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Geschichte Südosteuropas Expansion der Unfassbaren: Wie die Slawen auf den Balkan kamen

Fantasievoll übersteigerte Darstellung des jährlichen Erntefestes, bei dem die Slawen ihren Göttern huldigten
Mythischer Reigen: Die Gemeinschaften der Slawen huldigten eigenen Gottheiten. Solchen Wesen widmete sich um 1920 auch der Maler Alfons Mucha in seinem Bilderzyklus über die slawische Geschichte
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Im 6. Jahrhundert tauchten mysteriöse Gruppen an der Nordflanke der Großmacht Byzanz auf, die einander in Sprache und Lebensstil ähnelten. Bald siedelten diese Bauern und Räuber überall auf dem Balkan. Unter der Bezeichnung "Slawen" haben sie die Region stark beeinflusst
Von Frederik Seeler

Die Invasion beginnt im Sommer 578. Hunderte Frachtschiffe aus Byzanz gleiten über die Donau, zwischen dem heutigen Bulgarien und Rumänien. Die Segel stehen im Wind, byzantinische Matrosen steuern auf das Nordufer zu. An Bord transportieren sie eine ungewöhnliche Armee. Die Männer haben ihr Haar zu Zöpfen geflochten, die Hälse mit Wolle und Filz umwickelt und Kettenhemden übergezogen. Es sind Awaren, Reiterkrieger, die ursprünglich aus den Steppen Asiens nach Europa gezogen sind. Und sie haben ihre Pferde dabei. Die Tiere stehen dicht an dicht nebeneinander an Bord der Schiffe, die Brust mit Eisenplatten gepanzert, an den Flanken hängen Steigbügel. Weder Reiter noch Pferde sind Fahrten zu Wasser gewöhnt.

Byzanz, eines der mächtigsten Reiche seiner Zeit, hat die Steppenkrieger angeheuert, um einen jahrzehntealten Konflikt zu lösen. Ein Chronist schreibt später von 60 000 Awaren und wohl ebenso vielen Schlachtrössern, die mithilfe der byzantinischen Flotte 578 über die Donau setzen. Auf der anderen Seite des Flusses wartet ein gemeinsamer Feind: die Slawen – zumindest glauben die Invasoren das.

Unzählige kleine Dörfer bewohnt diese Völkerschaft am Nordufer des Stroms und in der Walachei, dem weiten Gebiet dahinter. Nur aus ein paar Dutzend Blockhütten, halb in der Erde vergraben, bestehen die Siedlungen, an deren Rändern Schafe und Rinder weiden, Schweine im Erdreich wühlen; auf den Feldern steht der Roggen, prall und fast erntereif. Doch niemand ist hier, um das ländliche Idyll zu verteidigen. Die Bewohner der Dörfer, die slawischen Familien und Krieger, haben den Aufmarsch des übermächtigen Gegners offenbar bemerkt und sich in die Wälder der Region zurückgezogen, dorthin, wo ihnen die schweren Panzerreiter der Awaren nicht folgen können.

Gleich zwei Großmächte rüsten zum Kampf 

Als die Angreifer das Ufer erreichen, haben sie nur verwaistes Land vor sich. Sie ziehen am Fluss entlang, fallen in die Weiler ein, verwüsten Felder, rauben Vieh, setzen Hütten in Brand. Aber den Feind bekommen sie nicht zu fassen. Geduldig verbergen sich die Geflüchteten, bis die Fremden wieder verschwinden. Sie lassen die gewaltige Invasion zweier Großmächte, von Byzantinern und Awaren, einfach ins Leere laufen. Die Slawen sind schwer zu greifen.

