Beiseitegeschlagen ist der kostbare Raumvorhang. Dahinter: die Intimität eines Malerateliers. Hineinflutendes Tageslicht verrät, dass es Fenster gibt, außerhalb der Kammer eine Welt. Die nicht eindringt. Nichts lärmt, nichts bewegt sich in diesem Augenblick höchster Konzentration – einer Momentaufnahme zweier Menschen, die ein Kunstwerk schaffen. Regungslos steht die junge Frau da, muss genau so verharren, wie es der Maler wünscht, den Jan Vermeer um 1668 verewigt. Er sitzt, einen Schritt von ihr entfernt, vor seiner Leinwand und malt den Lorbeer, der ihren Kopf bekränzt. Ganz der Kunst hingegeben, sieht er nur sein Modell. Nichts als sein Werk scheint hier wichtig.
Und doch posiert die Frau nicht nur für ihn. Sie hält eine gestreckte Trompete fast waagerecht in ihrer Hand, so wie es am eindrucksvollsten wirkt. Aber das Bild auf der Staffelei wird nur ein kleines Stück des Trompetenrohrs zeigen. Weiße Linien einer Vorzeichnung auf der Leinwand deuten an, dass das bauschige Gewand der Frau fast die gesamte Breite des Bildes einnehmen soll.
Die Trompete lässt Vermeer sie trotzdem präsentieren – und zwar dem Betrachter seines Gemäldes. Denn das Instrument ist bedeutsam, ein Symbol. Es gehört zu einem Mythos, den der Künstler in das Atelier geschehen hineinmalt. Denn sein Werk handelt nicht nur von der Erschaffung eines einzelnen Bildnisses, nicht nur von einem Maler und dessen Modell. Sondern auch vom Malen an sich, von dessen Wert und Aufgabe in der Welt. Kurz: Vermeer setzt hier eine raffinierte Allegorie der Malerei in Szene.
Er zeigt eine Künstlerwerkstatt mit Figuren und Gegenständen, die zwar für einen konkreten Zweck stehen – aber zugleich auch symbolisch gemeint sind. Zwei Bedeutungsebenen lässt der Künstler ineinanderspielen, kombiniert sie zu einem Gemälde, das auf zweierlei Weise vom Malen erzählt.
Jan Vermeer ist der große Unbekannte der niederländischen Kunst
Einen Auftrag für die „Malkunst“, wie er sein Werk offenbar nennt, hat der Delfter Künstler wohl nicht. Ob er sein gemaltes Atelier als Blickfang für seine Kunden in seinem eigenen Atelier ausstellen will? Sicher ist nur eines: Mit diesem Bild fertigt der etwa 36-Jährige Jan Vermeer van Delft sein Glanzstück an – eines der letzten seiner Karriere. Und eines der letzten des Goldenen Zeitalters überhaupt.
Denn dramatisch ändern sich bald darauf die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen, die diese Blüte der Kunst erst ermöglicht haben. Unter den Genies jener Zeit wird Jan Vermeer später zu den größten zählen. Und als besondere Gestalt: als derjenige, der, ohne es zu wissen, das gemalte Resümee dieser Ära gezogen hat. Als derjenige, der am Ende noch einmal mit einem Gemälde über die Malerei selbst nachdachte. Und ein Kunstwerk erschuf zu Ehren der Kunst.
Jan Vermeer ist der große Unbekannte der niederländischen Kunst. Was ihn bewegt, Maler zu werden, wo er lernt, wer seine Lehrer sind: Dazu hinterlässt er keine Spuren. Keinen Hinweis darauf, ob er Schüler hat, ob er reist, um in Italien oder Flandern Werke anderer Maler zu studieren.
Schon als Kind wächst Jan Vermeer inmitten der Kunst auf
Vielleicht bestärkt ihn der Vater darin, eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen. Denn der Alte, Seidenweber von Beruf, ist sehr geschäftstüchtig und treibt in einem Gasthaus am Marktplatz von Delft, das er zudem auch führt, Handel mit Gemälden. In jenem Haus wohnt auch die Familie, und dort wächst Jan auf.
Von Kindheit an ist er also von Kunst umgeben, lernt Maler und Bilderkäufer kennen. Früh beschließt er, selber zum Künstler zu werden, sich als Maler ausbilden zu lassen: Mit 21 Jahren tritt er in die örtliche Lukasgilde ein, in der sich Maler mit anderen Kunsthandwerkern und Kunsthändlern wie in einer Zunft organisieren.
