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Russische Revolution 100 Jahre Aufstand von Kronstadt: Das blutige Ende der Matrosen-Rebellion

Kriegsschiff Petropavlovsk
Am 2. März 1921 wagen die Matrosen von Kronstadt den Aufstand. Sie verfügen über die Schlachtschiffe »Sewastopol« und »Petropawlowsk« sowie zahlreiche schwere Geschütze
© imago images/ITAR-TASS
Die Matrosen der Marinebasis Kronstadt, die 1917 hart für die Revolution gekämpft haben, fühlen sich betrogen: An die Stelle der versprochenen Demokratie haben die Bolschewiki die Diktatur ihrer Partei gesetzt. Aufgewühlt von Arbeiterstreiks im nahebei gelegenen Petrograd, revoltieren die Soldaten im März 1921 gegen Lenins Regime

La Révolution est comme Saturne: elle dévore ses propres enfants. Die Erkenntnis, dass die Revolution gleich dem antiken Gott Saturn ihre eigenen Kinder frisst, kommt dem französischen Revolutionär Pierre Vergniaud im Oktober 1793 – als er seinen Kopf unter die Guillotine legen muss.

Nie werden Vergniauds letzte Worte so brutal deutlich bestätigt wie in der Russischen Revolution. Die verschlungenen Kinder dieser Revolution sind einige Tausend Matrosen auf der eisumklammerten Ostseebasis Kronstadt in der Nähe von Petrograd.

Es sind jene radikalen Seeleute, die im Februar 1917 ihre Offiziere lynchten, während Lenin noch im bequemen Schweizer Exil saß. Die im Sommer 1917 bewaffnet durch Petrograds Straßen zogen, während Lenin in Finnland Urlaub machte. Die im Oktober 1917 den Winterpalast stürmten, während Lenin sich im Smolnyj-Institut verschanzte. Die bis 1920 in den Weiten Russlands oppositionelle Kosaken niederkämpften, während Lenin in Moskau blieb. Und die am Ende in nur 16 kalten Tagen des Jahres 1921 ihre Ehre, ihre Familien und oft auch ihr Leben verlieren werden, weil sie sich gegen Lenin wenden.

Die Geschichte der rebellischen Matrosen von Kronstadt ist die Geschichte idealistischer Revolutionäre, die tragisch verraten werden – und zugleich auch die Geschichte ebendieser radikalen Schlächter, die am Ende von jener Gewalt zerschmettert werden, die sie einst selbst entfesselt haben.

Ende 1920: Die Bolschewiki haben den Kampf gegen die Weißen gewonnen. Doch was heißt das schon? Nach sechs Jahren Welt- und Bürgerkrieg ist Russland verwüstet: Millionen Tote, Cholera und Typhus in den Städten, Hunger.

Die Bauern bringen weniger als die Hälfte der Ernte des letzten Friedensjahres 1913 ein. 5000 Kilometer Eisenbahnstrecke sind zerstört, die Industrieproduktion ist im Vergleich zu den Vorkriegsjahren um vier Fünftel gefallen, es wird nur noch ein Viertel der Kohle gefördert, ein Drittel des Öls, nur noch drei Prozent des Gusseisens produziert.

Lebensmittel erhalten die Menschen in den Städten vom Staat zugeteilt, denn es gibt keinen freien Markt mehr. 400 Gramm Schwarzbrot täglich bekommen Arbeiter in Petrograd, das sind kaum mehr als 1000 Kalorien am Tag, zu wenig zum Leben.

Eine Lage, so grauenhaft absurd wie eine Geschichte von Kafka: Die Goldreserven Sowjetrusslands werden ins Ausland verscherbelt, um dort Papier und Farben zum Druck von Rubelscheinen zu erstehen, mit denen man jedoch im Inland gar nichts kaufen kann.

Die Landbewohner wehren sich gegen die Eintreiber der Partei

Die Städter fliehen aufs Land, um irgendetwas Essbares zusammen zu kratzen – Petrograd zählt im August 1920 nur noch 750 000 Einwohner, gut zwei Drittel weniger als 1917. Zur materiellen Not kommt die Verachtung der neuen Machthaber gegenüber dem eigenen Volk. Viele der bolschewistischen Führer um Lenin halten die russischen Arbeiter für faul. Und die Landbewohner sind für Trotzki nicht mehr als „bäuerliches Rohmaterial“.

Vor allem Trotzki, der eisenharte Feldherr des Bürgerkriegs, will die Wirtschaft daher so organisieren wie den Krieg. Für ihn ist die Partei eine Art Generalstab, das Volk eine Armee. Ein Historiker wird Trotzkis „Kasernenkommunismus“ später mit den Methoden beim Pyramidenbau vergleichen: jeder Russe ein Zwangsarbeiter der Nation.