Das gilt für spätere Historikerinnen und Historiker, die ihre Geschichte ergründen wollen und mitunter nur schlecht zu deutende Quellen und Überbleibsel vorfinden. Aber es gilt nach allem, was man rekonstruieren kann, auch für die Mächte ihrer Zeit: Die Slawen führen zwar ein erdverbundenes bäuerliches Leben, aber sie können ihre Siedlungen in kürzester Zeit verlegen. Sie haben keine Städte, in denen man sie aufsuchen, keine Regierung, an die man sich wenden könnte, kein Reich, kaum große Anführer. Sie sind in unzählige Gruppen zersplittert, verfolgen unterschiedliche Interessen. Sie sind durchaus kriegerisch, aber wenn sie zu den Waffen greifen, schlagen sie schnell zu und verschwinden ebenso schnell wieder. Sie strahlen keinen weithin sichtbaren kulturellen Glanz aus.

Und doch: Die Slawen werden den Balkan prägen wie nur wenige Völkerschaften. Mit der Kraft der Einfachheit, der Anpassungsfähigkeit, mit kultureller Offenheit. Und, wie 578 an der Donau, manchmal auch mit dem Gespür, wann es sich lohnt zu kämpfen – und wann nicht.

Die Slawen erscheinen in einer Krisenzeit

Im 6. Jahrhundert ist Südosteuropa eine unruhige, gebeutelte Gegend. Seit zwei Jahrhunderte zuvor der Ansturm der Hunnen aus den Steppen Asiens weitere Züge von Heeres- und Stammesverbänden durch ganz Europa ausgelöst hat, ist der Balkan nicht zur Ruhe gekommen. In den Wirren dieser so genannten Völkerwanderung kollabierte der Westen Roms. Im Osten hält sich das Imperium zwar weiterhin, doch dessen Herrschaft über die Balkanprovinzen südlich der Donau, verheert durch Tod und Zerstörung, bleibt schwierig.

Das Oströmische Reich, das Historiker später auch Byzanz nennen, wird von Konstantinopel aus regiert. Seit 527 herrscht Kaiser Justinian I. über ein Gebiet, das zeitweise von Mesopotamien bis nach Spanien reicht. Dessen nördliche Außengrenze auf dem Balkan verläuft größtenteils entlang der Donau. Genau von dort gelangen im Verlauf des Jahrhunderts immer wieder Nachrichten von Überfällen in die Hauptstadt, die byzantinische Chronisten einem zuvor unbekannten Volksstamm zuschreiben. Dessen Angehörige nennen sich selbst manchmal slovenewas möglicherweise "die Sprechenden" bedeutet. Die Byzantiner benutzen bald davon abgeleitete Bezeichnungen wie sklaboi oder sklavenoi.

Doch wahrscheinlich gibt es diese "Slawen" damals so gar nicht, existiert zumindest keine einheitliche Gemeinschaft mit diesem Namen, der sich Menschen zugehörig fühlen. Wie bei vielen anderen vermeintlichen Völkern jener Zeit, entstehen diese Großgruppen erst nach und nach, sind auch dann erstaunlich lose geknüpft und ständigem Wandel unterworfen. Was die "Slawen" Genannten aber wohl verbindet, sind eine verwandte Sprache sowie Ähnlichkeiten im Lebensstil.

Sie kennen weder Schrift noch König

Mit einfachen Werkzeugen beackern diese Menschen die schwarze, fruchtbare Erde im heutigen Rumänien und Moldawien nördlich der Donau. Sie bauen Roggen, Weizen, Hafer und Gerste an. In den Flüssen fangen sie Fische, sammeln in den Wäldern Beeren. Bis zu 60 Menschen leben in kleinen Dörfern zusammen, in ihren Blockhütten kochen und heizen sie mit einem Ofen in der Ecke, genießen ihre Mahlzeiten aus meist unverziertem getöpfertem Geschirr.

Die Slawen glauben an einen Donnergott, so berichten es Chronisten, verehren Nymphen und Flussgottheiten. Sie kennen keine Schrift und auch keine zentrale Gewalt, einen König etwa oder eine adelige Elite haben sie nicht. Wichtige Entscheidungen treffen die männlichen Dorfbewohner in Versammlungen. Ab und zu schließen sich Krieger für einige Monate hinter Anführern zusammen und machen sich auf die Suche nach Beute, entweder bei verfeindeten slawischen Dörfern oder bei ihren Nachbarn südlich der Donau, den Byzantinern.

