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Ein Leben für die Tiere Frau Sezgin, wie ist es, auf dem Weg zur Tierklinik einen Schlachttransport zu überholen?

Das Leben mit alternden Schafen beschreibt Hilal Sezgin in ihrem aktuellen Buch "Vom fordernden und beglückenden Leben mit Tieren", erschienen im Knesebeck Verlag
Das Leben mit alternden Schafen beschreibt Hilal Sezgin in ihrem aktuellen Buch "Vom fordernden und beglückenden Leben mit Tieren", erschienen im Knesebeck Verlag
© Dmitrij Leltschuk/Knesebeck Verlag
Die Philosophin und Autorin Hilal Sezgin kümmert sich auf ihrem Lebenshof um Tiere, die es gar nicht geben dürfte: alternde Schafe. Wir sprachen mit ihr über "Nutztiere", Freiheit und die Sorge für Mitgeschöpfe, die nicht sagen können, was sie wollen

GEO: Frau Sezgin, während andere einen ganz normalen Bürojob machen und zur Erholung in den Urlaub fahren, kümmern Sie sich neben Ihrer eigentlichen Arbeit, dem Schreiben, praktisch jeden Tag um 17 betagte Schafe – und um andere Tiere. Wie sind Sie eigentlich dazu gekommen?

Hilal Sezgin: Ursprünglich bin ich mal aufs Land gezogen, um Bücher vor einer schönen Kulisse zu schreiben. Ich wollte Natur und schöne Landschaft. Dann habe ich eine Schafherde übernommen, die zwischenzeitlich auf 55 Tiere anwuchs. Außerdem habe ich viele Jahre Legehennen aufgenommen, Gänse, Kaninchen und Katzen. Jemand musste sich um die Tiere kümmern, und als Veganerin habe ich mich moralisch in der Pflicht gesehen. Das hat dann so eine Eigendynamik bekommen. Inzwischen bin ich mir gar nicht mehr so sicher, was mein "eigentlicher" Job ist. Das hat sich in letzter Zeit mehrfach verschoben – eben, weil die Schafe mittlerweile alt und pflegebedürftig sind.

Bei so genannten Nutztieren ist das normale Altern und Sterben nicht vorgesehen. Welche Herausforderungen bringt das mit sich?

Der Satz, den ich von Tierärzt*innen am häufigsten höre, wenn Blutwerte von meinen Tieren aus dem Labor kommen, ist: "So was hab ich ja noch nie gesehen!" Neulich sagte mir einer: "Ich wusste gar nicht, dass Schafe so alt werden können". Wenn man sich um die Tiere gut kümmert und ihnen den Raum gibt, dann werden sie natürlich viel älter als in den üblichen Ställen. Man braucht dann Spezialärzte für alles Mögliche, zum Beispiel für die Zähne. Von Pferden wussten wir das schon, aber auch bei alten Schafen muss man die Zähne machen lassen. Zwei Schafe habe ich am Auge operieren lassen. Die können nämlich den Grauen Star bekommen, wie wir Menschen auch. So eine OP wurde bei Schafen bislang offenbar noch nie gemacht.

Das Verrückte ist, dass Schafe laut Gesetz der Lebensmittelgewinnung dienen. Aus diesem Grund können zum Beispiel bestimmte Medikamente nicht angewendet werden. Das Tier könnte ja später gegessen werden, und das könnte wiederum negative Folgen für die menschliche Gesundheit haben. Man braucht also Ausnahmegenehmigungen. Was vollkommen absurd ist, denn wenn man ein 16 Jahre altes Schaf am Auge operieren lässt, macht man das ja nicht, um es später zu essen.

Sie schreiben oft humorvoll über tierische Schrullen und die Tücken des Alltags auf einem Lebenshof. Was ist es, das das Leben mit Tieren beglückend macht, wie der Buchtitel ankündigt?

Im Zusammenhang mit den Operationen, zum Beispiel den Augen-OPs bei den Schafen, musste ich mich vorher und hinterher viel kümmern. Ich musste Augentropfen geben, es bedeutete zusätzlichen Stress und Zeitaufwand. Aber dadurch entstand auch eine Nähe und Vertrautheit. Es entstanden Abläufe und Routinen, die Mensch und Tier gemeinsam entwickelten: Hier ein Tropfen Medizin, da ein Stückchen Knäckebrot. Irgendwann hat eines der Schafe, das wirklich sehr verängstigt war, seinen Kopf auf meinen Schoß gelegt. Wir saßen da und waren einfach Lebewesen, die in diesem Moment nicht perfekt, aber ganz zufrieden waren.