Doch die Bauern wehren sich: gegen die Eintreiber der Partei, die in die Dörfer gehen und Kartoffeln requirieren. Gegen Moskauer Offiziersschüler, die auf Lenins Befehl hin im Umland einquartiert werden und sich auf Kosten der Bauern ernähren, weil die ihre „Steuer“ noch nicht vollständig bezahlt haben. Gegen Funktionäre, die zwar Abgaben festsetzen, aber nicht einmal wissen, wie viele Hektar Ackerfläche ihr Bezirk verzeichnet – Kataster gibt es oft nicht.

8000 Eintreiber werden im Verlauf des Jahres 1920 erschlagen, 118 kleinere und größere Bauernrevolten registrieren die Häscher der Tscheka allein im Februar 1921. Im gleichen Monat brechen in Petrograd und anderen Städten spontane Streiks hungernder Arbeiter aus.

Oft erlöschen die Unruhen rasch: weil die Protestler nicht organisiert sind; weil es im extrem kalten Winter 1921 für Aufmärsche zu kalt ist; weil die Demonstranten so geschwächt sind, dass sie keinen Kampf durchhalten. Zudem unterdrücken die Bolschewiki viele Proteste. Doch weder Hunger noch Maschinengewehre können das Gefühl der Menschen bezwingen, betrogen worden zu sein. Haben nicht die Arbeiter, Bauern und Soldaten den Zaren davongejagt? Haben sie sich nicht in sowjety selbst regiert?

Haben sie nicht den Bolschewiki geholfen, die Bürgerlichen zu vertreiben und die Weißen zu schlagen? Sie sind doch die Sieger jenes mörderischen Ringens! Tatsächlich aber sind Not und Ohnmacht nun noch größer als zur Zarenzeit. Muss man nicht, nach Februar- und Oktoberrevolution, nun eine dritte Revolution wagen, um endlich die Freiheit zu erringen?

Einen Aufstand gegen die Bolschewiki, die die Russen verraten haben?

Hungersnot, Russland
Durch den Bürgerkrieg und die Politik der Bolschewiki ist die Landwirtschaft 1921 so zerrüttet, dass Millionen Russen auf Lebensmittellieferungen angewiesen sind
© picture-alliance / RIA Nowosti

Wenn Männer die Umstürze von 1917 befeuert haben, dann die Seeleute aus Kronstadt. Ihre Basis liegt auf der Insel Kotlin im Finnischen Meerbusen, einem zwölf Kilometer langen, bis zu zwei Kilometer breiten steinernen Propfen, der die Zufahrt zum 35 Kilometer weiter östlich liegenden Petrograd versperrt. In Kronstadt ankert die Baltische Flotte. Hier und auf winzigen Eilanden, die sich wie eine Perlenkette quer durch die Ostseebucht spannen, ragen die Rohre schwerer Geschütze aus modernen Festungen. Wer Petrograd vom Meer aus angreifen will, muss erst diesen gewaltigen Riegel überwinden.

Die Schlachtschiffe „Sewastopol“ und „Petropawlowsk“ dümpeln meist im Hafen. 25 000 Soldaten sind hier stationiert, vor allem Matrosen sowie Artilleristen in den Forts. Ebenso viele Zivilisten leben auf der Insel, die meisten arbeiten fürs Militär, etwa als Werftarbeiter. Tausende Männer auf engem Raum, schlechte Versorgung, harte Strafen bei Verstößen gegen die eiserne Disziplin: Die Seeleute der Kriegsflotte sind schon seit der Jahrhundertwende aufrührerisch.

1901 zirkulieren erstmals linksradikale Flugblätter in Kronstadt. Wenig später bilden die Seeleute politische Zirkel, fordern Bürgerrechte und beschweren sich über ungerechte Vorgesetzte. Schon im Aufstand von 1905 sind die Matrosen aktiv, plündern, morden, fordern das Ende der Zarenherrschaft.

Im Februar 1917 lynchen sie Offiziere, wählen einen Sowjet, den Bolschewiki und Anarchisten dominieren. Im Oktober 1917 gibt ein Kanonenschuss vom Kronstädter Kreuzer „Aurora“ das Signal zum Sturm auf den Winterpalast und sichert so den Erfolg des bolschewistischen Putsches.

Es sind die Männer von Kronstadt, die den Staatsstreich absichern. Sie sind es auch, die die Abgeordneten der Verfassunggebenden Versammlung – des ersten frei und gleich gewählten Parlaments in Russlands Geschichte – im Januar 1918 nach Hause schicken und so die Diktatur der Bolschewiki festigen.

Im Bürgerkrieg kämpfen insgesamt 40 000 Matrosen in den Reihen der Roten Armee, Anfang 1920 sind 4000 von ihnen Mitglieder der Partei. Trotzki benutzt sie mitunter als eine Art Prätorianertruppe, die er für besonders brutale Einsätze aussucht: Als Rotarmisten im Sommer 1918 bei Swijaschsk an der Wolga vor antikommunistischen Truppen fliehen, sind es hochmotivierte Stoßtrupps der Kronstädter Matrosen, die die Front 800 Kilometer östlich von Moskau wieder stabilisieren. Und Trotzki, der zweite Mann der Partei, lobt die See leute als „Ruhm und Stolz der Revolution“.