Jan heiratet, zieht mit seiner Ehefrau Catharina Bolnes auf die gegenüberliegen de Seite des Marktplatzes, zu seiner Schwiegermutter, der geschiedenen Gattin eines erfolgreichen Ziegelfabrikanten. Fortan wird Vermeers Familie von ihr regelmäßig mit Geld unterstützt. Jan bezieht zudem Einnahmen aus der Verpachtung eines Hauses, das er von seiner Mutter geerbt hat; auch handelt er wie schon sein Vater mit den Gemälden anderer Künstler.
Für seine eigenen Bilder schafft er sich einen festen Kundenkreis unter Kunstliebhabern. Einer der Stadtregenten von Den Haag bewundert seine Werke so sehr, dass er in seinem Tagebuch von Besuchen im Atelier des Malers berichtet. Selbst der Polizeipräsident von Lyon kommt nach Delft und wünscht Vermeers Bilder zu sehen.
Als er die „Malkunst“ auf die Leinwand wirft, ist er auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Zum zweiten Mal wählen ihn die Mitglieder der Lukasgilde zu ihrem Vorsitzenden. Bravourös beherrscht er sein Handwerk, einzigartig sind seine Einfälle. Einer seiner Figuren, dem „Mädchen mit dem Perlenohrring“, setzt er einen exotischen Turban auf, lässt dessen blaues Tuch vor einem schwarzen Hintergrund ähnlich strahlen wie die funkelnde Perle, die das Ohr des Mädchens schmückt.
So detailgetreu malt er, dass seine Bilder wie aus dem Leben gegriffen scheinen. Dabei ist Jan Vermeer gar nicht darauf aus, nur die sichtbare Wirklichkeit wiederzugeben. Er will von Gefühlen und Tugenden erzählen, die sich hinter ihr verbergen. Kleine Zimmer macht er in seinen Gemälden zu Schaukammern, in denen zumeist Frauen einer alltäglichen Beschäftigung nachgehen und dabei ihr Inneres offenbaren. Und das zeigt Vermeer: in ihren Gesichtern sowie mit Gegenständen, die er zu Symbolen werden lässt. Etwa die Sehnsucht einer jungen Frau, die am offenen Fenster einen Brief liest. Oder die Demut einer Magd, die behutsam Milch in ein Gefäß gießt. Es ist, als stehe die Zeit still für sie, so sehr sind sie in sich versunken.
In der "Malkunst" verleiht Vermeer dem Dargestellten einen tieferen Sinn
In der "Malkunst" übertrifft Jan Vermeer sich in seiner Fähigkeit, Unsichtbares durch Sichtbares zum Vorschein zu bringen – also Objekten und Menschen beides zu verleihen: Symbolik und Lebensnähe, tieferen Sinn und Alltagswirklichkeit.
Nicht gemalt, sondern gewebt wirkt der Vorhang zum Maleratelier: So präzise unterscheidet Jan Vermeer zwischen den matten Woll und den glänzenden Seidenfäden des Stoffes – sowie zwischen dessen Rückseite und Vorderseite, die er mit Ornamenten aus Blättern und Blüten verziert. Und Falten legt er in diesen Stoff hinein, als schlage eine unsichtbare Hand die dekorative Seite des Vorhangs zum Betrachter hin um.
Tiefe verschafft er dem Atelier, ordnet Mobiliar und Figuren perspektivisch darin an; erzeugt eine Raumillusion, die er durch seine Farben verstärkt, mit denen er natürliche Lichteffekte imitiert.
Die Schlüsselfigur der Allegorie ist das Malermodell. Mit Helligkeit umhüllt Vermeer die Frau, malt eine Lichtgestalt. Silbrig schimmert ihr blaues Gewand, ihr Gesicht scheint zu leuchten. Haarlocken umrahmen es, die wie aneinandergereihte Perlen glänzen. Und nicht nur durch seine Lichtregie lenkt Vermeer die Aufmerksamkeit auf die Frau. Seinen Maler lässt er ihr den Kopf zuwenden, die schwarzweißen Marmor fliesen des Ateliers zu ihr hinführen.
Denn da steht nicht bloß ein Modell vor dem Fenster: Der Lorbeerschmuck auf ihrem Kopf, die Trompete in ihrer rechten Hand und ein Buch, das sie in der linken hält – all das sind Requisiten, die einen Mythos beschwören. Es sind die Erkennungszeichen der Muse Klio, die nach der mythologischen Überlieferung die Schutzherrin der Geschichtsschreibung ist.
