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Netflix-Serie 2000 Menschen vor den Nazis gerettet: Die wahre Geschichte hinter "Transatlantic"

Schwarz-weiß-Bild, auf dem der Journalist Varian Fry 1940/41 in Unterlagen blättert
Mit der Organisation "Emergency Rescue Committee" verhalf Varian Fry (r.) in Marseille 1940/41 Gegnern des Nationalsozialismus zur Flucht in die USA
© picture alliance/United Archives | 90061
Im August 1940 baut der Amerikaner Varian Fry eine Hilfsorganisation in Marseille auf. Seine Mission: Menschen retten, die von der Gestapo gesucht werden. Netflix hat seine Geschichte jetzt verfilmt

Marseille, Mitte August 1940: Varian Fry, ein schlaksiger, junger Amerikaner kommt in der französischen Hafenstadt an, im Gepäck: 3000 Dollar und eine Liste mit 200 Namen. Seine Mission: Die 200 Menschen finden – und so schnell wie möglich außer Landes schaffen. Denn sie alle schweben in Lebensgefahr, stehen auf den Fahndungslisten der Gestapo, deren Einfluss längst über weite Teile Europas reicht. Die 200 sind Gegner des Nationalsozialismus: Intellektuelle, Politiker, Schriftsteller, Künstler, die meisten von ihnen Juden.

Varian Fry gehört zu den vergessenen Helden im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Netflix erzählt seine Geschichte – und die seiner Helferinnen und Helfer – jetzt in der neuen Serie "Transatlantic" (Start: 7. April 2023). Sie handelt von einem Mann, der alles riskierte, um andere zu retten, dafür nicht vor illegalen Mitteln zurückschreckte und die Moral über das Gesetz stellte.

Varian Fry: "Ich wusste, was mit den Flüchtlingen geschah, welche die Gestapo in die Hände bekam"

Die Ausgangssituation: Wenige Monate vor Frys Ankunft in Marseille, im Juni 1940, hatten deutsche Truppen Frankreich im Zweiten Weltkrieg besiegt und den größten Teil des Landes besetzt, darunter Paris. Dies hatte auch Folgen für die deutschsprachigen Gegner des NS-Regimes, die seit 1933 massenhaft in die französische Hauptstadt emigriert waren: Zu Tausenden zogen sie nun weiter ins unbesetzte Südfrankreich, dem Vichy-Regime, vor allem nach Marseille.

Allerdings verpflichtete der "Auslieferungsparagraph" im Waffenstillstandsabkommen Frankreich, hier lebende Deutsche "auf Verlangen" an die Gestapo auszuliefern. Für die Geflüchteten bedeutete dies: Sie saßen in Südfrankreich in der Falle. Etliche von ihnen besaßen keine gültigen Papiere mehr, waren staatenlos, hatten kein Geld – und keine Perspektive. "Viele glaubten bei jedem Klingeln, bei jedem Klopfen an der Tür und jedem Schritt auf der Treppe, die Polizei sei da, um sie abzuholen und an die Gestapo auszuliefern", wird Fry später berichten. "Verzweifelt suchten sie nach Mitteln und Wegen, um sich aus der Schlinge zu befreien, die sich plötzlich um ihren Hals gelegt hatte."

Um diese Menschen zu retten, entsendet die New Yorker Hilfsorganisation "Emergency Rescue Committee" (ERC) im August 1940 Fry, einen Publizisten, nach Marseille. Er hat zwar keinerlei Erfahrungen in der Fluchthilfe, spricht aber Französisch und Deutsch.

Zudem war er fünf Jahre zuvor als Auslandskorrespondent in Berlin Zeuge antisemitischer Ausschreitungen geworden, hatte miterlebt, wie Jüdinnen und Juden auf der Straße in aller Öffentlichkeit zusammengeschlagen wurden. Diese Erfahrungen sind es, die ihn dazu bringen, sich für Verfolgte des Nationalsozialismus einzusetzen. "Ich wusste, was mit den Flüchtlingen geschah, welche die Gestapo in die Hände bekam", schreibt Fry in seinen Memoiren.

Als er Marseille erreicht, richtet er in seinem Hotelzimmer ein Hilfsbüro für Flüchtlinge ein, das "Centre Américain de Secours" (CAS), und stellt ein Team aus Helferinnen und Helfern zusammen. Schnell spricht sich in der Stadt rum, dass "ein Amerikaner aus New York angekommen war, wie ein Engel vom Himmel gefallen sei, Taschen voller Geld und Pässe", notiert Fry. Drei Wochen sind für die Rettungsaktion vorgesehen, 13 Monate wird er in der Stadt bleiben.