Ob er selbst daran glaubt? Denn die Matrosen bleiben ewige Rebellen, die gar nicht daran denken, die abgeschüttelte Disziplin der Zarenzeit nun durch eine neue Parteidisziplin zu ersetzen.
Schon während des Bürgerkriegs brechen in Kronstadt erste Krawalle aus, als Politkommissare auf die Basis kommen, um ein gewähltes Zentralkomitee zu entmachten. Andernorts kommt es zu Scharmützeln zwischen der Geheimpolizei Tscheka und Matrosen, die sich dem willkürlichen Kommando bolschewistischer Vorgesetzter nicht beugen wollen.

Hungersnot Russland 1921
Auch zahlreiche Kinder zählen zu den Opfern der gewaltigen Hungersnot, die Sowjetrussland 1921 erfasst. Insgesamt kommen etwa fünf Millionen Menschen um
© picture alliance / ullstein bild

Dennoch: Bis zum Herbst 1920 schweißt der Kampf gegen die Weißen Partei und Seeleute zusammen – der Hass auf die Vertreter von Zarenreich und Bürgertum ist größer als jede Differenz.
Ende 1920 ist der Feind aber fast vollständig besiegt oder vertrieben. Und so bekommen viele Matrosen zum ersten Mal seit Jahren Heimaturlaub. Sie kehren zurück in ihre Dörfer.

Stepan Petritschenko ist Seemann auf der „Petropawlowsk“: 30 Jahre alt, seit 1912 in der Flotte, gut aussehend, kräftig und trotz seiner nur zweijährigen Schulbildung und seines ukrainischen Akzents ein bezwingender Redner. Um die Jahreswende reist er in sein Heimatdorf – und ist schockiert.

„Über viele Jahre“, erinnert er sich später, „hatten uns bolschewistische Zensoren die Ereignisse zu Hause verschwiegen, während wir an der Front oder auf See waren. Als wir nach Hause zurückkehrten, fragten unsere Eltern, warum wir für die Unterdrücker gekämpft hatten. Das brachte uns zum Nachdenken.“

Mit eigenen Augen sehen die Matrosen nun die verödeten Städte, die während des Bürgerkriegs leer geplünderten Dörfer. Sie hören die Geschichten von requirierten Lebensmitteln, beschlagnahmtem Saatgut. Sie erleben die Demütigung, an Straßensperren nach Essbarem durchsucht zu werden, das sie angeblich versteckt bei sich tragen. Und auf der Basis ist es nicht besser.

Im Winter 1920 friert der Finnische Meerbusen zu, die Schlachtschiffe im Hafen sind vom Eis umklammert – aber in den Bunkern lagert kaum noch Kohle, um sie zu heizen. Es fehlen warme Uniformen.

Das schon zur Zarenzeit berüchtigt schlechte Marineessen wird noch unerträglicher, sodass Skorbut grassiert. Dafür haben sie gekämpft? Das ist die Herrschaft der Bolschewiki, die Arbeiter, Bauern und Soldaten aus der Fron des Zarenregimes befreien wollten?

Vor allem auf der „Petropawlowsk“ empören sich die Matrosen. Petritschenko tritt aus Lenins Partei aus, und nicht nur er: In diesen Winterwochen verlieren Kronstadts Bolschewiki die Hälfte ihrer Mitglieder.

Grigorij Sinowjew verhängt das Kriegsrecht

Die Seeleute schicken eine Abordnung nach Moskau, um auf ihr Elend aufmerksam zu machen. Doch die Abgesandten werden von der Tscheka verhaftet und kehren nie wieder zurück.
Im Februar 1921 hören Kronstadts Matrosen erstmals Gerüchte von Streiks in Petrograd. Was geht dort vor? Wieder schicken sie ein paar Männer los.

Deren Weg ist beschwerlich, denn zwischen November und März friert der Finnische Meerbusen zu. Die Entsandten müssen mindestens sieben Kilometer über das Eis bis zur Garnisonsstadt Oranienbaum am Südufer der Bucht ziehen, zu Fuß oder auf Pferden: über eine ungeschützte, weiße Einöde, über die oft arktische Winde peitschen, auf der Nebelbänke und Schneegestöber die Sicht verschleiern. Erst an Land bringt sie ein Zug, wenn er denn fährt, quälend langsam in die ehemalige Hauptstadt.

Am 28. Februar sind die Abgesandten zurück in Kronstadt. Sie geben den isolierten Matrosen auf der „Petropawlowsk“ ein unzensiertes Bild der Lage: In mehreren Fabriken haben Arbeiter gestreikt, nun stehen Rotarmisten und Geheimdienstler in den Werken und zwingen die Beschäftigten an die Maschinen.

Grigorij Sinowjew, Gefolgsmann Lenins und Vorsitzender des Petrograder Sowjets, hat das Kriegsrecht verhängt, es gilt eine Ausgangssperre. Truppen der Roten Armee treiben demonstrierende Arbeiter mit Schüssen auseinander, bolschewistische Redner und Schreiber denunzieren die protestierenden Proletarier als „Lakaien der Kapitalisten“.

