Sie können Schweizer Gipfel erklimmen, auf Almen und Hütten die Bergwelt bestaunen, sich berauschen lassen von Kuhglockengeläut, Alphornklängen und Kräuterschnaps – Reihenfolge variabel. All das mag die Seele gegen die Widrigkeiten des Alltags imprägnieren. Doch nichts, wirklich gar nichts entfaltet größere Meditationskraft als das Beobachten warmer, fließender Schokolade in einer Conche. In diesem Reibe- und Rührwerk kreist sie Runde für Runde, Stunde um Stunde ihrem Zartschmelz, ihrer Cremigkeit entgegen. Fließt und dreht. Lässt Bitterkeit schwinden. Entfaltet ihre Aromen. "Wir machen keine Süßigkeit, wir machen Schokolade“, sagt Kay Keusen, taucht ein hölzernes Probierstäbchen in die matt glänzende Masse und lässt kosten. Crème de la Crème!
Keusen ist Chef einer Schokoladenmanufaktur in Adliswil bei Zürich. Sie heißt "Taucherli“, was dank des schwyzerdütschen Wortende-i natürlich wahnsinnig sympathisch klingt. Erst recht eingedenk der Tatsache, dass Taucherli übersetzt Blässhuhn bedeutet. Das sind schwarz befiederte Wasservögel mit vornehmer Blässe, die ganzjährig den Zürichsee bepaddeln und, genau, darin abzutauchen vermögen. Ausgerechnet ihnen also beschert die Manufaktur eine im Reich der Rallen seltene, doch beachtliche Karriere im Schweizer Schoggi-Business: Stilisierte Blässhühner prangen auf Tafeln der Sorten Raps, Gold, Chili und Co; rund 4000 Stück gießt Keusens Team jeden Tag. Manche Sorte wurde von den Feinschmeckern der "Academy of Chocolate“, dem Branchen-Oscar, bereits mit Bronze, Silber, Gold prämiert. Und doch, sagt Keusen, der Quereinsteiger-Chocolatier: "Wir sind weder Hochglanz, noch Hipster.“ Als Teil der Bean-to-Bar-Szene aber ist er nebst gutem Geschmack bedacht auf Nachhaltigkeit und Fair Trade – konsequent von der Bohne bis zur Tafel. Viele Kleinbauern in Afrika und Lateinamerika kennt Keusen persönlich, und auch den Kakao-Transport versucht der Schweizer so umweltverträglich wie möglich zu gestalten, manchmal sogar mit Segelschiffen. Kein Wunder also, dass er sein Bohnenbekenntnis stets bei sich trägt: Keusens rechten Unterarm ziert das Tattoo einer Kakaofrucht im Querschnitt, den linken eine zur Hälfte ausgepackte Schokoladentafel. Schoggi-Liebe, die unter die Haut geht!
Schoggi-Pilgertour
Die Schweiz ist Schokoladenland, produziert gut 200 000 Tonnen im Jahr – Pralinen, Tafeln, Riegel, Pulver und allerlei Feingeschmackliches mehr. Dabei liegt Helvetia über 5200 Kilometer vom Äquator und damit von jenem Gürtel entfernt, in dem die temperatursensiblen, geradezu divenhaften Kakaobäume verlässlich Früchte tragen. Warum also zählt Schokolade neben Käse, Uhren, Taschenmessern zum Viergestirn der Schweiz-Klassiker?
Die Antwort auf diese Frage führt 200 Jahre in die Vergangenheit, nach Vevey am Nordostufer des Genfer Sees. Heutzutage leben rund 20 000 Einwohner an der "Schweizer Riviera“ – nicht eingerechnet der Schwanenpopulation, die im Spotlight der Abendsonne jeden See-Schnappschuss veredelt. Tatsächlich genoss schon Charlie Chaplin diese Aussicht auf Wasser, Berge, Sonnenuntergänge. Denn der Schauspieler und Filmemacher verbrachte sein letztes Lebensviertel am Genfer See, sogar ein wenig mehr, und verharrt an dessen Uferpromenade noch heute, als Bronzestatue. Für Schokoladenpilger allerdings spielen zwei andere Söhne der Stadt eine weitaus wichtigere Rolle: François-Louis Cailler und Daniel Peter, die Pioniere des guten Geschmacks.
