Wahlkampf in London: Das ist die Zeit des gehässigen Klatsches, der Pamphlete voller Lügen, der verleumderischen Predigten. Eine Zeit, in der Bestechungsgelder so üppig fließen wie das Freibier. Eine Zeit von Chaos und Manipulation. Und zugleich eine Zeit leidenschaftlicher Debatten, in der selbst Fuhrleute und Schuhputzer den Gang der Staatsgeschäfte kommentieren. In der jeder schreiben darf, was er will – sodass täglich eine Flut an Publikationen über die 500 000 Einwohner Londons niedergeht. In England, vor allem aber in seiner Kapitale tobt Anfang 1701 eine Schlacht um die öffentliche Meinung, wie sie damals wohl einzigartig ist auf der Welt.
In den gut 500 Kaffeehäusern der Hauptstadt drängen sich die Menschen: Schon in gewöhnlichen Zeiten diskutieren die Londoner hier lebhaft über Politik – besonders aber jetzt, da König Wilhelm III. eine Neuwahl des Parlaments anberaumt hat. Überall liegen Zeitungen auf den Tischen, aus denen die Besucher einander laut vorlesen. Sie fuchteln mit ihren langen Pfeifen und streiten um Fragen, über die die künftigen Abgeordneten beraten werden – etwa ob England wieder in einen Krieg gegen das katholische Frankreich ziehen soll.
Noch lieber aber greifen die Gäste zu den Flugblättern, die Ungeheuerliches über das Privatleben der Kandidaten berichten. Bei jeder Wahl klingen die Vorwürfe ähnlich: Einer soll ein Sodomit sein, der nächste ein Atheist oder, schlimmer noch, ein Katholik. Über einen weiteren heißt es, er sei verbrecherisch wie ein Straßenräuber und lebe "von nichts als Täuschen und Betrügen".
Tories und Whigs: Kampf um Wählerstimmen
Es sind die zwei ersten Vorläufer moderner Parteien, die in diesem Winter um Wählerstimmen kämpfen: die Tories und die Whigs. Gerade einmal 20 Jahre alt sind sie – hervorgegangen aus locker organisierten Gruppen von Abgeordneten, die im Parlament über die Thronfolge stritten.