Soldaten, die als unzuverlässig gelten, werden die Stiefel abgenommen, damit sie nicht durch Petrograds Straßen marschieren können. Geheimpolizisten der Tscheka haben Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen verhaftet.

Empörung unter den Matrosen! Es ist heute nicht mehr klar auszumachen, was genau an diesem Tag in Kronstadt geschieht. Manches wirkt spontan, anderes von langer Hand vorbereitet. Offenbar hören nicht nur Matrosen der „Petropawlowsk“ den Bericht aus Petrograd, sondern auch Delegierte aus anderen Einheiten.

Und Stepan Petritschenko, der ukrainische Bauernsohn, wird nun zum „Vorsitzenden der Geschwader-Versammlung“ gewählt. Damit ist er der Anführer eines improvisierten Gremiums, das weder in der Flotte noch im Staat noch in der bolschewistischen Partei bislang existiert hat.

Streik, Russland
Eine gewaltige Streikwelle erfasst Sowjet­russland Anfang 1921. Die Arbeiter protestieren gegen Privilegien für Parteimitglieder und fordern freie Neuwahlen zu den Sowjets (Putilow-Werke in Petrograd, 1920)
© mauritius images / Alamy / Imago Europe Collection

Die von Streiks und Kriegsrecht aufgewühlten Matrosen verabschieden eine Resolution. Dieses Dokument ist nicht, wie man erwarten könnte, ein Protest gegen die Unterdrückung der Streiks, sondern ein linkes, aber antibolschewistisches Grundsatzprogramm. Auf dem Schlachtschiff wird an diesem 28. Februar 1921 ein Gegenentwurf zu Lenins Einparteiendiktatur proklamiert. Die Matrosen fordern unter anderem:

  • Neuwahl aller Sowjets „mit geheimer Wahl“,
  • „Rede- und Pressefreiheit für Arbeiter und Bauern, für Anarchisten und linke sozialistische Parteien“,
  • Freiheit für alle „politischen Gefangenen sozialistischer Parteien, ebenso für alle Arbeiter, Bauern, Soldaten und Seeleute, die in Verbindung mit den Arbeiter- und Bauernbewegungen verhaftet worden sind“,
  • Wahl einer Kommission, die Fälle von Häftlingen „in Gefängnissen und Konzentrationslagern“ untersuchen soll,
  • die Abschaffung spezieller Privilegien für eine einzige Partei,
  • die Freiheit für alle Bauern, „über ihr Land und ihr Vieh zu bestimmen“.

Freilich: Die Freiheit der Bürgerlichen oder gar der Konservativen interessiert die Matrosen einen Dreck; politische Gegner sollen weiterhin im Kerker schmoren, niemand kümmert sich um Demokratie oder gar ein Parlament.
Petritschenko und seine Kameraden formulieren vielmehr ein revolutionäres (politisch eher naives) Ideal: zurück zu 1917! Zurück zu der Phase zwischen März und Oktober jenes Jahres, in der Soldaten, Arbeiter und Bauern an der Macht beteiligt waren. Keine Partei soll allein dominieren.

Es ist ein Manifest der nichtbolschewistischen Linken, die Alternative zur Diktatur, der Traum vom freien Staat der Arbeiter, Bauern und Soldaten – und die gefährlichste Kriegserklärung, die je an Lenin ergangen ist. Denn sie kommt quasi aus den eigenen Reihen.

Am Tag darauf erfahren hohe Bolschewiki vom Manifest – vielleicht durch Spitzel in der Marinebasis oder durch Mundpropaganda. Vertreter der KP-Führung eilen nach Kronstadt, darunter Staatspräsident Michail Kalinin und der Politkommissar Nikolaj Kusmin.

Die beiden Kader stellen sich auf einer Bühne auf dem größten Platz von Kronstadt gut 15 000 Zuhörern. Kalinin, ein älterer, wegen seiner bäuerlichen Herkunft geachteter Funktionär, der im März 1919 auf den vor allem ehrenhaften Posten des Vorsitzenden des Exekutivkomitees des Allrussischen Gesamtsowjets berufen worden ist, spricht ein paar Worte, doch unterbrechen ihn Störer schnell: „Halt die Luft an, Kalinitsch, du hast es warm genug!“
Nach dieser Demütigung stellt sich Nikolaj Kusmin auf die Bühne und droht: „Verräter werden erschossen!“ Unter Buhrufen wird auch er von der Bühne gejagt. (Kalinin wie Kusmin können Kronstadt später unversehrt verlassen.)
Kurz darauf aber jubelt die Menge einem Redner zu – Stepan Petritschenko, der öffentlich verkündet: „Die Bolschewiki verheimlichen die Wahrheit vor dem Volk!“

Die Matrosen waren harte und brutale Kämpfer

Am Folgetag treffen sich gut 300 hastig gewählte Delegierte in der Aula einer ehemaligen Kronstädter Schule, und an diesem 2. März wird aus einem Protest, den die Parteiführung wie so viele andere Revolten vielleicht doch noch irgendwie hätte besänftigen oder geräuschlos unterdrücken können, eine offene Meuterei. Eine dritte Revolution.