Jan Vermeer zeigt Klio so, wie sie der italienische Gelehrte Cesare Ripa 1593 in seiner „Ikonologie“ beschrieben hat, einer Schrift, die viele Kunsttheoretiker Europas in ihre Sprache übersetzt haben. Denn Ripas Buch ist eine Art Nachschlagewerk für die Darstellung von Personifikationen. Es liefert den Malern Hinweise darauf, wie abstrakte Begriffe – etwa „Malerei“ oder „Dichtung“ – als gemalte Figuren aussehen sollen.
Die Muse Klio inspiriert dem Mythos zufolge die Historiker und Dichter dazu, bedeutende Taten mit ihren Schriften zu verewigen. So symbolisieren der Lorbeerkranz, die Trompete und das Buch den Ruhm: den der Menschen, von denen die Geschichtsbücher und Dichtungen handeln, aber auch den Ruhm der Dichter selbst.
Doch weshalb steht Vermeers Klio nicht in der Stube eines Schriftstellers, sondern im Atelier eines Malers? Warum zeigt er die Muse der Geschichtsschreibung und nicht als Personifikation der Malerei? Die ist ebenfalls eine schöne Frau, so Cesare Ripa: Um ihren Hals trägt sie an einer goldenen Kette eine Theatermaske, in der einen Hand hält sie einen Pinsel, eine Farbpalette in der anderen.
Was ihr aber fehlt, sind die Ruhmessymbole, die Klio umgeben. Gerade die scheinen Vermeer besonders wichtig zu sein. Denn in voller Zahl präsentiert er sie dem Betrachter; und das bekannteste von allen dreien, den Lorbeer, zeigt er sogar zweimal in seinem Bild: Der Kopfschmuck des Modells ist auch auf der Leinwand seines Malers im Bild zu sehen.
Der arbeitet im Sitzen und benutzt einen Malstock, um die Hand zu stabilisieren, die seinen Pinsel führt. Die Werkstattkleidung eines gewöhnlichen Künstlers trägt er dabei aber nicht. Mit seinem Wams, das nach französischer Mode an Ärmeln und Rücken geschlitzt ist, sowie dem darunter weiß hervorblitzenden Hemd und den roten Seidenstrümpfen, wirkt er wie ein vornehmer Herr. Ein hochgestelltes Mitglied der Gesellschaft offenbar.
Doch wichtig ist nicht, um wen es sich bei dem Künstler handelt, sondern was er auf die Leinwand bringt. Denn als Maler vollführt Jan Vermeer Ähnliches wie die Geschichtsschreiber, von denen Ripa spricht: Er hält heroische Ereignisse lebendig.
Ist der Lorbeerkranz, das einzige farbige Objekt auf der ansonsten fast leeren Leinwand, also eine gemalte Metapher für die Aufgabe der Malerei? Und wenn die Maler nun auch selbst Ruhm erlangen, indem sie mit ihren Bildern, wie die Historiker mit ihren Büchern, ruhmvolle Menschen und deren Taten in Erinnerung rufen: Gebührt ihnen dann nicht Ruhm und Unsterblich keit wie den Historikern und Dichtern?
Einzigartige Technik: Niemand malt so subtile Lichteffekte wie Jan Vermeer
Dieser Ruhm wird Jan Vermeer zuteil werden – im 19. Jahrhundert, als die Kunstgeschichte sich zur Wissenschaft entwickelt und ihn entdeckt. Und noch einmal neu im Jahrhundert darauf, als Künstler in ihren Werken seine „Malkunst“ zitieren. Kein Kommentar aber ist überliefert dazu, wie die Kunstkenner seiner Epoche dieses nachdenkliche Gemälde verstehen. Es ist sogar ungewiss, wer es betrachten darf.
Denn Vermeer will es nicht verkaufen, vielmehr soll es vermutlich Sammlern seine Idee von Kunst vor Augen führen. Nur sie dürfen dem Künstler bei der Arbeit über die Schulter schauen und seine bedächtige, ja langsame Malweise bewundern – ganz so, wie es der leere Stuhl im Bild andeutet. Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen kann es sich der wohlhabende Künstler leisten, nur wenige Bilder im Jahr für seine zu meist gut zahlenden Kunden anzufertigen.
