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Surrealismus René Magritte - Meister der Täuschung

Der Belgier ist kein exzentrischer Selbstdarsteller wie die Pariser Surrealisten, sondern ein nüchterner Ingenieur des Unmöglichen: René Magritte lässt hellblauen Himmel über nächtlichen Landschaften leuchten, Äpfel vor Gesichtern schweben - und 1938 eine Lokomotive in einem Kamin auftauchen. Seine Absicht: die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit zu sprengen

René Magritte will das Denken malen

Eine Versuchsanordnung, klar, kühl, effizient. Ein bürgerliches Interieur wie aus dem Katalog: Kamin, Spiegel, die Uhr, die eine Mittagsstunde anzeigt. Die Kerzenhalter aus Messing, die Wandtäfelung, der Dielenfußboden. Doch statt des Feuers dampft im Kamin eine Lokomotive.

Ein typisch surrealistisches Paradox? Vielleicht. Doch René Magritte, der dieses Bild mit dem Titel "Die durchbohrte Zeit" 1938 malt, ist kein Magier, kein Selbst-Hypnotiseur wie seine Kollegen. Er ist der Anti-Surrealist unter den Surrealisten. Sein Pinsel vermeidet jeden überflüssigen Strich, jede Seelenspur, jedes persönliche Drama. Wie Schautafeln sehen seine Bilder aus, wie Lehrmittel, Anschauungsmaterial für höhere Schulklassen. "Meine Art zu malen ist ganz und gar banal", sagt er selbst. Er sei auch kein Künstler, auf diese Feststellung legt er Wert – sondern ein denkender Mensch, der malt.

Und tatsächlich: Wer Magritte sieht, kann ihn für einen Lehrer halten, einen Maschinenbauer, einen mittleren Angestellten. Ein schüchterner Mann mit steifem Mantel und steifem Hut, begleitet von einem Spitz namens Loulou.

Seine Existenz – ein Abziehbild: Um sein Leben zu beschreiben, sagt er, wären schon zehn Zeilen "viel zu viel". Ein grauer Mann, geboren in einem grauen Land, den Kohlenstaubwüsten des belgischen Bergbaugebiets Hennegau.

Dort, in dem Städtchen Lessines, kommt Magritte am 21. November 1898 als Sohn eines Schneiders zur Welt. Dort verliert der junge René mit 13 Jahren seine Mutter, die in den Fluten eines Flusses Selbstmord begeht – und verspürt, wie er sich später erinnert, nichts als "immensen Stolz darüber, der bemitleidenswerte Mittelpunkt eines Dramas zu sein" (auch wenn er das Motiv des Ertrinkens später in mehreren Bildern variieren wird). Dort trifft er mit 14 auf einem Jahrmarkt das Mädchen Georgette, mit dem er bis zu seinem Tod verheiratet sein wird – "in der Geborgenheit eines gutbürgerlichen, geordneten Lebens", wie er betont.

Denn um die Ordnung der Dinge auf den Kopf stellen zu können, hilft nur: noch mehr Ordnung.

Eine Ordnung, die nicht nur Magrittes Tagesablauf bestimmt, sondern auch die Klarheit seiner Kompositionen, die Erkennbarkeit und Lesbarkeit der Dinge. Die noch das Unwahrscheinlichste plausibel macht. Die jedes Paradox so aussehen lässt, als habe damit alles seine Richtigkeit. Die nicht die Wunder des Alltags vorführt, sondern die Alltäglichkeit des Wunders.

Es ist eine Ordnung, die auch unter den abenteuerlichsten Bedingungen noch intakt bleibt – wenn etwa zwei Stiefel sich in Füße verwandeln, eine Schlange in eine Kerze mündet oder eine Flasche in eine Möhre übergeht.

Anstelle der zufälligen Kollision der Dinge, die den meisten Surrealisten als Inbegriff der Schönheit gilt, setzt er die Verwandtschaft der Begriffe, die Logik und deren Umkehrung. Ersetzt in einem Bild den Nachthimmel durch einen Taghimmel, in einem anderen den Vogel im Käfig durch ein überdimensionales Ei, in einem dritten das Gesicht einer Frau durch deren nackten Körper. Oder eben, wie in der "Durchbohrten Zeit", den Rauch des Kaminfeuers durch den Dampf der Lokomotive.