Oder diese Behaglichkeit, wenn die Schafe an einem schönen Tag auf die Weide kommen und sich später zum Wiederkäuen in den Schatten der Bäume legen. Das kann man ja auch als Mensch gut nachvollziehen. Die Vertrautheit und das Mitvollziehen über ein nicht-verbales Verstehen: Das ist sehr schön.

Als Philosophin denken Sie über das Verhältnis von Menschen und anderen Tieren nach. Hat das Zusammenleben und die Verantwortung für die Tiere Ihren Blick auf das Thema verändert?

Ja, vollkommen. Zum einen, weil ich mich immer mehr dafür interessiert habe, wie sogenannte Nutztiere leben, wie sie gehalten werden. Ich habe mich in Landwirtschaftsthemen reingefuchst, Zeitschriften abonniert und gelesen, wie die Dinge normalerweise gemacht werden. Nebenbei bemerkt: Es ist immer schauderhaft. Eigentlich bräuchte es gar keine Enthüllungsdokumentationen, denn schon die normale Praxis ist schlimm genug, ausbeuterisch und rein instrumentell.

Zum anderen bin ich auf eine Vielzahl moralischer Konflikte gestoßen. Ich musste mich zum Beispiel häufiger mit dem Thema Euthanasie befassen. Ich musste mich fragen: Was würde dieses Tier wollen? Natürlich kann das Tier sich nicht äußern. Es weiß auch nicht, was eine OP ist, oder was Antibiotika sind. Ich muss also rekonstruieren, was das Tier wollen würde. Da kommen viele Aspekte ins Spiel: das momentane Wohlergehen, aber auch die Frage, was es vom Leben noch erwarten kann, wie lang die Etappe der Schmerzen ist.

Einer Ihrer früheren Buchtitel lautete "Artgerecht ist nur die Freiheit". Aber ist das Freiheit, wenn Sie für Ihre Tiere entscheiden?

Gemeint war der Titel so: Ein "artgerechtes" Leben, von dem im Zusammenhang mit der Tierproduktion oft die Rede ist, gibt es in ökonomischen Zusammenhängen nie und nimmer. Freiheit dagegen hat viele Aspekte. Wenn ich ein Tier zwinge, eine Spritze über sich ergehen zu lassen, schränke ich seine Freiheit in diesem Moment natürlich ein. Aber dafür bekommt das Tier die Freiheit, später wieder ohne Schmerzen über die Wiese zu schreiten, sein Leben zu leben. Auch das ist ja Freiheit. Manchmal muss man ein bisschen Autonomie aufgeben, um mehr davon zu bekommen. Das gilt natürlich auch für Menschen. Wir haben teilweise ein sehr verkürztes Verständnis von Freiheit. Gemeint ist damit nicht, beliebig schnell über die Autobahn zu brettern.

Sie beschreiben in Ihrem Buch die Situation, dass Sie mit einem Schaf auf dem Weg in die Tierklinik an einem Transporter mit Schweinen auf dem Weg in den Schlachthof vorbeifahren. Wie gehen Sie mit dieser Unverhältnismäßigkeit um?

Die Menschen töten allein in Deutschland rund eine Milliarde Landwirbeltiere jedes Jahr. Demgegenüber ist das, was jede/r Einzelne tun kann, verschwindend wenig. Wenn man das gegeneinander aufrechnete, käme man zu dem Ergebnis: Es ist sinnlos. Aber das ist es eben nicht. Jedes Leben zählt! Das ist bei Menschen so und bei anderen Tieren auch. Gerade weil Tiere in der Tierindustrie nur als Ziffern auftauchen, etwa als Kilogramm Schlachtgewicht, müssen wir dieser ausbeuterischen Logik unsere Logik umso offensiver entgegensetzen. Lebenshöfe sind eine Praxis, die diese Ethik demonstriert und verkörpert. Wir wollen damit etwas sagen.

Nur wenige Menschen haben die Kraft und die Überzeugung, Tiere so wertschätzend zu behandeln wie Sie. Was wünschen Sie sich?

Die wichtigste Botschaft der Tierrechtsbewegung ist: Wenn wir Tiere wie Hunde und Katzen achten und lieben – man muss Tiere übrigens nicht lieben; es reicht schon, sie zu achten –, dann folgt daraus, dass wir sie nicht einsperren, sie nicht ihrer Familie berauben und töten dürfen. Ich denke, da ist gerade ein starker Bewusstseinswandel im Gange. Niemand sagt zum Beispiel: "Ich versuche, so viele Schweine wie möglich zu töten." Das sagen nicht mal Schlachter. Dagegen sagen immer mehr Menschen: "Ich esse nur ganz wenig Fleisch".

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