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von GEO EPOCHE

Ursprung der Normannen Vom Piraten zum Fürsten: Wie der legendäre Wikingerführer Rollo die Normandie gründete

Buchmalerei, die eng beieinander stehende, mit Lanzen und Schilden bewaffnete Wikingerkrieger auf einem Schiff zeigt
Auf ihren schnellen Schiffen attackierten die Wikinger, die Vorfahren der Normannen, europäische Reiche vom Meer aus, fuhren auch Flüsse von der Mündung aus weit hinauf und brachten so Angst und Schrecken ins Landesinnere (Buchmalerei von ca. 1100)
© BnF
Über Jahrhunderte prägten die Normannen als Ritter und Könige die mittelalterliche Welt. Doch ihre glanzvolle Geschichte begannen sie als plündernde Piraten: Die Banden ihrer wikingischen Vorfahren machten lange die Küsten Europas unsicher, raubten und mordeten. Im Jahr 911 aber schloss der skandinavische Seeräuber Rollo ein wegweisendes Abkommen mit dem fränkischen König. Die Allianz ließ den Nordmann nicht nur zum Grafen von Rouen aufsteigen. Sie bedeutete auch: die Geburtsstunde der Normandie, der normannischen Urheimat

So könnte es gewesen sein: ein Herbsttag im Jahr 911, zwei Zeltlager, die sich an den Ufern des kleinen Flusses Epte, auf halbem Weg zwischen Paris und Rouen, gegenüberliegen. In den beiden Lagern: ungleiche Männer, die sich über das Wasser hinweg argwöhnische Blicke zuwerfen; Wikinger, räuberische Seekrieger aus Skandinavien, auf der einen Seite, auf der anderen westfränkische Adelige aus dem Gebiet des heutigen Frankreich.

Erst einige Wochen ist es her, dass sich diese Kämpfer vor der Stadt Chartres, südwestlich von Paris, eine Schlacht geliefert haben, in der Tausende umgekommen sind. Die Franken konnten die Wikinger dabei in die Flucht schlagen, doch es war klar, dass auch dieser Sieg keinen dauerhaften Frieden bringen würde. Zu oft haben die Nordmänner das Reich schon überrannt, zu oft ist niemand in der Lage gewesen, sie wirklich daran zu hindern, weiter und weiter ins Landesinnere vorzustoßen, zu rauben, zu morden, zu vergewaltigen. Der Sieg bei Chartres, der Moment der Stärke, aber eröffnet den Franken eine kostbare Möglichkeit: zu verhandeln.

Und so steht an dem einen Ufer der Epte an diesem Herbsttag der westfränkische König Karl aus dem Geschlecht der Karolinger und auf dem gegenüberliegenden: Rollo, ein ehrfurchtgebietender Skandinavier, Chef eines gefürchteten Wikingerverbands, der nun schon seit mehr als 30 Jahren im Reich der Westfranken wütet. Nachdem der Nordmann den Fluss überquert hat, beginnt die Unterredung.

Das Angebot, das der König vorlegt, ist spektakulär. Er will Rollo einen Teil seines Landes übertragen, ihm und seinen Nachfahren zum Eigentum, möchte ihm überdies seine Tochter zur Frau geben – beides würde dem Wikinger Zugang zu den höchsten Rängen des fränkischen Adels eröffnen. Dafür fordert Karl auch Gegenleistungen: Rollo muss den Raubzügen in seinem Reich abschwören und es gegen andere plündernde Wikinger verteidigen. Zudem soll er sich taufen lassen und dem König auch gegenüber weiteren Feinden militärischen Beistand leisten. Die Offerte, die Unterhändler des Herrschers schon in den Wochen zuvor mit dem Nordmann erörtert haben, ist zu verlockend: Rollo willigt ein. Und so besiegeln die beiden nach kurzer Zeit ihre denkwürdige Einigung.

Niemand weiß, ob sich das Treffen an der Epte genauso zugetragen hat. Der Kleriker Dudo von Saint-Quentin, der davon als einziger Chronist in seiner etwa 100 Jahre später geschriebenen Geschichte der Normannen berichtet, erzählt eher eine mit viel Fantasie gestaltete Legende, die Rollo und seine Nachfolger in bestem Licht erstrahlen lassen soll. Eines jedoch steht fest: Es muss ihn gegeben haben, jenen folgenreichen Moment der Übereinkunft.