Es sind einander fremde Welten, die Magritte per Analogie in diesem Bild verschmilzt: die Welt des Außen und die Welt des Innen. Die kalte Intelligenz der Technik und die Urkraft des Elements Feuer. Und vor allem: das gelernte Vertrauen in das Alltägliche – und das Gefühl, das etwas damit nicht stimmt.

Nichts Verschwenderisches haben diese Bilder, sondern die Sparsamkeit eines Epigramms, das nur verrät, was zum Verständnis der Idee nötig ist. Nichts Unwägbares ist ihnen eigen, sondern der penible Sprachwitz eines Linguisten-Stammtischs. Und nicht ins Offene zielen die Bilder, sondern auf "Probleme", deren Lösung, so der Künstler, "strikt vorherbestimmt" ist.

Denn Magritte will das Denken malen – und nutzt dazu jene rigorose Grammatik, wie sie die Sprache auszeichnet. Wenn er seine berühmte Pfeife malt und sie mit der Bemerkung "Dies ist keine Pfeife" versieht, geht es ihm ja nicht um die Pfeife: Ebenso gut könnte er eine Zahnbürste darstellen. Es geht um die schlichte Erkenntnis, dass Bilder wie Wörter nur Zeichen sind, und man eine gemalte Pfeife nicht rauchen kann.

Und erst recht verwahrt er sich gegen die psychoanalytische Deutung seiner Objekte. "Ich glaube nicht an das Unbewusste und auch nicht daran, dass die Welt sich uns als ein Traum darstellt", sagt er. Und: "Ich hasse Symbole."

Er sei "Traditionalist", brüstet sich der Belgier provokativ, "ja Reaktionär". Mit den "-ismen" seiner Zeit oder dem "oberflächlichen intellektuellen Skandaleffekt" eines Picasso, könne er nichts anfangen: "Es gibt keinen Fortschritt", ist sein Credo. Ungegenständliche Kunst ist für ihn sinnlos wie "Küche ohne Kochen". Die amerikanischen Pop-Art-Künstler, die ihn später wegen seiner sachlichen Objektmalerei als Vorläufer feiern, wird er als beschränkt und "nicht sehr seriös" abtun. Und im Gegensatz zu Expressionisten, Futuristen oder Impressionisten, deren gewagte Farbgebungen Magritte wohl fremd bleiben, ist bei ihm der Himmel meistens ganz einfach hellblau.

"Ich bin sehr genau", sagt er. "Im Leben wie in der Malerei."

René Magritte ist ein Ingenieur des Irrealen

Lange Zeit muss er sein Geld jenseits der Kunst verdienen, als Musterzeichner in einer Tapetenfabrik, jeden Tag von acht bis halb fünf; und als Werbegrafiker, der Anzeigen für Mode, Parfüms und Autos entwirft. Der künstlerische Erfolg bleibt lange aus: Von den 225 Ölgemälden, die er zwischen 1926 und 1928 an seine Händler liefert, finden weniger als 25 einen Käufer. Noch mit 40 bettelt er Mäzene um Unterstützung an, und noch mit 55 malt er "in einer Ecke des Wohnzimmers", wie ein Freund befremdet feststellt, "von Tisch, Tür und Ofen eingezwängt", bei schlechtem Licht und "mit unglücklicher Miene".

1923 hat ihn ein abfotografiertes Bild des Surrealisten-Vorläufers Giorgio de Chirico – ein Ensemble aus einer Kugel, einem Chirurgenhandschuh und einem antiken Gipskopf – so tief beeindruckt, dass ihm beim Anblick die Tränen kamen. Zwei Jahre später malt Magritte sein erstes Gemälde, das sich als surrealistisch verstehen lässt: eine Hand, die wie aus dem Nichts vor einem Fenster erscheint und nach einem Vogel greift. Er beginnt, wie de Chirico vertraute Gegenstände in befremdende Konstellationen zu zwingen, bebildert wie sein Idol ein "dem Entsetzen verwandtes Gefühl".

Es sind Bilder voller Bedrohung: ein Mädchen, das einen Vogel frisst; ein Frauenmörder, der vor dem Bett seines Opfers steht und versonnen den Klängen eines Grammophons lauscht. 1927 stellt er seine Bilder in einer Brüsseler Galerie aus – und muss erfahren, dass die Kunstkritik "nur Verachtung" für sie zeigt.

Doch auch die Surrealisten, die sich in Paris um den Schriftsteller André Breton geschart haben, nehmen ihn nicht viel gnädiger auf. Als er sich im September 1927 in ihrem Umkreis niederlässt, wohl entschlossen, Gleichgesinnte kennenzulernen, empfangen die Revolutionäre den Subversiven im Kleinbürgerkostüm mit Skepsis.