Wohl auch deshalb ist seine Technik einzigartig: Niemand malt so subtile Lichteffekte wie er; seine Kunstfertigkeit verleiht dem bürgerlichen Alltag einen Glanz, den viele Zeitgenossen allein der Darstellung historischer Ereignisse zugestehen. Jan Vermeer ist seiner Zeit voraus – er ist modern. Seinen Namen jedenfalls schreibt er für den Nachruhm mittig in das Bild, setzt die Signatur neben die Schultern der Klio: auf die Landkarte an der Atelierwand. Es ist eine jener Karten, die Häuser wohlhabender Bürger schmücken – und das einzige Element in seinem Bild, das von der konkreten Wirklichkeit erzählt.
Denn die Wandkarte, für die ein reales Vorbild existiert, zeigt die 17 niederländischen Provinzen im Jahr 1636, also während des Unabhängigkeitskrieges gegen die spa nischen Habsburger.Noch ist der Westfälische Frieden von 1648 nicht in Kraft, der nach dem Ende der Kämpfe die offizielle Teilung der 17 Provinzen in eine freie Republik im Norden und das weiterhin monarchisch regierte Gebiet im Süden festschreibt.
Höchstwahrscheinlich sehnt sich Jan Vermeer, Bürger der stolzen neuen niederländischen Republik, nicht in die Zeit vor deren Befreiung von den Habsburgern zurück. Doch weshalb malt er dann diese Karte? Wünscht er sich vielleicht einen neuen, wiedervereinigten Staat, der alle 17 Provinzen seiner Heimat umfasst?
Mit dem Ende des Goldenen Zeitalters enden auch die Hochzeiten von Vermeers Kunst
Sollte Jan Vermeer tatsächlich so etwas erhofft haben, so wird ihn die Katastrophe, die 1672 über die nördlichen Niederlande herein bricht, umso stärker erschüttern. In jenem Jahr erklären sowohl England als auch Frankreich der Republik den Krieg. Dem Konflikt sind in den Jahren 1652– 1654 und 1665–1667 bereits zwei Seekriege gegen die Engländer vorausgegangen, ausgelöst durch wirtschaftliche Differenzen. Die niederländische Handelsflotte ist die mächtigste der Welt, segelt im Mittelmeer, in der Karibik, an den Küsten Südostasiens, Westafrikas, an der Ostküste Amerikas.
So massiv sehen die Engländer ihre Interessen bedroht, dass die Auseinandersetzungen um Handelsmonopole auch in Friedenszeiten weitergären. Daher rüstet sich die Republik zur Seemacht auf, ist zu Wasser stets kriegsbereit. Zu Lande aber reduziert sie seit ihrer Unabhängigkeit ihre Streitmächte, verfügt über keine nennenswerte Verteidigung mehr. Und so sind die Niederlande wehrlos, als Frankreichs König Ludwig XIV. sie im Juni 1672 mit seiner Armee überfällt.
Der Franzose will gemäß einem Geheimabkommen mit Englands König die Großmachtstellung der Republik zunichtemachen: jenen Staat in die Knie zwingen und demütigen, der neben Frankreich und England die Vorherrschaft in Europa ausübt. Seine Soldaten brennen, morden, vergewaltigen.
Schließlich greift der niederländische Oberbefehlshaber zum letzten Mittel: Er lässt an der Küste Deiche durchstechen, Schleusen öffnen und große Gebiete fluten. Die Wassermassen beenden die französische Offensive – und verwüsten das Land. Handel, Landwirtschaft und Industrie leiden. Nie mehr wird sich der Staat davon erholen, weder politisch noch ökonomisch.
Das Goldene Zeitalter der Niederlande geht auf sein Ende zu; schon bald wird die Republik eine unbedeutende Mittelmacht sein. Wirtschaftlich betroffen ist auch der bürgerliche Mittelstand; Vermeers Kunden denken nun an alles andere als an Gemälde.
Die Quellen des Meisters versiegen. Und nun ist sie da, die Not, die Jan Vermeer nie kannte. Geldsorgen erdrücken ihn, seine vielen unversorgten Kinder belasten ihn. Er erkrankt, stirbt, hoch verschuldet, mit 43 Jahren. Die nicht verkauften Bilder hinterlässt er seiner Frau.
Die „Malkunst“ überschreibt sie ihrer Mutter, um wenigstens dieses Gemälde ihres Mannes – das später als sein Hauptwerk gelten wird – nicht aus der Hand zu geben. Mit weiteren Werken aus seinem Nachlass tilgt sie Schulden. Unter anderem erhält ein Bäcker zwei Gemälde. Zwei Bilder eines der größten Künstler aller Zeiten: für eine Brotrechnung.