Eigentlich wollen die Delegierten nur die Wahl eines neuen Sowjets vorbereiten, frei, geheim und ohne Einmischung der Bolschewiki – so wie sie es in ihrer Resolution für die gesamte Sowjetunion gefordert haben.
Da ruft plötzlich ein Matrose der „Sewastopol“ in die Menge, dass 15 Lkw mit Kommunisten heranrollen! Mit Gewehren und MGs! Sie werden die Versammlung angreifen!

Chaos, Panik, Wut. Niemand macht sich die Mühe, den Wahrheitsgehalt des Alarms zu prüfen – er wird sich später als haltloses Gerücht herausstellen. Die Delegierten unterbrechen die Beratung, hastig wird ein fünfköpfiges „Provisorisches Revolutionäres Komitee“ ausgerufen. An dessen Spitze: Petritschenko. Matrosen stürmen die örtliche Zentrale der Tscheka (die Agenten jedoch fliehen rechtzeitig), sie besetzen alle Festungen, Waffenkammern, Lagerhäuser, Wasserpumpen und die Telefonzentrale. Kurz: Gegen Mittag ist Kronstadt ein revolutionärer, bis an die Zähne bewaffneter Mini-Sowjet im offenen Krieg gegen den riesigen Rest Sowjetrusslands.

Und nun?

Die Matrosen waren immer harte und brutale Kämpfer, aber sie sind stets gegen jemanden angetreten: gegen die Zarenoffiziere, gegen die Weißen, schließlich gegen die Bolschewiki. Dieser letzte Kampf, so scheint es, war sogar der einfachste, denn zumindest in Kronstadt sind die verhassten Parteifunktionäre und Tschekisten ohne Gegenwehr geflohen.

Nun aber müssten sie zum ersten Mal für etwas kämpfen. Nun müssten sie das, was sie in ihrer Resolution ja tatsächlich für das gesamte Sowjetrussland gefordert haben, von ihrer isolierten Insel in das Riesenreich hineintragen. Allein: Petritschenko und seine Rebellen bleiben in den nächsten Tagen seltsam passiv. Müssten sie nicht mit einigen Tausend Mann nach Petrograd ziehen? Schließlich sind Kronstädter Matrosen auch im Revolutionsjahr 1917 mehrmals in die Metropole eingefallen.

Die hungernden, frierenden, streikenden Arbeiter Petrograds würden sie vermutlich jubelnd empfangen. Und die Rotarmisten in der Stadt würden nicht auf ihre Kameraden schießen, den „Ruhm und Stolz der Revolution“, sie würden sich eher den Meuternden anschließen. Sinowjew und seine Tschekisten müssten fliehen, Petrograd, Russlands Tor zum Westen, wäre schon nach wenigen Stunden in Rebellenhand.

Doch Petritschenko ist eben kein Lenin. Die Matrosen verschanzen sich in Kronstadts Festungen und auf den stählernen Schiffen.

Nur einige Hundert Mann werden zum Festland geschickt, um dort Soldaten und Arbeiter zum Aufstand an zustacheln – eine doppelt fatale Strategie. Denn zum einen sind die Boten viel zu wenige, um einen Kampf anzuzetteln. Zwar erklären sich bereits in der Nacht auf den 3. März Soldaten in der nahe gelegenen Stadt Oranienbaum mit den Kronstädtern solidarisch. Doch Tschekisten exekutieren noch vor dem Morgengrauen 45 Soldaten in Oranienbaum, womit diese Rebellion erstickt ist. Weitere Kronstädter Matrosen werden in Petrograd und Umland von Geheimpolizisten verhaftet, ehe sie größere Unruhen schüren können.

Zum anderen herrschen ja Winter und Not. Kronstadt ist nur dann eine kaum bezwingbare Insel, wenn das Meer frei ist – über das Eis jedoch können Angreifer marschieren. Zwei Wochen, mindestens, bleibt die Ostsee noch zugefroren. Zwei Wochen also haben Lenins Feldherren Zeit, einen Gegenangriff vorzubereiten. Schlimmer noch: Die Rebellen verfügen gar nicht über genügend Vorräte, um einer langen Belagerung standzuhalten. Granaten und Gewehrkugeln, die haben sie, dazu 135 Geschütze und MGs in Kronstadt und den außen liegenden Festungen, 28 Kanonen auf den beiden Schlachtschiffen. Aber es gibt kaum Brot, Gemüse, Fleisch, Kohlen, nicht einmal Stiefel für jeden Kämpfer.

