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Studie Frühester Fund in Europa: Schon Neandertaler nutzten komplexen Klebstoff

Der aus Bitumen und Ocker zusammengemischte Klebstoff war klebrig genug, um ein Werkzeug darin festzukleben – aber fest genug, dass die Finger nicht schmutzig werden
Der aus Bitumen und Ocker zusammengemischte Klebstoff war klebrig genug, um ein Werkzeug darin festzukleben – aber fest genug, dass die Finger nicht schmutzig werden
© Patrick Schmidt/Uni Tübingen/dpa
Bei der Untersuchung alter Sammlungsbestände eines Berliner Museums stießen Forschende auf eine kleine Sensation: An prähistorischen Steinwerkzeugen entdeckten sie Reste eines komplexen Klebstoffs, der vermutlich von Neandertalern hergestellt wurde. Sie werten den Fund als Beleg für höhere intellektuelle Fähigkeiten

Als der Schweizer Archäologe Otto Hauser 1907 in einem Felsüberhang im französischen Le Moustier Steinwerkzeuge entdeckt, ahnt er nicht, dass er etwas in den Händen hält, was einmal als Beleg für die kulturelle Entwicklung und die kognitiven Fähigkeiten des frühen Menschen gelten wird. Auch sonst kann niemand etwas Besonderes finden an den ausgegrabenen Werkzeugen an dem prähistorischen Fundplatz, der einst von Neandertalern besiedelt wurde. Mehr als ein Jahrhundert lang bleiben die Werkzeuge deshalb unbeachtet und fristen seit den 1960er-Jahren einzeln verpackt und völlig unberührt ihr Dasein in der Sammlung des Museums für Vor- und Frühgeschichte in Berlin. Bis dort kürzlich die Sammlungsbestände überprüft und aufgearbeitet werden – und auf den unscheinbaren Steinwerkzeugen aus Le Moustier nicht weniger als der älteste komplexe Klebstoff Europas entdeckt wird.

Wie Forschende des Museums und der Universitäten Tübingen, Straßburg und New York in einer im Fachmagazin "Science Advances" veröffentlichten Studie zeigen, nutzten frühe Menschen bereits vor mehr als 40.000 Jahren einen Klebstoff, der aus einer Mischung aus Bitumen – einem Kohlenwasserstoffgemisch – und dem Erdpigment Ocker bestand. Laut der Studie handelt es sich um den bislang ältesten Fund eines Mehrkomponentenklebers in Europa. Er wurde zur Modellierung der Griffe an steinernen Schneid- oder Schabwerkzeugen genutzt: An mehreren Klingen und Schabern konnten Reste von Ocker und Bitumen nachgewiesen werden.

Um den Klebstoff aus mehreren Komponenten herstellen zu können, bedurfte es einer gezielten Planung: Die beiden Rohstoffe für den Klebstoff mussten an weit voneinander entfernten Orten gesammelt und anschließend im richtigen Verhältnis gemischt werden, um als Griff für ein Werkzeug verwendet werden zu können. Dem flüssigen Bitumen, das natürlich im Boden vorkommt, aber auch aus Erdöl hergestellt werden kann und beispielsweise Bestandteil von Asphalt ist, mussten genau 55 Prozent Ocker beigemischt werden. Dann war die Mischung klebrig genug, um ein Steinwerkzeug darin festzuhalten – und gleichzeitig so fest, dass die Hände sauber blieben.

Kognitive Prozesse entsprechen der Denkweise bei heutigen industriellen Prozessen

"Solche technologischen Entwicklungen und das Verständnis für Materialeigenschaften wurden auch als erster Ausdruck umfassender kognitiver Prozesse der Menschen betrachtet, die unserer heutigen Denkweise bei industriellen Prozessen entsprechen", sagt Patrick Schmidt aus der Abteilung für Ältere Urgeschichte und Quart��rökologie der Universität Tübingen in einer Mitteilung.   

Flüssiges Bitumen und Ocker müssen in einem ganz bestimmten Verhältnis gemischt werden, damit sich die klebrige Masse als Griff von Steinwerkzeugen modellieren lässt 
Flüssiges Bitumen und Ocker müssen in einem ganz bestimmten Verhältnis gemischt werden, damit sich die klebrige Masse als Griff von Steinwerkzeugen modellieren lässt 
© Patrick Schmidt/Uni Tübingen/dpa

Eine solche Verwendung von Klebstoffen aus verschiedenen Komponenten war bisher vom frühen Homo sapiens aus Afrika bekannt – der frühe moderne Mensch mischte klebrige Baumharze mit Ocker. Bei dem nun untersuchten Klebematerial aus Le Moustier gehen die Forschenden jedoch aufgrund des Fundortes davon aus, dass hier Neandertaler am Werk waren. "Was unsere Studie zeigt ist, dass sich beim frühen Homo sapiens in Afrika und den Neandertalern in Europa ähnliche Denkmuster widerspiegeln", sagt Schmidt. "Ihre verschiedenen Klebstofftechnologien haben die gleiche Bedeutung für unser Verständnis von der Menschwerdung."

ftk

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