen

Warum das?
Radiocarbondatierungen zeigen, dass das Haus zwischen 1645 und 1675 zerstört wurde. Dieser Befund passt zu mündlichen Überlieferungen der Yupik über eine Zeit, die von großen Konflikten zwischen den Dörfern geprägt war. Damals gab es eine global kühle Phase, die auch als Kleine Eiszeit bekannt ist: Offenbar wurden auch in Alaska die Ressourcen knapp, vor allem Karibu und Lachs, und die Bewohner von Siedlungen begannen sich zu bekämpfen. Die Yupik kennen die Zeit aus ihren Erzählungen als "Bow and Arrow War". Die Konflikte hielten wohl einige Generationen lang an.

Wie zeigt die Gewalt sich in Nunalleq?
Das große Haus wurde offenbar niedergebrannt. Zuerst stießen wir auf eine Lage von Asche, dann auf Hunderte Pfeilspitzen. Und schließlich, außerhalb des Hauses, auf die Überreste einiger Menschen. Sie waren gefesselt und umgebracht worden. Innerhalb des einstigen Gebäudes fanden wir die Überreste von Hunden. Sie hatten sich vielleicht geweigert, das Haus zu verlassen, und waren im Feuer verendet. Nach diesem Ereignis wurde Nunalleq aufgegeben. Nachdem wir die Situation dokumentiert hatten, konnten die Yupik die Toten endlich bestatten.

Wie viele Menschen hatten in dem Ort gelebt?
Das kann ich nicht sagen, weil ich nicht weiß, wie eng die Bewohner zusammenlebten, geschweige, wie viel von der Siedlung die Beringsee schon verschluckt hat. Die Ältesten aus Quinhagak erzählten mir, dass sie als Kinder manchmal mit geschnitzten Puppen und Tierfiguren spielten, die sie am Wasser gefunden hatten. Die Küste erodiert also bereits seit einiger Zeit, heute aber in viel stärkerem Maße.

Holzmaske
Im Permafrost fanden Richard Knecht und sein Team etliche solcher Masken. Sie dienten wohl rituellen Zwecken
© Erika Larsen

Solche Puppen gibt die archäologische Stätte noch immer frei?
Ja, und noch viel mehr. Insgesamt haben wir bisher um die 150 000 Artefakte gefunden, und in jeder Grabungssaison im Sommer kommen einige Tausend hinzu: atemraubend schöne rituelle Masken, Schnitzereien von Robben, Waffen, Teile von Kleidung, Körbe. Und – tatsächlich – auch Hundehaufen aus dieser Zeit. Sie geben zum Beispiel Auskunft darüber, wovon die Tiere sich ernährten und unter welchen Parasiten sie litten. Rund 80 Prozent unserer Funde sind aus Holz. Und das, obwohl es in der Tundra kaum vorkommt.

Woher kam es dann?
Damals und noch heute bedienen sich die Menschen hier bei Treibholz, das die Flüsse Yukon und Kuskokwim aus dem Binnenland Alaskas an die Küste tragen: meist Fichten. Oder Tannenstämme. Aus ihnen waren auch die Ständer des großen Hauses gemacht. Die Tradition gibt vor, dass Treibholz nicht angefasst wird, solange es noch im Wasser ist. Die Baumstämme entscheiden, wohin sie wollen. Erst wenn sie an Land liegen, können die Menschen Anspruch auf sie erheben.

In welchem Zustand sind die Funde?
Permafrost erhält organisches Material tatsächlich sehr gut, deshalb sehen die Artefakte auch nach Jahrhunderten noch hervorragend aus. Allerdings müssen wir jedes einzelne Stück mit Polyethylenglykol, einer wachsähnlichen Flüssigkeit, konservieren, um es dauerhaft zu erhalten. Das Problem ist mittlerweile aber, dass der Permafrost immer mehr auftaut. Als wir im Jahr 2009 mit den Ausgrabungen begonnen haben, war der Boden während des Sommers ab einer Tiefe von einem halben Meter gefroren. Heute stoßen wir nur noch selten auf gefrorenen Grund. Wenn der Tauprozess einsetzt, beginnt das organische Material zu faulen. Erst das Leder, dann auch das Holz.

Stücke, in die Gesichter geschnitzt sind
Die Gesichter mal fröhlich, mal traurig: Diese Puppen wurden aus Treibholz geschnitzt
© Erika Larsen

Und die Beringsee nagt weiter an der Küste …
Allerdings. Das Meer hat viel weniger Eis als früher, die Winterstürme lassen die Wellen mit wesentlich größerer Wucht an die Küste schlagen, und dabei reißen sie große Stücke des Landes ab. Es erhebt sich ja nur wenige Zentimeter über den Meeresspiegel. Ich schätze, dass uns noch vier, fünf Jahre Zeit bleiben, um die Stätte komplett auszugraben. Andernfalls wird dort alles verloren sein.

Was bedeuten Ihre Forschungen für die in Quinhagak lebenden Yupik?
Sie möchten nicht gern, dass jemand ihre alten Dörfer ausgräbt, die für sie heilig sind, und dann auch noch Dinge mitnimmt – das haben manche Archäologen hier in der Vergangenheit getan. Die Vorfahren sollen ungestört bleiben. In diesem Fall allerdings haben die Ältesten die Erlaubnis gegeben: Sie wollen nicht nur Artefakte retten, sondern auch die Jüngeren wieder für die Traditionen ihrer Ahnen begeistern. Und das ist tatsächlich eingetreten. Junge Leute haben hier sogar wieder eine Tanzgruppe gegründet, hundert Jahre nachdem Missionare ihnen das untersagt hatten.

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