Nachtszene in der Urheimat der Slawen. Zwei Bäuerinnen kauern vor einem Haufen Stroh. Über ihnen thront ein heidnischer Priester
Landleute: Das einfache Leben der Slawen als Bauern – auf diesem Bild von Alfons Mucha durch Stroh und Sichel symbolisiert – erweist sich in Krisenzeiten immer wieder als besonders widerstandsfähig
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Fast jedes Jahr überqueren slawische Krieger um die Mitte des 6. Jahrhunderts so den Fluss, wahrscheinlich in kleinen Ruderbooten. Ein zeitgenössischer Autor berichtet, dass die Männer teilweise mit nacktem Oberkörper ohne Rüstung kämpfen. Sie tragen Holzschilde und Wurfspeere, verschießen wohl auch vergiftete Pfeile. Die Mauern der byzantinischen Städte können die Krieger nicht überwinden, dafür fallen sie in Dörfer ein, nehmen mit, was sie finden, verschleppen Menschen und setzen zurück über die Donau, bevor die Truppen des Imperiums anrücken.

Für die Byzantiner sind diese Attacken keine existenzielle Gefahr – sie stören aber die Herrschaft des Reiches auf dem Balkan empfindlich. Und trotz zahlreicher neuer Befestigungsanlagen und Garnisonen lassen sich die Überfälle nur schwerlich einhegen. Bei anderen barbarischen Gruppen würde sich Byzanz den Frieden mit Goldzahlungen erkaufen oder versuchen, die Unruhestifter als Hilfstruppen anzuwerben. Bei den Slawen aber entscheidet fast jedes Dorf selbst über Krieg und Frieden. Die Byzantiner wissen nicht, mit wem sie verhandeln sollen. Dann jedoch zeichnet sich eine andere Lösung ab.

Der Aufstieg der Reiterkrieger

Um 560 drängt eine neue Macht auf den Balkan. Von den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres zieht ein gewaltiger Verband von Reiterkriegern heran: die Awaren. Hinter dem gemeinsamen Namen verbirgt sich ebenfalls eine vielfältige Truppe, doch ist dieser Name an einigen Herrscherhöfen Europas bereits bekannt und gefürchtet: Wohl als erste Völkerschaft verwenden die Awaren Steigbügel. Die Fußstütze aus Eisen ermöglicht es ihnen, sich schnell in den Sattel zu schwingen, zudem können sie dank der Steigbügel im Ritt mit ihren Bögen Pfeile verschießen. Sie reiten in geschlossenen Formationen, halten dabei ihre Lanzen an Lederriemen fest und preschen so in tödlichem Sturm in die Reihen des Gegners.

Unter ihrem Anführer, dem Khagan Baian, fallen die Awaren zunächst in die Ungarische Tiefebene ein. Doch die Reiter beanspruchen bald auch die Region nördlich der Donau – das Siedlungsgebiet der Slawen, die als Fußkämpfer den Berittenen wenig entgegenzusetzen haben.

Einige Dörfer unterwerfen sich daher schnell und zahlen Tribut an die Invasoren. Doch die Slawen, die weiter flussabwärts leben, fühlen sich offenbar sicherer. Einer ihrer wenigen bekannten Anführer namens Daurentius weigert sich offen, die Herrschaft von Baian anzuerkennen, vielleicht auch, weil zwischen ihm und dem Hauptquartier der Awaren die bis zu 2600 Meter hohen Karpaten sowie dichte Buchen- und Eichenwälder liegen. Für die awarischen Panzerreiter ein schwer zu bewältigendes Hindernis.

Eine Bluttat mit Folgen

577 geht Daurentius wohl sogar so weit, eine Delegation awarischer Unterhändler zu ermorden. Ein Fehler. Denn nun will nicht nur Byzanz die räuberischen Slawen an der unteren Donau loswerden. Auch die Awaren sind auf Rache aus.

