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Demenzforschung Gammawellen könnten Alzheimer-Ablagerungen entfernen

Silhouette eines Kopfes mit Gehirn und Hirnwellen
Die akustische und optische Stimulation mit Gamawellen soll Nervenzellen in Schwingung versetzen und eine Reinigung des Gehirns von schädlichen Ablagerungen in Gang bringen. Im Mausmodell funktioniert das bereits
© slowgogo / Getty Images
Die Stimulierung mit akustischen und optischen Signalen im Gamma-Frequenzbereich kann Studien zufolge eine Hirnreinigung anregen und typische Alzheimer-Proteine entfernen. Zumindest bei Mäusen. Nun wird geprüft, ob das Verfahren die Krankheit bei Menschen bremsen kann

 

Es klingt fast zu einfach, um wahr zu sein: Eine Stunde täglich einen knatternden Kopfhörer mit Flackerlicht-Spezialbrille aufsetzen, um Alzheimer vorzubeugen. Doch genau so ein Durchbruch könnte kurz bevorstehen.

Etliche klinische Studien prüfen gerade, ob eine optische und akustische Stimulation im Frequenzbereich von Gammawellen eine Alzheimer-Demenz verzögern, bessern oder gar verhindern kann. Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Stimulierung mit 40 Hertz (Hz) – also 40 Impulsen pro Sekunde – im Gehirn eine Art Gewebereinigung anregt und es von schädlichen Stoffwechselprodukten befreit.

Studien an Mäusen liefern "faszinierende Einblicke"

Bei dieser Reinigung so behaupten manche Forschende, könnten auch jene Ablagerungen aus dem Gehirn entfernen werden, die als Ursache von Alzheimer gelten. Was dabei genau passiert, berichtete kürzlich ein US-Forschungsteam im Fachblatt "Nature" nach Versuchen an Mäusen. Grob gesagt sorgen die Gammawellen dafür, dass im Gehirn zwischen den Nervenzellen vermehrt Flüssigkeit zirkuliert und alzheimertypische Proteinklumpen ausschwemmt. Von "faszinierenden Einblicken" spricht der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie, Lars Timmermann. "Diese Studien eröffnen neue Einsichten", so der Leiter der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Marburg weiter.

Ob die Aktivierung von Hirnzellen im Gamma-Frequenzbereich aber tatsächlich therapeutisches Potenzial für Menschen hat, ist noch offen. Klar ist: Eine wirksame Vorbeugung wäre für den Anbieter extrem profitabel. "Das Thema ist extrem attraktiv", sagt Wolf Singer, langjähriger Direktor am Frankfurter Max-Planck-Institut für Hirnforschung und maßgeblich an der Entdeckung von Gammawellen beteiligt. "Die ganze Welt spricht über Alzheimer." Bislang hat der Wettlauf um ein sicheres und effektives Heilmittel aber kaum nennenswerte Resultate hervorgebracht.

Bisherige Medikamente zeigen nur moderaten Nutzen und bergen Risiken

Allein in Deutschland betrifft diese häufigste Demenzform etwa eine Million Menschen, Tendenz steigend. Zwar ist ihre Ursache bislang nicht genau geklärt. Der Hauptverdacht richtet sich aber gegen das Proteinfragment Beta-Amyloid, das sich im Gehirn zwischen Nervenzellen ansammelt. 

In den USA kam vor gut einem Jahr der Antikörper Lecanemab auf den Markt, der diese Beta-Amyloid-Plaques entfernen soll und Studien zufolge im frühen Stadium das Fortschreiten der Krankheit moderat bremst. Er könnte bald auch in der EU zugelassen werden. Lecanemab geht jedoch mit beträchtlichen Nebenwirkungen wie Hirnödemen und Mikroblutungen einher.

Die Hirnstimulation setzt natürliche Reinigungsmechanismen in Gang

Möglicherweise könnte auch die Stimulierung mit Gammawellen Beta-Amyloid entfernen – aber auf andere Weise. Die Sinnesreize versetzen Nervenzellen vermutlich im Gammawellen-Bereich in Schwingung und starten so den Reinigungsprozess. Timmermann sieht eine Parallele zu kognitiven Prozessen: "Bei bestimmten Hirnaktivitäten sehen wir Aktivität von Neuronenverbänden im Bereich von 40 Hz", sagt er und verweist zum Beispiel auf das Lernen von Sprache, das Erkennen von Bildern oder Entscheidungsprozesse.

Was bei der 40-Hz-Stimulierung im Gehirn passiert, beschreibt das Team um Li-Huei Tsai vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) im Fachblatt "Nature". Die Hirnforscherin hat das Unternehmen Cognito Therapeutics mitgegründet, das derzeit in diversen Studien prüft, ob die synchronisierte opto-akustische Stimulierung mittels des eigens entwickelten Headsets "Spectris" Menschen mit leichten bis moderaten Alzheimer-Symptomen helfen kann.

Hirnspülung durch glymphatisches System

In "Nature" schreibt das Team, bei speziellen genetisch veränderten "Alzheimer-Mäusen" steigere die opto-akustische Stimulierung bei 40 Hz die neuronale Aktivität und senke gleichzeitig die Konzentrationen von Beta-Amyloid im Gehirn. Verantwortlich dafür sei das sogenannte glymphatische System: Der recht neue Begriff ist eine Wortkombination aus dem lymphatischen System – das ausschließlich außerhalb des Gehirns Gewebe reinigt – und Gliazellen, die an der Reinigung im Gehirn maßgeblich beteiligt sein sollen.

