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Hirnforschung Kluge Köpfe knobeln langsamer

Illustration eines Virtuellen Gehirns. Sogenannte Knoten simulieren Schaltkreise, die bei Denkprozessen verschiedene Aufgaben übernehmen
Illustration eines Virtuellen Gehirns. Sogenannte Knoten simulieren Schaltkreise, die bei Denkprozessen verschiedene Aufgaben übernehmen
© Copyright BIH / Petra Ritter
Geschwindigkeit ist nicht alles: Intelligente Menschen brauchen länger, um Antwort auf kniffelige Fragen zu geben. Dafür liegen sie häufiger richtig. Der Grund dafür verbirgt sich offenbar in der Zusammenarbeit ihrer Hirnareale 

Schlaue Menschen werden häufig als „fix im Kopf“ bezeichnet: Sie begreifen Konzepte schnell, stellen sofort die entscheidenden Fragen, sehen als Erste Lösungen für komplexe Probleme.

Umso überraschender, dass ein Forschungsteam des Berlin Institute of Health der Charité nun Situationen ausgemacht hat, in denen die Hirne kluger Menschen langsamer arbeiten. Gemessen wurde etwa die benötigte Zeit, um zunehmend anspruchsvolle Muster zu erkennen und fortzuführen. Wer zuvor bei Tests zum IQ und der geistigen Leistungsfähigkeit überdurchschnittlich gut abgeschnitten hatte, löste zwar simple Aufgaben besonders zackig, brauchte jedoch für komplizierte Aufgaben länger als weniger clevere Proband*innen. Immerhin zahlte sich die Verzögerung aus: Das längere Nachdenken resultierte häufiger in richtigen Antworten.

Als Grund für die zusätzliche Bedenkzeit machte das Forschungsteam eine bessere Abstimmung zwischen verschiedenen Gehirnarealen aus. In unserem Kopf sprechen rund 100 Milliarden Neuronen miteinander, indem sie elektrische Impulse abfeuern, weiterleiten, hemmen. Dabei verarbeiten verschiedene Bereiche und Schaltkreise aus Nervenzellen unterschiedliche Informationen. Gerade bei komplizierten Denkaufgaben müssen ihre Ergebnisse wieder zusammengeführt werden, um die bestmögliche Antwort zu finden.

Übereifrige Schaltkreise führen in die Irre

Doch das gelingt nur, wenn die für die Entscheidungsfindung zuständigen Schaltkreise nicht vorpreschen, noch bevor alle nötigen Daten vorliegen. „Bei komplizierteren Aufgaben muss man Dinge im Arbeitsgedächtnis behalten, während man weitere Lösungen sucht, und diese dann miteinander in Einklang bringt“, erklärt Michael Schirner, Neurowissenschaftler und federführender Autor der Studie, die Ende Mai im Fachjournal „Nature Communications“ erschien. „Dieses Sammeln von Beweisen für eine bestimmte Lösung dauert manchmal länger, führt dann aber auch zu besseren Ergebnissen.“ Das Gegenteil ist der Fall, wenn die Hirnareale schlecht aufeinander abgestimmt sind. „Eine geringere Synchronität führte dazu, dass die Schaltkreise für die Entscheidungsfindung schnell zu voreiligen Schlüssen kamen“, schreiben die Forschenden.

Das Besondere an der Studie: Um die zugrunde liegenden Mechanismen im Hirn zu verstehen, schaute das Team keinen Menschen beim Denken zu. Vielmehr erschuf es 650 virtuelle Hirne und glichen deren Verhalten mit den Testergebnissen ihrer realen Vorbilder ab. Als Grundlage der Hirn-Avatare diente ein Modell, das die Brain Simulation Section der Berliner Charité entwickelt hat. Es vereint unzählige Messdaten aus bildgebenden Verfahren mit mathematischen Modellen, die den Signalaustausch zwischen den Nervenzellen nachstellen. Dieses virtuelle Durchschnittsgehirn lässt sich personalisieren. In diesem Fall geschah das 650-mal - mit Daten von 650 Personen, deren Denkorgane im Rahmen des Human Connectome Project detailliert untersucht und auf kognitive Leistungsfähigkeit getestet worden waren.

Entscheidungsfindung: Ein Wettlauf der Nervenzellen

Bei jedem Avatar wurde zuerst nachgestellt, wie gut die Hirnareale seines menschlichen Vorbilds untereinander verknüpft waren. Diese Verknüpfung erfolgt über Fasern der Weißen Substanz. Sie dienen als schnelle Leitungsbahnen für Informationen und sorgen unter anderem dafür, dass entfernte Hirnregionen gemeinsam und zeitgleich an einer Aufgabe arbeiten können.

Anschließend begann das virtuelle Hirn zu arbeiten. "Das Netzwerk besteht aus zwei Teilen: einer groben und einer feinen Ebene", erklärt Michael Schirner. "In dem groben Teil simulieren wir das gesamte Gehirn, unterteilt in knapp 400 Regionen. An eine Auswahl dieser Regionen, die primär an der Entscheidungsfindung beteiligt sind, koppeln wir feinere Modelle. Aufgaben und Denkprozesse werden dabei in einer Form eingespeist, die unserem biophysikalischen Verständnis des Gehirns entspricht: als synaptische Eingangsströme."

Manche Nervengruppen regen den Signalaustausch dabei an, andere hemmen ihn. In welchem Maße, das können die Forschenden einstellen. "Es entsteht eine Art Wettlauf, bei dem Nervengruppen um die Vorherrschaft konkurrieren", sagt Schirner. Setzt sich eine bestimmte Nervengruppe durch, ist die Entscheidung gefallen - ein realer Versuchsteilnehmer würde im Test nun vermutlich eine Lösungsmöglichkeit auswählen.

Gut verknüpfte Hirne treffen bedachte Entscheidungen

„Unsere virtuellen Avatare spiegeln die Leistungsfähigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit der biologischen Pendants wider", sagt Petra Ritter, Leiterin der Sektion Gehirnsimulation an der Charité. Die Simulationen ergab: Je besser die Hirnareale untereinander verknüpft und synchronisiert waren, desto geduldiger sammelte das Modell Informationen im Arbeitsgedächtnis, bevor es eine Entscheidung traf.

Eine zu starke Gleichschaltung des Hirns sei allerdings auch von Nachteil, warnt Schirner. Ein Extremfall davon ist der Tiefschlaf: "Dann wird keinerlei Information verarbeitet." Am besten läuft es, wenn man flexibel wechseln kann, je nachdem, wie die Situation es erfordert: Mal pi mal Daumen schnelle, simple Entscheidungen treffen, mal geduldig über kniffligen Fragen brüten.

Ziel der Simulationen ist nicht nur, die Denkprozesse gesunder Menschen zu erkunden: Die virtuellen Hirne sollen die Forschung vor allem bei der zielgerichteten Behandlung neurologischer Erkrankungen voranbringen. Außerdem könnten Systeme, die sich an der mehrschichtigen Arbeitsweise des Hirns orientieren, der Schlüssel zu einer besseren künstlichen Intelligenz sein.

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