Seine kalkulierten Bildwelten erfüllen zwar das surrealistische Prinzip, völlig unterschiedliche Wirklichkeiten in einem Kunstwerk aufeinanderprallen zu lassen. Doch sie passen kaum zu den zufallsgesteuerten Selbsterforschungen des "Automatismus", jener bildfindenden Technik, die das Unbewusste zutage fördern will und in die sich die meisten Künstler der Gruppe Hals über Kopf stürzen (Magritte wird ihn später als "sehr wirkungslos" abtun).

In seiner Artikelserie "Der Surrealismus und die Malerei" erwähnt Breton den Belgier mit keinem Wort. Und im Dezember 1929 kommt es zum Eklat, als Magrittes katholische Frau Georgette auf einer Party bei dem Literaten mit einem goldenen Kreuz an der Halskette erscheint: Breton fordert sie auf, "diesen Gegenstand" zu entfernen. Stattdessen verlässt Magritte mit Georgette das Fest – und ein halbes Jahr danach auch die Stadt.

Erst Jahre später, als sich der revolutionäre Furor der Surrealisten etwas gelegt hat und der "Automatismus" nicht mehr ihr Königsweg zum Bild ist, versöhnt sich Magritte mit den Kunst-Jakobinern, zeigt seine Bilder auf Gruppenausstellungen in London, Paris, New York.

Doch schon 1946 erklärt er, den Surrealismus für sich bereits seit einiger Zeit "begraben" zu haben. Und der pompöse Traumkult eines Salvador Dalí bleibt ihm immer etwas für "die Armen im Geiste".

Magritte selbst richtet sich nach seiner Rückkehr wieder in Brüssel ein, in jener Parterrewohnung, die für 24 Jahre sein Domizil bleiben wird - mit ihren Warenhaus-Antiquitäten, dem Esszimmer, in dem er malt, und dem Gärtchen, in dem er Sellerie und Zwiebeln zieht.

Zwar stellt sich ganz allmählich auch der Erfolg ein: 1936 hat Magritte seine erste Einzelausstellung in New York, 1948 in Paris, 1953 in Rom. 1954 widmet ihm der Brüsseler Palais des Beaux-Arts eine erste große Retrospektive, 1965 auch das New Yorker Museum of Modern Art.

Amerikanische Kunststars wie Jasper Johns, Robert Rauschenberg und Roy Lichtenstein kaufen seine Bilder, Werbegrafiker greifen seine Ideen auf, und schließlich erobern seine eingängigen Denk-Spiele als Poster die Sortimente von Kaufhäusern rund um den Globus.

Doch während seine Kollegen durch die Welt ziehen, wird Magritte seine belgische Heimat kaum mehr verlassen.

Magrittes "Verborgene Portraits" schaffen eine geheimnisvolle Anonymität

Es ist eine geradezu mönchische Existenz, die er dort führt. Ein Projekt der Selbstverkleinerung, der Selbstauflösung - das er auch an seinen Figuren exerziert: Immer wieder malt er portraits manqués, "fehlende Porträts", die Menschen ohne Gesichter zeigen.

Er malt Männer, die im Spiegel nur ihren Hinterkopf erblicken, deren Züge von Äpfeln verdeckt werden oder von Tauben. Er malt Küssende mit verhüllten Köpfen und Menschen, die zu Stein geworden sind, unempfindlich gegen die Zumutungen der Umwelt.

Als Kind hat sich Magritte mit Vorliebe als Priester verkleidet und an einem selbst gebauten Altar die Messe gelesen. Später wird er aber zum radikalen Kirchenfeind, beschimpft mit derben Worten die Katholiken, mutmaßt, dem Gewand des Papstes entströme "ein leichter analer Duft" und karikiert die Muttergottes mit Strapsen.

Doch die Wiederkehr des Verdrängten, die der surrealistische Stichwortgeber Sigmund Freud postuliert, scheint auch Magritte einzuholen. Denn so kompromisslos seine kritische Distanz und so profan seine Gegenstände auch sind: Die bewusste Ausdruckslosigkeit seiner Malerei wie seines Alltags ("Die Künstler, die sagen, sie drückten sich aus, sind nicht ganz gesund", sagt er) lässt sich durchaus als Demut lesen. Eine Demut, die Höherem dient - dem Geheimnis, das hinter den Dingen steckt. Magritte nennt es das "Mysterium".