Querschnittaufnahme eines Mäusegehirns
Eine helle Färbung hebt Strukturen im Querschnitt eines Mäusegehirns hervor, die vermutlich an Reinigungsprozessen beteiligt sind und durch Gammawellen angeregt werden sollen
© Tsai Laboratory/MIT Picower Institute / dpa

Der Studie zufolge sorgt die Stimulierung dafür, dass im Gehirn der Mäuse besonders viel Flüssigkeit durch das Gewebe zirkuliert. Dieses Nervenwasser transportiere das Beta-Amyloid zwischen den Zellen aus dem Gehirn. "Die Zellverbände werden besser durchspült, und der Abfall zwischen den Zellen wird entfernt", erläutert der Neurologe Timmermann, der nicht an der Arbeit beteiligt war. "Das ist faszinierend."

Außerhalb des Gehirns maß das Team bei jenen Lymphgefäßen, die die Hirnflüssigkeit ableiten, einen erhöhten Durchmesser, was für einen verstärkten Abtransport spricht. Und nicht zuletzt: Die angrenzenden Lymphknoten der Mäuse enthielten vermehrt Beta-Amyloid. 

"Der Hippocampus ist das Nadelöhr für Gedächtnisprozesse"

So faszinierend diese Vorgänge bei Mäusen sind: Ob sie beim Menschen das Fortschreiten der Alzheimer-Krankheit aufhalten oder verzögern, bleibt abzuwarten. So ist etwa der Frankfurter Experte Singer "verhalten skeptisch". Letztlich hänge ein Erfolg der Therapie davon ab, dass die Gammawellen nicht nur die sensorischen Areale im Gehirn erreichen. "Mit der Kombination aus optischen und akustischen Reizen will man möglichst viele Hirnregionen in diesen Rhythmus zwingen", sagt Singer. 

Das mag für den Cortex im vorderen Hirnbereich funktionieren, ein wichtiges Ziel sei jedoch ein tiefer gelegenes Areal, das maßgeblich für das Gedächtnis zuständig ist: der Hippocampus. "Der Hippocampus ist das Nadelöhr für Gedächtnisprozesse", sagt Thomas Gasser vom Uniklinikum Tübingen. "Ob die Gammawellen auch dieses Hirnareal erreichen, ist fraglich."

Die Stimulation müsste schon Jahre vor den ersten Symptomen angewendet werden

Und selbst wenn die Stimulierung das schaffen sollte, gibt es noch ein weiteres Problem: Den ersten Symptomen der Alzheimer-Krankheit geht ein jahre- bis jahrzehntelanger schleichender Prozess voraus, bei dem Nervenzellen in einer Kettenreaktion absterben. "Man müsste das schon frühzeitig machen, um diese Kaskade aufzuhalten", sagt Gasser. "Je früher, desto besser."

Derzeit prüft ein gutes Dutzend Studien das Potenzial des Ansatzes an Menschen – noch gibt es dazu keine Ergebnisse. Die meisten Untersuchungen sollen im Laufe des Jahres 2025 enden, dann folgt die Auswertung. "Wir brauchen Beobachtungszeiträume von mindestens zwei, besser fünf bis zehn Jahren, um sagen zu können, ob es einen therapeutischen Effekt gibt oder nicht", sagt Timmermann. "Es wird noch ein ganzes Jahrzehnt brauchen, bis wir sicher wissen, ob und welche Form von Intervention hilfreich sein könnte und welche nicht."

Immerhin: Die Gammawellen-Behandlung gilt Studien zufolge als sicher. "Wir gehen davon aus, dass diese Stimulierung das gesunde Gehirn nicht schädigt", sagt Timmermann. Dagegen sind Antikörper wie Lecanemab nicht nur sehr teuer, sondern auch teils mit gravierenden Nebenwirkungen verbunden. Im Vergleich dazu erscheint das Aufsetzen von Kopfhörer und Spezialbrille zu Hause für täglich eine Stunde eher schonend – falls es denn etwas nützt.

Ansatz auch gegen Parkinson und Multiple Sklerose?

Wie umtriebig Tsais Labor schon jetzt ist, zeigt eine weitere Studie an Mäusen im Fachjournal "Science Translational Medicine", diesmal zu Krebstherapien. Dort berichtet eine Gruppe um die Forscherin, dass die 40-Hz-Stimulierung die Nebenwirkungen einer Chemotherapie – in diesem Fall mit Cisplatin – aufs Gehirn bessert. Demnach verringerten die Gammawellen Entzündungsreaktionen und DNA-Schäden an Zellen, auch in Gedächtnistests schnitten die Tiere besser ab als in einer Vergleichsgruppe.

Auch gegen Parkinson und Multiple Sklerose will Tsai den Nutzen der Gammawellen-Stimulation prüfen. "In Bezug auf eine klinische Anwendung konzentriert sich mein Labor zurzeit hauptsächlich auf Alzheimer", erläutert sie. "Aber hoffentlich können wir diesen Ansatz auch für einige andere Anwendungen testen." 

Walter Willems, dpa

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