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Surrealismus Leseprobe: Salvador Dalí

Er ist der erste Superstar der Kunstszene: Wie kein Maler zuvor inszeniert sich Salvador Dalí selbst, schockiert und amüsiert das Publikum mit gewagten Werken und immer skurrileren Auftritten. So macht sich der Katalane zu einer weltberühmten Marke - doch da haben die Pariser Surrealisten das erfolgreichste Mitglied ihrer Gruppe bereits verstoßen

Es soll der perfekte Mord werden. Ein Vernichtungsschlag, der die Pariser haute société traumatisiert und das christliche Abendland in seinen Grundfesten erschüttert. Die Skrupellosigkeit dieses Verbrechens werde niemand vergessen, hofft der Täter. Er will Geschichte schreiben, Kunstgeschichte. Sein Opfer: der gute Geschmack. Das Motiv: Lust am Skandal und Ärger über die in seinen Augen blutleere Abstraktion in den Museen und Galerien.

Salvador Dalí ist erst vor Kurzem aus der spanischen Provinz nach Paris gekommen und regt sich auf über die "manischen Rechteckchen des Herrn Mondrian", des niederländischen Malers strenger Geometrien. Der Spanier will, wie er später schreibt, dem ganzen "pseudo-intellektuellen Nachkriegsavantgardismus" einen "Dolch ins Herz" rammen.

Mit seinem Studienfreund Luis Buñuel sucht der knapp 25-jährige Dalí im Februar 1929 nach dem schlimmstmöglichen Bild, um das Bürgertum zu schockieren.

Gemeinsam schreiben sie das Drehbuch für einen bewusst anarchischen Film mit dem Titel "Ein andalusischer Hund". Sie steigern sich in einen Rausch absurder Einfälle: Was könnte der Hauptdarsteller in einer Szene als Waffe nehmen – eine Flasche Brandy, eine Kröte, einen schweren Sessel? Alles zu konventionell.

Schließlich einigen sie sich auf die Eingangssequenz: Ein Mann schleift, an einem Fenster stehend, ein Rasiermesser, dann betrachtet er eine Wolke, die am Vollmond vorbeizieht. Schließlich öffnet er das Lid einer Frau: um ihr Auge zu durchtrennen. Die folgende Nahaufnahme zeigt tatsächlich einen Messerschnitt; wer ihn sieht, senkt unwillkürlich den Blick – und nimmt kaum wahr, dass die Klinge ein Kuhauge zerteilt hat.

Ein zerstörtes Auge: Das muss für die Pariser Kunstliebhaber noch grausamer sein als ein Dolch im Herz.

Möglicherweise hat Sigmund Freud die beiden zu der Szene inspiriert: Der berühmte Psychoanalytiker sieht im verletzten Auge eine kindliche Urangst des Menschen.

Dalí und Buñuel jedoch werden später behaupten, sie hätten alle Horrorbilder des Films in freier Assoziation aus den Tiefen ihrer Seelen geborgen: all die verwesenden Eselkadaver in den Konzertflügeln; die Ameisen, die aus einer Wunde in der Handfläche herauskriechen; das Achselhaar, das einem Mann statt des Mundes wächst.

Die zwei Freunde freuen sich auf den Schrecken, den ihr Film am 1. Oktober 1929 bei der ersten großen öffentlichen Vorführung in Paris auslösen wird.

"Dieser Film ist ein Aufruf zum Mord", heißt es auf dem Ankündigungsplakat. Buñuel steckt sich Steine in die Tasche, er rechnet mit einer Saalschlacht.

Doch die Zuschauer randalieren nicht – sie klatschen. Für sie ist der "Andalusische Hund" nur ein ästhetischer Schock von vielen. Sie haben schon den Kubismus überlebt, der Raumgefühl und Proportionen durcheinanderwirbelte. Sie wissen um die Dada-Bewegung, die Zeitungsschnipsel auf die Leinwand brachte und Offiziersfiguren mit Schweinsköpfen unter die Decke hängte. Und sie kennen Marcel Duchamp, der 1914 in einem Warenhaus einen Flaschentrockner kaufte und zur Kunst erklärte.

Das zerstörte Kuhauge ist in dieser Abfolge von Schocks nichts anderes als der neueste Schrei. Und ein voller Erfolg.