In dem Moment, als sich die Matrosen entschließen, in Kronstadt auszuharren, geraten sie in eine unhaltbare Lage. Sie haben ihre Revolution schon verloren, sie wissen es nur noch nicht.
Die Bolschewiki nutzen die Atempause. Leo Trotzki, der gerade in Sibirien Aufständische bekämpft hat, erreicht Petrograd am 5. März. Er stellt den Meuterern ein Ultimatum, sich binnen 24 Stunden zu ergeben. Zugleich lässt er aus Flugzeugen Pamphlete über Kronstadt abwerfen: „Ihr werdet abgeschossen wie die Hasen.“ Doch die Flugblätter schüchtern die Matrosen nicht ein, sondern entfachen ihre Wut nur noch mehr. Die Regierung ist recht gut über die Stellungen der Rebellen informiert, denn einige Matrosen, die der Partei die Treue halten, telefonieren heimlich mit dem Festland und geben Berichte über Geschütze oder Vorratsmengen hinaus.

Angriff, Kronstadt
Den ersten Angriff der Roten Armee auf die Festung Kronstadt können die Matrosen abwehren. Doch einem massiven Aufgebot der Bolschewiki gelingt es schließlich am 17. März, die Verteidiger zu überwältigen
© mauritius images / Alamy / AB Historic

Allerdings hat Trotzki zunächst gar nicht genügend Männer, um seine Drohung wahr zu machen. In aller Eile rekrutiert die Partei in Petrograd daher eine Art Miliz: Tschekisten, kommunistische Offiziersschüler, einige zuverlässige Rotarmisten, sogar Jungkommunisten – 5000 Mann, viel zu wenige, um die Festung zu stürmen. Daher lässt Trotzki alle Verwandten der Meuterer, die sich in der Stadt aufhalten, gefangen nehmen und als Geiseln ins Gefängnis bringen.

In Flugblättern und Reden hämmern KP-Funktionäre den Soldaten und Arbeitern Petrograds nun ein, die Matrosen seien „Spekulanten“, „Ex-Gendarmen“, „Verräter“ und „weiße Generäle“.

Es ist eine bittere Ironie, dass der so verunglimpfte Stepan Petritschenko, der Bauernsohn, Matrose, Ex-Genosse und ewige Rebell, geradezu das Ideal eines Bolschewiken darstellt – während der geplante Angriff der Staatsmacht von einem ehemaligen zaristischen Offizier geleitet wird: Michail Tuchatschewskij.

Der Adelige, erst 28 Jahre alt, gilt als brillanter Kommandeur. Er hat 1918 rechtzeitig die Seiten gewechselt und im Bürgerkrieg die Rote Armee zu Siegen geführt. Jetzt macht ihn Trotzki zum Henker Kronstadts.

Bis zum 7. März hat Tuchatschewskij 20 000 Mann unter seinem Kommando. Sie sind an den Ufern des Meerbusens aufgestellt. Geschütze werden herangekarrt, Kampfflugzeuge klar gemacht. Um 18.45 Uhr grollen die Kanonen der Festungen Sestroretsk und Lisij Nos im Nordwesten sowie von Krasnaja Gorka im Westen zum ersten Mal. Die Rebellen antworten mit Salven aus den Festungen und von den mächtigen Geschütztürmen der „Sewastopol“ in Richtung der Angreifer. Der Kanonendonner ist noch im 30 Kilometer entfernten Petrograd zu hören. Doch vielleicht ist die Sicht abends schon zu schlecht, vielleicht sind die Artilleristen schlicht zu unerfahren: Die Schäden auf beiden Seiten sind gering, die Rebellen etwa beklagen bloß zwei Verletzte. Dann zieht Nebel auf, Schnee fällt, die Waffen schweigen für die Nacht.

Am nächsten Morgen schickt Tuchatschewskij seine Armee los, übers Eis. Es herrscht Schneesturm, vor den Angreifern liegen acht, zehn, 15 Kilometer Eis, so hart und so flach wie eine Steinplatte. Keine Deckung.
Vorneweg rennen Offiziersschüler, die fanatischsten, die jüngsten Soldaten der Roten Armee. Dahinter erfahrenere Kämpfer. Und in deren Rücken Tschekisten mit Maschinengewehren, die Befehl haben, die eigenen Männer niederzumähen, sollten die fliehen. Am Himmel kreisen Kampfflugzeuge, die Bomben in die Festung schleudern.

„Ich habe keine Zweifel“, erklärt Lenin an diesem Tag in Moskau, „dass die Rebellion in den nächsten Tagen, ja Stunden liquidiert wird.“ Vor Kronstadt bricht die Hölle los. Maschinengewehre rattern, die Angreifer fallen, das Eis färbt sich rot. Granaten aus den schweren Geschützen der Rebellen zerschmettern den Eispanzer, unter den Explosionen reißt das Meer auf, Hunderte Rotarmisten stürzen ins Wasser. Verängstigte Soldaten werfen sich hin, selbst die Mörder der Tscheka treiben sie nicht weiter voran. Schlimmer noch: Manche Einheiten ergeben sich, gehen geschlossen zu den Matrosen über.