Das "Mysterium" ist Magrittes heiliger Gral: ein ungreifbares Faszinosum, das in seinem Sprachgebrauch so viel wie die Poesie eines Gegenstands meinen kann, oder den Schock des Erkennens, oder die unsichtbare Verwandtschaft der Dinge.

Nicht im Jenseits wohnt Magrittes "Mysterium", nicht in der Transzendenz, sondern in den profanen Gegenständen des Alltags: "Denn alles in unserem Leben", sagt Magritte, "ist Mysterium." Und wie ein Mönch, der tagein, tagaus den Rosenkranz betet, nähert sich Magritte diesem Mysterium durch beständige Übung und Wiederholung.

Für den Maler ist der Lohn des Verzichts eine Erleuchtung

Immer wieder malt er die gleichen Dinge: Wolken, die mal auf einer Flagge wehen, mal durch ein Auge ziehen, mal die Silhouette eines Vogels bedecken. Felsbrocken, die über dem Meer schweben, zwischen Bergen hängen oder ein Zimmer ausfüllen.

Kugelförmige Schellen, die auf einer Mauer liegen, am Himmel baumeln oder auf dem Sitzkissen eines Lehnstuhls liegen.

"Meine Tastatur", sagt er, "ist eben ziemlich begrenzt." Immer wieder ordnet er seine alltäglichen Dinge zu Armeen identischer Prototypen: Malt Objekte, aber auch Menschen mit ihren immer gleichen Melonen auf den Köpfen und den immer gleichen, ausdruckslosen Gesichtern. Immer wieder kopiert er die eigene Kunst, malt Varianten und Repliken seiner Bilder, viele im - freilich auch leichter verkäuflichen - Kleinformat.

Das alles ist kein Vergnügen: Magrittes Bilder, wird der Maler und Kunstkritiker Hans Platschek feststellen, sind "hart, fast missmutig gemalt, ohne dass sich irdendwo ein Genuss des Malers beim Malen äußert".

Und tatsächlich langweilt Magritte das Malen "wie alles andere": "Ekel erfasst mich, wenn ich meine Farben und meine Palette sehe und wenn ich denke, damit herumschmieren zu müssen." So wird ihm das Malen zur asketischen Übung. Er kasteit sich, versucht, jeden Spaß zu vermeiden. Sein spirituelles Ziel ist, "eine eher glanzlose Existenz bis zum Ende durchzuziehen".

Hedonistische Modeinsignien wie "Jazz, Lederjacken usw. gehören zu den Dingen, die ich am meisten hasse". Seine einzigen Vergnügungen sind der tägliche Morgenspaziergang mit dem Hund und die regelmäßigen Schachnachmittage im Brüsseler "Greenwich Café".

So modelliert er sein Leben zum Martyrium der Gleichförmigkeit, zum Büßerhemd aus Gewohnheiten. "Ich bin um neun Uhr aufgestanden", notiert er eines Tages, "ich bin im Esszimmer und in der Küche etwas herumgegangen, ich habe einen Blick in den Garten geworfen. Um elf Uhr hat sich meine Frau, der nicht gut war, hingelegt. Ich habe an meiner Gouache gearbeitet, ein zweites Stückgut für meine Ausstellung. Um zwei ist Georgette aufgestanden, und ich habe das Essen zubereitet. Hinterher bin ich mit dem Hund weggegangen. Brr. Dann ging Georgette zu ihrer Schwester. Das ist mies, das ist finster. Ah, das ist zum Kotzen. Das ist widerwärtig, bedrückend, das Leben ist unerträglich."

Doch für den Mystiker ist der Lohn des Verzichts die Erleuchtung. Und wenn die Beobachtung des Philosophen und Vernunft- Katholiken Blaise Pascal aus dem 17. Jahrhundert zutrifft, man müsse nur lange genug niederknien, um zum Glauben zu gelangen, dann sind auch die Exerzitien des unchristlichen Mönchs Magritte nicht vergebens gewesen: Schließlich hat auch er sein höheres Wesen gefunden.

"Ja, ich glaube an Gott", sagt er im Dezember 1965, keine zwei Jahre vor seinem Tod. Mit einer Einschränkung: "Statt Gott sage ich Mysterium."

GEO EPOCHE EDITION Nr. 8 - 05/13 - Surrealismus: Aufstand gegen die Vernunft

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