Varian Fry versorgt Verfolgte mit Verstecken und gefälschten Pässen

Denn schnell stellt sich heraus, dass weitaus mehr Menschen Hilfe benötigen als die 200 Personen, die auf seiner Liste stehen. Zudem erweist sich die Ausreise aus Frankreich als kompliziert. Der einzige Weg in die USA führt per Schiff über Lissabon. Ein französisches Ausreisevisum erhält allerdings nur, wer ein spanisches Transitvisum vorweisen kann, und dieses nur, wer ein portugiesisches besitzt. Dafür wiederum wird ein Einreisevisum eines Landes in Übersee, etwa den USA, benötigt. Für all die Visa sind Ausweispapiere notwendig.

Ohnehin ist die Einreise in die USA kompliziert, verfolgen die Vereinigten Staaten doch eine strikte Abschottungspolitik. Nur wer ein Visum vorweisen kann, darf einreisen – und die Ausstellung der Papiere ist selbst im Zweiten Weltkrieg stark reglementiert. "Es war die Angst der amerikanischen Politik, die verhinderte, dass den politisch und rassisch Verfolgten aus Europa im notwendigen Maße Einlass gewährt wurde", schreibt die Historikerin Angelika Meyer in dem Buch "Ohne zu zögern: Varian Fry". Insbesondere befürchteten die USA die Einwanderung von Kommunisten.

Mit legalen Mitteln und ohne große Unterstützung des US-Konsulats in Marseille, so erkennt Fry, wird er nicht weit kommen. Deshalb bringen er und sein Team Geflüchtete in Verstecken unter, organisieren heimliche Grenzübertritte über die Pyrenäen nach Spanien, besorgen Plätze für Schiffspassagen. Der österreichische Urkundenfälscher Bil Spira versorgt jene, die auf Fahndungslisten der Gestapo stehen, mit neuen Identitäten.

Filmszene aus "Transatlantic": Gruppe von Menschen berät sich auf einem Hotelzimmer
Filmszene aus der Netflix-Serie "Transatlantic": Der Journalist Varian Fry (gespielt von Cory Michael Smith, rechts) stellt in einem Hotel in Marseille ein Team von Freiwilligen zusammen, um Verfolgte vor den Nazis zu retten
© Anika Molbar/Netflix

Bald steuern mehr als 100 Hilfesuchende jeden Tag Frys Organisation CAS, die mittlerweile in ein Büro umgezogen ist und aus 15 Mitarbeitenden besteht, an. "Wir konnten unmöglich wissen, wer wirklich in Gefahr war und wer nicht. Wir mussten raten, und die einzige sichere Art zu raten war, jedem Flüchtling einen Vertrauensbonus zuzugestehen", beschreibt Fry.

Solche Ausmaße nimmt die Rettungsaktion an, dass schließlich die französische Polizei auf die CAS aufmerksam wird. Im Dezember 1940 verfrachten Polizisten Fry zwischenzeitlich auf ein Gefängnisschiff vor Marseille, nach seiner Freilassung will der Amerikaner trotzdem nicht zurück in die Heimat.

Anfang September 1941 schiebt die Polizei ihn Richtung Spanien ab – ohne Einspruch der amerikanischen Botschaft. Mit seinen illegalen Aktionen ist Fry für sie ein Ruhestörer geworden, der die Staatsmacht offen in Frage stellt, in den Augen der Behörden ein Querulant.

"Ich dachte an die Gesichter der tausend Flüchtlinge, die ich aus Frankreich weggeschickt hatte, aber auch an die Gesichter von weiteren tausend, die ich hatte zurücklassen müssen", schreibt Fry über seine Ausreise. Seine einstigen Mitstreiter leiten das CAS-Büro weiter, bevor es am 2. Juni 1942 endgültig geschlossen wird.

Schätzungsweise 2000 Menschen hat die Hilfsorganisation aus Frankreich gerettet, darunter einige der renommiertesten deutschsprachigen Intellektuellen jener Zeit: die Schriftsteller Lion Feuchtwanger, Franz Werfel, Heinrich Mann, Leonhard Frank, Hertha Pauli, Walter Mehring und Franz Schoenberner, die Pianistin Wanda Landowska, die Künstler Max Ernst und Eugene Spiro, zudem die jüdische Sozialistin Gisela Peiper, die Kommunistin Lisa Fittko, die Ärztin Minna Flake.

Zurück in den USA, prangert Fry die Ermordung der Juden in Europa an und wirft den Politikern Untätigkeit vor, bleibt aber weitgehend ungehört. Nach dem Krieg zieht er sich verbittert in die Provinz zurück, erstellt Werbebroschüren für Coca-Cola und unterrichtet an einer Highschool Latein. 1967 stirbt er im Alter von 59 Jahren. Wirkliche Anerkennung erhält er erst nach seinem Tod: 1994 ehrt ihn die Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem als "Gerechten unter den Völkern", die höchste Auszeichnung Israels an Nichtjuden für Menschen, die im Nationalsozialismus ihr Leben riskierten, um Juden zu retten.

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