Kurz darauf nimmt der byzantinische Kaiser Tiberios, seit 574 an der Macht, Kontakt mit dem Khagan Baian auf. Unterhändler reisen an den Hof des Awarenherrschers wohl im heutigen Ungarn oder in Nordserbien: Inmitten einer Ansammlung aus runden Jurten, Pferdegattern und Holzwagen empfängt der Khagan die Gesandtschaft, so lassen es Berichte über ähnliche Ereignisse vermuten, in einem Zelt aus Seide, sitzt auf einem goldenen Thron, umgeben von Silberschmuck und einem mit Gold geschmückten Sattel.

Und die Botschafter aus Byzanz versprechen weitere Reichtümer – mindestens 80 000 Goldmünzen pro Jahr sollen die Awaren erhalten, wenn sie für die Byzantiner an der Grenze für Ordnung sorgen. Baian willigt ein.

Daraufhin beauftragt Kaiser Tiberios einen seiner Kommandeure auf dem Balkan, mit Frachtschiffen die Donau hinaufzusegeln und die Awaren im heutigen Serbien an Bord zu nehmen. Ob es wirklich 60 000 Krieger sind, wie der byzantinische Chronist Menander schreibt, ist fraglich. Es muss jedenfalls eine enorme Streitmacht sein – und eine ebenso große logistische Herausforderung.

Die Krieger setzen zunächst von der Nordseite ans Südufer über. Denn dort ist der Weg entlang des Ufers Richtung Schwarzes Meer für sie leichter zu bewältigen, zudem befinden sie sich hier auf dem Gebiet des Reiches. Mit einer byzantinischen Eskorte gelangt die Armee bis ins heutige Bulgarien. Im Spätsommer 578 setzen die Awaren dann das zweite Mal über den Strom: Der Angriff auf die Slawen beginnt.

Nachdem die Attackierten aus ihrem Versteck in den Wäldern zurückgekehrt sind, finden sie vielfach nur noch rauchende Ruinen vor. Sie haben den Angriff überlebt, aber die Heftigkeit, mit der die Gegner vorgegangen sind, schüchtert viele Siedler dennoch ein. Fast überall in der Region akzeptieren in den folgenden Wochen und Monaten slawische Gruppen die awarische Oberhoheit.

Gemeinsam gegen den Kaiser

Und es dauert nicht lange, bis sich daraus vielerorts eine gedeihliche Zusammenarbeit entwickelt. Der Khagan sichert den slawischen Bauern seinen Schutz zu; im Gegenzug versorgen diese die Reiterkrieger mit Getreide und Fleisch. Einige slawische Krieger heuern nun auch im Heer des Khagans an und zeichnen sich schnell als robuste Fußsoldaten und als Spezialisten für Hinterhalte aus.

Der Khagan braucht eine schlagkräftige Truppe, denn als Anführer eines Steppenverbands muss er traditionell immer wieder für Beute sorgen, um sich die Loyalität seiner Gefolgsleute zu erhalten – er muss kämpfen. Und da die Slawen nun größtenteils unter seiner Herrschaft stehen, wagt sich Baian an einen stärkeren Gegner, an den mächtigsten überhaupt – seinen vormaligen Auftraggeber Byzanz.

Bereits im Jahr 579 führt der Khagan seine Truppen erneut an die Donau im heutigen Serbien. An der Grenze des Byzantinischen Reichs liegt die Festungsstadt Sirmium, ein strategisch wichtiger Außenposten Ostroms. Baian befiehlt seinen Reitern, den Ort zu umzingeln.

Der Angriff trifft die Byzantiner unvorbereitet. Kaiser Tiberios kämpft gerade 1000 Kilometer weiter östlich gegen die Perser. Dennoch gibt er die Order, Sirmium zu halten. Für die Eingeschlossenen beginnt schon bald der Hunger. "Christus, Herr", ritzt ein Verzweifelter in einen Ziegel, "hilf der Stadt und wehre die Awaren ab, und schütze den, der dies geschrieben hat. Amen." Drei Jahre dauert die Belagerung an, dann muss die Stadt kapitulieren.