Die Milch macht’s
Sicher, zu ihren Lebzeiten war Schokolade kein kulinarisches Novum mehr: Den tiefdunklen Getränke-Import aus Mittelamerika – anregend in der Wirkung, herb im Geschmack – schlürften Aristokraten in Europa seit dem 16., 17. Jahrhundert. Verführerisch süß war Schokolade damals nicht. Cailler aber hatte in Norditalien die Kunst der Zuckerbäcker und Cioccolatieri erlernt. Also tüftelte er, zurück in Vevey, an Produktionsmaschinen. Cailler eröffnete 1819 ein Handelsunternehmen für Kakao und Schokolade und kurz darauf, in einer Mühle am Fluss Veveyse, die erste mechanisierte Schokoladenmanufaktur der Schweiz. Bis Ende des 19. Jahrhunderts kamen etliche hinzu, allein sieben in Vevey. Und als es, nach allerlei Rühren, Mixen, Verwerfen, Caillers Schwiegersohn Daniel Peter gelang, Kakao und Zucker mit Kondensmilch zu vermengen, war es da: das Schweizer Milchschokoladen-Momentum! Ausgerechnet neben dem alten Schriftzug einer Zahnklinik erinnert in der Veveyer Rue des Bosquets Nummer 14 eine schlichte Fassadentafel an Peters Kreationsleistung von 1875.
Kein Stress für Schokolade
Die Luft ist warm und schwer und süß, als sich die Türen des Besucherzentrums "Maison Cailler“ öffnen. Rund 400 000 Menschen flanieren im Jahr durch die pompösen Ausstellungsräume des Unternehmens in Broc, rund 30 Autominuten von Vevey entfernt. Caillers Enkel hat es einst hierher, in den Kanton Freiburg, verlegt – tierisch motiviert. Denn auf den sattgrünen Wiesen, die sich um Broc wie überdimensionierte Teppiche an die Berghänge schmiegen, grasen jene Greyerzerländer Kühe, die die Milch zur Schokolade liefern: rund 1800 Bellas, Fionas und Biancas (um an dieser Stelle einmal die Top drei der eidgenössischen Kuhnamen erwähnt zu haben).
Cailler gilt als einziger Schweizer Betrieb, der Kondensmilch, nicht Milchpulver in die Schokolade rührt. Sinnessensible sollen diese besondere Note sogar riechen können, lehrt der Sensorikpfad des Museums. Wer im Atelier einen Trüffel-Workshop belegt, lernt vom Chocolatier obendrein: "Schokolade mag keinen Stress.“ Weder beim Verzehr, noch weniger in der Herstellung, wie der Selbstversuch beweist.
Also alles mit der Ruhe am Herd: Schokolade bröckeln, Sahne erwärmen. Rühren, rühren, rühren. Butter hinzufügen und einen Schuss Orangenlikör. Die Masse wohl temperieren. Weiterrühren. Und die Ganache – so der Fachterminus für die Sahnecreme – lauwarm in die hohlen Trüffelformen füllen, bis zum Rand. Selbst unter Zuhilfenahme eines Spritzbeutels ist das ein Geduldsspiel mit bisweilen erstaunlich niedriger Trefferquote. Aber Schokolade mag eben keinen Stress, schon klar. Nach einem kurzen Cooldown folgt das händische Eincremen der Kugeln mit Flüssigschokolade, bevor die Pralinen diverse Rollen vor wie rückwärts durch Schüsselchen mit Staubzucker, Streuseln, Salzkaramellkrokant und gerösteten Kakao-Nibs nehmen. Voilà, les truffes sont prêtes, die Trüffel sind fertig.
Große Rührung
Ein Gaumengenuss, der auf der Zunge zergeht! Was im Übrigen auch keine Selbstverständlichkeit ist, sondern gleichfalls das Ergebnis Schweizer Schokoladenschöpferkraft. "Versuchen Sie“, sagt die Gästebetreuerin von „Lindt Home of Chocolate“, der Superlativ-Erlebniswelt des Marktführers im Zürcher Vorort Kilchberg, und reicht Probiertäfelchen nach alter Rezeptur herum. Die Schokolade krümelt, sie schmilzt nicht. Zuckerkristalle knirschen zwischen den Zähnen. "So sandig schmeckte Schokolade lange Zeit.“ Also bevor Rodolphe Lindt im Jahr 1879 die Conche erfand. Ob er in seiner Manufaktur in Bern eines Tages schlicht vergaß, das Mischwerk abzuschalten, oder die Granitwalzen der Maschine aus experimentellen Gründen länger laufen ließ, ist nicht bekannt. Nach 72 Stunden Dauerrührung jedoch fand Lindt ein buchstäblich glänzendes Ergebnis vor: eine cremige, fließende Masse, die sich leicht gießen und zu Tafeln formen ließ. Das Geheimnis des Schokoladenschmelzes – eine Geschmacksrevolution!