Dalí ist enttäuscht. "Dieses Publikum hat nichts verstanden", beschwert er sich in einem Zeitungsartikel. Es werde in dem Film brutal attackiert, seine Moral untergraben – und bemerke dies nicht einmal.

Ein Mann aber sieht sofort, welches Talent sich im "Andalusischen Hund" offenbart. André Breton, der Anführer der Surrealisten, erkennt in dem Film seine eigene Methode des assoziativen Schaffens wieder.

Die von ihm 1924 ausgerufene Bewegung will ja die Menschen von der Herrschaft des Verstandes befreien, will mithilfe der Kunst und Literatur das Unbewusste offenlegen und die Abgründe der Seele erkunden. Mit Freuden nimmt Breton Dalí – der Malerei studiert hat – in seinen elitären Kreis auf.

Zuvor war er sich da nicht ganz sicher gewesen. Denn anfangs wurde er nicht so recht schlau aus diesem Spanier mit dem dünnen Bärtchen, den dessen Landsmann, der Maler Joan Miró, sechs Monate zuvor eines Abends mit in Bretons Stammlokal an der Place Blanche gebracht hatte.

Mit Mirós verspielter Abstraktion haben Dalís Arbeiten nichts zu tun, er liebt die menschliche Figur, bewundert die alten Meister für deren naturgetreue Malweise und bemüht sich um eine genaue Wiedergabe der Welt, wie er sie sich vorstellt.

Wenn Dalí spricht, was er gern tut, flattern seine Lider, und er wedelt wie ein Junge mit den Armen. Manchmal schweigt er auch lange, dann wieder schütteln ihn Lachanfälle. Trotz seiner Schüchternheit scheint er jeden Auftritt zu genießen.

Der Spanier ist anders als die anderen, er wird sich nicht begnügen mit Bretons Technik des automatischen Schreibens und Zeichnens, die Verdrängtes zutage fördern soll. Dieser Mann ist ein Selbstdarsteller, der Breton den Platz im Rampenlicht streitig machen könnte.

Bereits jetzt ist Dalí ein erfolgreicher Maler, die Pariser Kunstkreise beeindruckt er mit seinem Scharfsinn und seiner Redegewandtheit. Doch der junge Künstler ist auch voller Schwächen und Ängste. Statt sie zu verbergen, kokettiert er mit ihnen. Etwa als er in einem Hotelzimmer ein Muttermal für eine Zecke hält und blutüberströmt zu Boden sinkt, nachdem er das vermeintliche Insekt herauszuschneiden versuchte – ob diese Geschichte freilich stimmt, weiß man nicht, doch wird Dalí sie noch Jahre später mit Vergnügen erzählen.

Oder seine U-Bahn-Phobie: Wie viel Angst er hat, durch den Untergrund zu rasen. Schließlich nimmt ihn ein Freund mit in die Metro und lässt ihn unten allein – eine verhaltenstherapeutische Maßnahme, die jedoch keine Wirkung zeigt (zwar erinnert Dalí sich in seiner 1942 erschienenen Autobiografie an das triumphale Gefühl, das ihn überkam, als er ohne Hilfe zum Aufgang fand, erklärt jedoch auch, diese Erfahrung nie wiederholt zu haben).

Der Katalane gibt sich seinen Komplexen und Ängsten nicht passiv-leidend hin. Vielmehr schmückt er sie aus und benutzt sie: als Material fürs Malen und Schreiben. 1929 ist für ihn Ende und Neuanfang: In diesem Jahr entfernt er sich von seiner Familie in Spanien und beginnt mit dem Pariser Filmerfolg eine internationale Künstlerkarriere. Er – und nicht Breton – wird in aller Welt zur Symbolfigur der surrealistischen Bewegung aufsteigen.

Doch zuvor muss er sich dem größten Trauma seiner Kindheit stellen.

Denn Dalí ist ein Sohn zweiter Wahl.

Den vollständigen Text können Sie in der neuen Ausgabe von GEOEPOCHE Edition "Surrealismus" nachlesen.

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GEO EPOCHE EDITION Nr. 8 - 05/13 - Surrealismus: Aufstand gegen die Vernunft

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