Byzanz verliert die Kontrolle

Baian lässt die Garnison zwar unbehelligt nach Konstantinopel abziehen. Er ist nicht mehr daran interessiert, zu plündern, sondern versucht mit der Stadt als Pfand wohl seine Verhandlungsposition zu stärken, um noch höhere Goldzahlungen aus Konstantinopel zu erzielen.

Doch die Zeiten für Verständigung sind bald darauf endgültig vorbei: Der Sohn des plötzlich verstorbenen Baian will sich als Erbe militärisch beweisen und dringt mit einer Streitmacht aus awarischen Kriegern und den neuen slawischen Infanteristen weit auf byzantinisches Gebiet vor. Kurz verliert die alte Großmacht die Kontrolle auf dem Balkan, schlägt dann aber umso härter zurück. Persönlich führt der neue, überaus energische Kaiser Maurikios im Jahr 592 eine Armee Richtung Donau, nachdem er zuvor mit Persien Frieden geschlossen hat. Jenseits der Donau richten die Soldaten ein Blutbad an, sie fallen in Dörfer ein, massakrieren Hunderte, vielleicht Tausende Kämpfer und ihre Familien.

Noch ein weiteres Mal geht es hin und her: Auf einen Vorstoß der Awaren folgt eine blutige Antwort der Byzantiner. Im Jahr 602 jedoch wächst sich eine Meuterei unter erschöpften oströmischen Soldaten zu einem Aufstand aus. Die Rebellen nehmen Kaiser Maurikios gefangen und enthaupten ihn. Phokas, der Anführer der Aufständischen, wird neuer Herrscher. Es ist das Ende der byzantinischen Offensive auf dem Balkan – und der entscheidende Impuls für eine bemerkenswerte Expansion.

Im Vordergrund: ein junger Mann mit Ring in der Hand. Im Hintergrund: Missionare vor einem slawischen Herrscher
Vielfalt: Der Ring, den dieser Jüngling in seiner Hand hält, soll die Einheit unter den Slawen versinnbildlichen. Historisch aber gibt es lange kein gemeinsames Bewusstsein der Völkerschaft (Darstellung der Christianisierung)
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Seit den 580er Jahren, vielleicht auch schon früher, hatten sich offenbar kleinere slawische Gruppen Richtung Süden aufgemacht. Teils, um wie gehabt auf Raubzügen Kostbarkeiten zu ergattern, immer häufiger aber auch, um in den byzantinischen Provinzen des Balkans neue Siedlungen zu errichten. Viele Regionen weiter im Süden lagen durch die jahrelangen Feldzüge entvölkert da, fruchtbares Land war unbestellt. Im Schatten der Konflikte zwischen den Awaren und Byzanz begaben sich diese Slawen so auf hoffnungsvolle Trecks, mit Familien, Vieh, Werkzeug.

Als nun Phokas 602 die Macht übernimmt, sich in einen weiteren Krieg mit Persien verstrickt und sich notgedrungen weitgehend vom Balkan zurückzieht, nehmen diese Wanderungen beträchtlich zu, entsteht Siedlung um Siedlung.

Bis an die Adriaküste sind bald slawische Dörfer zu finden, in den heutigen Staaten Bulgarien und Serbien ebenso wie etwa in Nordmazedonien und Griechenland. Die Fremden kommen nicht als Eroberer. Sanft sickern sie in die neuen Gebiete ein, können ihre Landwirtschaft an die veränderten Bedingungen anpassen. Auch in ihrem Lebensstil sind sie offen für Neues, übernehmen zum Teil byzantinische Moden oder Umgangsformen.

Ihre Lebensweise findet rasch Nachahmer 

Weil diese Menschen immer noch in kleinen, untereinander selten verbundenen Gemeinschaften leben, weil es weiterhin bei ihnen kaum Eliten und Anführer gibt, passen sie sich auch politisch meist problemlos ein.