Übrigens, mit 11,3 Kilogramm pro Kopf und Jahr liegen die Schweizer auch in Sachen Schokoladenkonsum europaweit vorn. Ein Spitzenwert, der nach 200 Jahren Schokoladensozialisation und einer langen Liste süßer Verführer kaum verwundert. Selbst der Schweizer Astronaut Claude Nicollier packte für seine Ausflüge ins All stets Schweizer Schokolade in die Raumfähren, für überirdischen Genuss. Sein Geburtsort, nebenbei bemerkt: Vevey am Genfer See.
Adressen der Schoggi-Pilgerstätten
Lindt Home of Chocolate
Alles im Fluss: In der hellen, geradezu sakralen Eingangshalle des Schokomuseums von Lindt in Zürich steht ein 9,3 Meter hoher Schokobrunnen – Weltrekord! 1,5 Tonnen (nicht naschbare) Schoggi strömen von seiner Schneebesenspitze in die XXL-Pralinenkugel am Boden – und machen Appetit auf die multimediale Tour durchs Museum, Tastings inklusive. Mehr Infos hier.
Camille Bloch
Hier ist Schokolade Familienangelegenheit: Schon in dritter Generation, seit 1929, produziert Camille Bloch Köstliches aus Kakao. In der Erlebniswelt in Courtelary im Berner Jura reisen Besuchende in die Vergangenheit oder lösen beim Escape Game Rätsel rund um die "Goldene Haselnuss“. Genuss beim Guss bescheren Workshops in den Ateliers: Es wird selbst "getafelt“! Mehr Infos hier.
Maison Cailler
Wer auf der Anfahrt nach Broc die vielen Greyerzerländer Kühe sieht, kann aufatmen: Genügend Milch für Schokolade kommt sicher zusammen! Auch für Schnabuliernachschub ist im interaktiven Museum
Maison Cailler gesorgt. Für Confiseure auf Zeit gibt’s diverse Truffes- und Pralinen- Workshops. Mehr Infos hier.
Schoggihüsli
Pralinen, Tafeln oder Branches, die Schweizer Schokoriegel- Klassiker, eignen sich hervorragend, um überschüssigen Platz im Koffer zu tilgen. Feines "Füllmaterial“ gibt’s etwa im Schoggihüsli, dem Fabrikladen des Herstellers Chocolats Halba in Pratteln bei Basel. Mehr Infos hier.
Taucherli
"Wir produzieren natürlich“, sagt Manufaktur-Chef Kay Keusen. Und serviert mit Sorten wie Raps und Ruby-Pink in Adliswil ein Feuerwerk für die Geschmacksknospen. Tatsächlich versucht Taucherli, rundherum auf Nachhaltigkeit und Fair Trade zu setzen, bei den Kakaobauern, aber auch bei den Seeleuten, die die Bohnen transportieren. Werksbesuch nur nach Anmeldung. Mehr Infos hier.
Bar am Wasser
Wohlsein, hoch die Cocktailgläser – auf den immergrünen Kakaobaum! Dieser trägt die bis zu 500 Gramm schweren Früchte, aus denen in Handarbeit die Samen gewonnen und zu Kakaobohnen verarbeitet werden, die Grundlage einer jeden (dunklen) Schokolade. Völlig unterschätzt: die weiße Pulpe, also das Fruchtfleisch der Früchte. Dabei lassen sich daraus edle Tropfen pressen, die geschmacklich an Litschi erinnern und auch Dessert, Dressing, Drinks verfeinern. Die stylishe Bar am Wasser in Zürich war eine der ersten, die einen Cocktail mit Kakaosaft auf die (wechselnde) Getränkekarte setzte. Mehr Infos hier.
Pascal Bechle im Hotel Helvetia
Der Spitzenkoch serviert im Restaurant des gleichnamigen Zürcher Hotels reichlich exquisite Schokokost. Sein Credo: Eine Schokoladen-Mousse ist eine Schokoladen-Muss. Mehr Infos hier.
Alimentarium
Auch im interaktiven Museum der Ernährung in Vevey dreht sich alles nur ums Essen. Klar sind darin einige Vitrinen den Schweizer Schokoladenpionieren gewidmet. Das Alimentarium liegt übrigens am Ufer des Genfer Sees – direkt gegenüber der Gabelskulptur des Künstlers Jean-Pierre Zaugg. Mehr Infos hier.
Schoggi-Stadtführung Vevey
Vevey am Genfer See gilt als Milchschokoladenmekka der Schweiz Das liegt natürlich daran, dass ….ach, hören und sehen Sie selbst, auf einer Themenführung durch die Stadt. Mehr Infos hier.
Appetit auf mehr? Weitere Besucherzentren und Produktionsstätten, die besichtigt werden können, listet der Verband Schweizer Schokoladenfabrikanten hier.