Bei Sonnenaufgang liegen zahllose Leichen auf dem Eis. Die Angreifer ziehen sich in die Uferfestungen zurück. Kronstadt bleibt in Rebellenhand. Trotzki überlegt nun, die Matrosen mit Giftgas zu töten. Doch Tuchatschewskij beschließt, die Taktik des ersten Angriffs beizubehalten, nur mit mehr Soldaten. Im Verlauf der folgenden Woche sammelt er 50 000 Mann, ausgewählte Truppen aus entfernteren Landesteilen. Sein Kalkül: Diese fremden Männer werden weniger Skrupel haben, die Kronstädter Seeleute zu massakrieren. Zugleich zermürbt er die Verteidiger mit immer neuen kleinen Überfällen und Artillerieangriffen. Eine Granate schlägt auf der „Sewastopol“ ein und tötet 14 Seeleute.

Mitte März ist den Kontrahenten klar, dass die Entscheidung in den nächsten Stunden fallen muss, so oder so: Denn der Schnee auf Kronstadts Straßen beginnt zu tauen. Noch ein wenig Zeit – und das Eis wird keine Angreifer mehr tragen, die Festung wäre gerettet. Angriff, befiehlt Tuchatschewskij daher: am 17. März, um 3.00 Uhr morgens. Dunkelheit. Die Matrosen ahnen, dass eine Attacke bevorsteht, viele stehen seit drei Tagen ununterbrochen auf Posten. Die Lichtbalken ihrer Suchscheinwerfer irren durch die Nacht. Nichts.

Vom nordwestlichen Ufer her nähern sich Rotarmisten wie Phantome über das Eis. Keine Zigaretten! Kein lautes Wort! Befehle werden flüsternd von Mann zu Mann weitergetragen.
2.45 Uhr. Die Angreifer nehmen die unbesetzte Festung Nummer 7 ein. Nun liegen die Forts Nummer 5 und 6 vor ihnen: die äußersten Punkte der Kronstädter Verteidigungsstellungen. Stacheldraht. Die Rotarmisten robben auf allen vieren weiter, kaltes Schmelzwasser saugt ihre weißen Tarnmäntel voll. Plötzlich erfasst ein Scheinwerfer die Angreifer. „Wir sind eure Freunde. Wir sind für die Sowjetmacht. Wir werden euch nicht erschießen!“, schallt es aus den Stellungen der Matrosen. „Hurra!“, schreien die Rotarmisten und springen auf, mit Handgranaten und Bajonetten.

Lenin verkündet die „Neue Ökonomische Politik“

Der 17. März wird ein Tag des Gemetzels. Während einige Tausend Angreifer die außen liegenden Festungen von Norden her bestürmen, sind Zehntausende von Süden herangeschlichen. Sie greifen nun Kronstadt selbst an: eine Kolonne den zugefrorenen Hafen, die zweite den Richtung Petrograd weisenden östlichen Stadtwall.

Maschinengewehrfeuer, Leichen, Blut, Terror bei den Soldaten. Zwei Rotarmisten sind so verängstigt, dass sie sich in eine eingefrorene Barke in Deckung werfen – ihr Offizier erschießt sie und jagt den Rest seiner Truppe weiter.

Recht schnell kollabiert die Ordnung bei den Kolonnen, die den Hafen bestürmen. In manchen Regimentern sind nach wohl höchstens drei, vier Stunden Kampf bereits mehr als die Hälfte der Männer tot oder verwundet. Doch am Wall Kronstadts wie auch bei den Außenforts gewinnen die Rotarmisten Meter um Meter. Häuserkampf. Heckenschützen. Frauen werfen sich ins Getümmel, helfen Verwundeten, schleppen Munition in die Stellungen.

Tuchatschewskij gelingt es, schwere Geschütze von Oranienbaum aus über das Eis zerren zu lassen. Er bringt sie mitten in Kronstadt in Stellung, feuert aus wenigen Metern Granate um Granate in die Häuser. Als die Sonne sinkt, ist die Rebellenhochburg gefallen.

Um einzelne Gebäude wird noch bis zum Mittag des nächsten Tages gekämpft, doch die Stadt selbst, ihr Hafen, die Schlachtschiffe werden am Abend des 17. März von der Roten Armee kontrolliert. Stepan Petritschenko und mit ihm Tausende, weit mehr als die Hälfte der Rebellen, fliehen in einem Bogen durch die Nacht, Dutzende Kilometer über das Eis, bis sie Finnlands Küste erreichen. Später wird Lenin gegenüber Genossen erklären, Kronstadt „habe die Realität besser als irgendetwas sonst beleuchtet“.

Die Realität, das sind wohl 10.000 tote, verwundete oder vermisste Rotarmisten. Die Realität, das sind überlebende Soldaten, die in entlegenste Landesteile verlegt werden, wie Henker, die man nach getaner Arbeit möglichst weit fortschickt, um das Gewissen zu beruhigen.

Die Realität, das sind mindestens 600 im Kampf getötete Matrosen. Die Realität, das sind mehr als 2500 gefangene Meuterer, die allesamt erschossen oder im Gulag umgebracht werden. Sinowjew wird schon in der ersten Nacht 500 von ihnen exekutieren lassen, und viele Familienangehörige, die als Geiseln eingekerkert worden sind, erwartet das gleiche Schicksal.