Einfluss üben die slawischen Siedler dennoch aus. Ihre einfache, robuste, ländliche Lebensweise erweist sich in den noch immer unruhigen Zeiten als besonders krisenfest und dadurch attraktiv. Einheimische Bauern, vielerorts sicherlich froh, die byzantinische Oberherrschaft mit ihren strikten Hierarchien und Steuern los zu sein, schließen sich ihnen an oder lassen sich von ihnen inspirieren. Zusammenarbeit auf den Feldern, Nachbarschaft, manchmal auch Verschmelzung von ganzen Clans, schlagen sich in der Sprache nieder. Bald schon nutzen etwa griechische Byzantiner und Slawen die gleichen Wörter für Sense, Pflug und Fischernetz.

Die Oberschichten von Byzanz betrachten die Entwicklung zum Teil mit Argwohn, beklagen Kulturverfall. Tatsächlich ist Vorsicht durchaus begründet, denn noch einmal stehen Slawen in einer Koalition, angeführt von Awaren und Persern, 626 vor den Toren Konstantinopels. Ein gewaltiger Angriff, der dennoch erneut an den riesigen Verteidigungsanlagen der Stadt scheitert. Die Awaren ziehen sich anschließend dauerhaft hinter die Donau zurück. Nach einem energischen Vorstoß der Franken um 800 hört der Staat der Khagane auf zu existieren. Das wohl größte Vermächtnis, das sie hinterlassen: der Steigbügel. Die Byzantiner sind so beeindruckt von der Erfindung, dass sie Kopien für die eigene Kavallerie anfertigen lassen. Bald werden sie zum Standard bei berittenen Einheiten in ganz Europa.

Der Einfluss der Slawen aber ist weit größer – und ihre Kraft dauert an. Nicht als große politische Macht, sondern als eher unscheinbare Träger eines kulturellen Modells. Und wie sich zeigt, ist dieses Modell der vielen kleinen bäuerlichen Gemeinschaften, die wachsen, sich mit der Bevölkerung der Umgebung verbinden, ihre Nachbarn beeinflussen und selbst beeinflusst werden, weitaus zäher und langlebiger als etwa die nach der Völkerwanderung entstandenen Reiche der Langobarden oder Goten im Westen, oder eben auch das Fürstentum der Awaren im Osten. Große Teile des Balkans jedenfalls sind bald slawisch geprägt, die Sprachfamilie der Slawen verbreitet sich über weite Gebiete Osteuropas, slawische Siedlungen finden sich auch in Italien und Österreich, in Oberfranken und Holstein.

Sieben Balkanvölker berufen sich auf die Slawen

Dass diese Menschen je ein gemeinsames Bewusstsein, eine übergreifende Identität entwickeln, ist unwahrscheinlich. Irgendwann werden auf dem Balkan Untergruppen erkennbar – Serben, Kroaten, Bulgaren etwa –, die sich um Fürsten scharen, erste Königtümer gründen, nachdem sie von den Byzantinern lernen konnten, wie ein Staat funktioniert, eine zentrale Herrschaft mit Adel, Militär und Steuern.

Sehr viel später, im 19. Jahrhundert, werden die Slawen zum Politikum. Mit einem verzerrten Blick auf die Vergangenheit, auf ein idealisiertes, freiheitsliebendes Urvolk, versuchen national gesinnte Denker auf dem zersplitterten Balkan eine Einheit zu stiften, die Unabhängigkeitsbewegung gegenüber der Fremdherrschaft Österreich- Ungarns, Preußens oder des Osmanischen Reiches zu befeuern. Tatsächlich ist die Prägung durch die frühen Slawen – außer bei der Sprache – in modernen Zeiten äußerst indirekt, durch die Jahrhunderte, durch unzählige Herrschaften und Kulturen verändert und gefiltert.

Trotzdem dient die Völkerschaft noch heute dazu, Identität zu schaffen. Allein auf dem Balkan sind es sieben Nationen, die sich auf die frühen Slawen als ihre Urahnen berufen. Sie schmücken sich mit der Erzählung, von zähen Bauern und geschickten Räubern abzustammen, die sich vor mehr als 1000 Jahren gegen gleich zwei Großmächte durchgesetzt haben.

Dabei war alles viel komplizierter. Und ist noch immer schwer zu fassen.

Erschienen in GEO EPOCHE Nr. 122 (2023)

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