(Den nach Finnland Geflohenen bietet die Regierung im Mai 1921 die Amnestie an. Viele sind so naiv, Lenin zu glauben. Sie kehren zurück – und verschwinden in Straflagern. Petritschenko und weitere Matrosen verharren im Exil.)

Lenin erkennt sehr wohl, dass die Kronstädter Rebellion, anders als die Feldzüge der weißen Generäle, ja selbst anders als die Aufstände verzweifelter Bauern, aus dem Herzen der Bewegung kommt, aus den Reihen der fanatischsten Revolutionäre. Militärisch mögen manche Schlachten des Bürgerkriegs die Herrschaft der Bolschewiki stärker bedroht haben, doch moralisch erschüttert Kronstadt das Fundament der Partei.

Wenn die Prätorianer nicht mehr treu sind, wer soll es dann noch sein?

Was tun? Die Antwort Lenins: Er dämmt die Schockwellen der Kronstädter Rebellion politisch ein, macht aber ökonomische Zugeständnisse. Politisch räumt er brutal auf: Die letzten Rivalen im Land werden 1921 und 1922 verhaftet. Noch einmal werden mehr als 5000 Menschewiki, Anarchisten und Sozialrevolutionäre festgenommen, viele von ihnen in Schauprozessen als „Volksfeinde“ verurteilt.

Bald nach Kronstadt gibt es endgültig nur noch eine einzige Partei: die der Bolschewiki. Doch auch die lässt Lenin bis Ende 1921 von einem Viertel der Mitglieder „säubern“. Erst durch und nach Kronstadt wird die bolschewistische Partei so brachial diszipliniert, dass sich keine Stimme mehr gegen die Führung erhebt. Der Weg zur Einparteiendiktatur, an dessen Beginn Lenins Putsch im Oktober 1917 stand, hat nun sein Ende erreicht.

Ökonomisch hingegen beugt sich Lenin der Realität. Es war ja die schiere Not, die den Rebellen ihren verzweifelten Mut gab. Auf dem 10. Parteitag verkündet er daher bereits am 15. März 1921 in einer Rede nichts weniger als eine verschleierte Kapitulation: die „Neue Ökonomische Politik“.

Diese Politik bedeutet Rückkehr zu einer begrenzten Marktwirtschaft, zu Handel. Während entscheidende Bereiche – Schwerindustrie, Außenhandel, Bankenwesen, Verkehr – weiterhin von den Bolschewiki kontrolliert werden, dürfen vor allem die Bauern freier atmen. Ihre Ernten werden nicht länger requiriert, sie müssen nur noch eine Steuer in Naturalien entrichten. Und jedermann darf Lebensmittel auf Märkten wieder frei handeln.

Keine Straßensperren mehr, keine Zuteilung, sondern Kauf und Verkauf. Da die KP die Bauern – die große Mehrheit der Bevölkerung – nicht auf Linie zwingen kann, die Landleute aber überlebenswichtig sind für das Riesenreich, muss die Partei ihnen entgegenkommen und ihnen Grund und Boden, freie Ernten, freien Handel gestatten.

Jenen Ideologen, die eigentlich die gesamte Wirtschaft sozialisieren, überall Kolchosen und Sowchosen installieren und den Privatbesitz abschaffen wollen, hält Lenin entgegen, dass die neue Politik „ernsthaft und für lange Zeit“ eingeführt werden müsse.

Die Mörder von Kronstadt werden von Stalins Häschern ausgelöscht

Tatsächlich nimmt bereits 1923 die Fläche der Felder, auf denen gesät wird, um 18 Prozent zu – die Ernte allerdings bleibt zunächst schlecht, denn vielerorts fehlt es beispielsweise an Pflügen.

Nur ganz langsam wird sich die Produktion in den folgenden Jahren erholen. Was bleibt von Kronstadt? Ganz sicher ist es das klassische Beispiel für eine Revolution, die ihre Kinder frisst. Es ist am Ende Stalin, der Saturns Platz als Menschenverschlinger einnimmt: Stepan Petritschenko wird 1945 von den Finnen an Moskau ausgeliefert. Er stirbt wenige Jahre später im Gulag.

Und die Mörder von Kronstadt? Sinowjew, der die Geiseln exekutiert, Trotzki, der vom Giftgas träumt, Tuchatschewskij, der Soldaten in den Eistod schickt: Auch sie werden irgendwann alle von Stalins Häschern ausgelöscht. Und die 16-tägige Meuterei von Kronstadt bleibt ein Exempel dafür, dass Revolutionäre, die scheitern, das exakte Gegenteil ihrer Ziele bewirken.

Die Seeleute, die das Machtmonopol einer Partei verhindern wollten, haben es durch ihren Aufstand erst recht zementiert. Durch die Unterdrückungen, die Säuberungen und die Neue Ökonomische Politik hat Lenin Ende 1921 die Macht weit fester in Händen als Ende 1920. Es gibt keine organisierte Opposition mehr, erst recht keine bewaffnete. Weil Kronstadt scheitert, wird es bis zum Ende der Sowjetunion nie mehr ein zweites Kronstadt geben.

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