Metallene Lanzenspitze aus dem 9. Jahrhundert
Zu den Waffen der hochgerüsteten Skandinavier gehörten Lanzen wie dieses wohl im Frankenreich gefertigte Exemplar aus dem 9. Jahrhundert. Beliebte Ziele der Wikinger waren oft die wohlhabenden Klöster mit ihren Reichtümern und gut gefüllten Vorratskammern
© Yoann Deslandes / Rouen Musée départemental des Antiquités

Und es ist ein erstaunliches Abkommen, das den skandinavischen Piraten Rollo zum Grafen von Rouen werden lässt. Noch erstaunlicher aber ist, was aus seiner Grafschaft bald hervorgeht. Denn das Bündnis zwischen Monarch und Nordmann, mutmaßlich vereinbart nahe dem kleinen Ort Saint-Clair-sur-Epte, legt den Grundstein für einen weitaus größeren, beispiellosen Wandel: Innerhalb von nur einigen Jahrzehnten werden in jenem den Wikingern vermachten Territorium nördlich von Paris aus marodierenden heidnischen Horden gute Christen, die nach fränkischer Sitte leben. Werden aus brutalen Invasoren Stützen des Reiches, aus fremden Räubern einheimische Ritter. Zugleich aus früheren Leidtragenden treue Untertanen, die gemeinsam mit den neuen Herren ein aufblühendes Gemeinwesen erschaffen. Das Bündnis zwischen Rollo und Karl markiert nicht weniger als die Geburtsstunde der Normandie.

Generationenlang haben die Wikinger nichts erschaffen, sondern nur zerstört. So zumindest sehen es die Bewohner an den europäischen Küsten, die von ihnen heimgesucht werden. Anfangs noch kennen die Menschen dieser Gestade die Männer aus dem Norden vor allem als friedliche Händler, die auf ihren Schiffen während der Sommermonate anlanden, Felle, Holz und getrockneten Fisch mitbringen und am Ende der warmen Jahreszeit mit Wein, Glas, Getreide und Waffen wieder nach Hause zurückkehren.

Bald jedoch ändert sich das. Denn gegen Ende des 8. Jahrhunderts verlassen immer mehr skandinavische Männer für solche Fahrten ihre Heimat, gründen in der Fremde bald auch erste Stützpunkte, zunächst auf den Schottland vorgelagerten Inseln wie den Orkneys. Schon jetzt zögern die Wikinger nicht, gewaltsam zu plündern, wenn sich ihnen keine Möglichkeit zum Handel bietet.

Ganz Europa sprach über die Grausamkeiten der Wikinger

Doch erst der brutale Überfall auf das Kloster Lindisfarne auf einer Insel vor Nordostengland im Jahr 793 bringt die Männer aus dem Norden schlagartig in das Bewusstsein der europäischen Christenheit. Die Gräueltaten entsetzen die Gläubigen und mahnen ihre Herrscher, sich gegen die neue Gefahr zu wappnen. Zu Recht: Bald tauchen die Wikinger auch weiter im Süden auf, etwa an der friesischen Küste in den heutigen Niederlanden, einem Gebiet, das damals zum Frankenreich Karls des Großen gehört, plündern, bringen Tod und Zerstörung.

Was die Skandinavier genau antreibt, ist bis heute ein Rätsel. Ist es die Kargheit ihrer Heimat, der Hunger nach jenen Reichtümern, die viele von ihnen auf ihren Handelsreisen in fremden Städten zu Gesicht bekommen haben? Oder sind gerade die ersten brutalen Überfälle auf das Fränkische Reich eher eine Reaktion auf andere Gewalt, auf das Streben Karls des Großen, das Christentum nach Norden zu tragen – mit oft nicht weniger brutalen Mitteln?

Wie dem auch sei: Die größte Stärke der Nordmänner ist bald schon die Schwäche des Frankenreiches. Zu Beginn der Überfälle gebietet Karl der Große zwar noch fest über das gewaltige Imperium, das sich von der Nordsee bis zum Mittelmeer, von der Donau bis zu den Pyrenäen erstreckt. Und der Herrscher reagiert schnell, lässt Schiffe bauen und Wachposten entlang der Küsten errichten. Noch unter seinem einzigen Sohn Ludwig dem Frommen können die Maßnahmen zum Schutz der Meeres- und Flussufer Schlimmeres verhindern.

Buchmalerei, auf der zwei kleine Gruppen von Kriegern mit erhobenen Schwertern gegeneinander kämpfen
Weil sie sie in Gefechten kaum bezwingen konnten, strebten fränkische Fürsten bald Bündnisse mit den Nordmännern an. Mit dem Wikingerführer Rollo gelang eine ebenso dauerhafte wie folgenreiche Einigung (Buchmalerei, 14. Jh.)
© British Library

Aber in den 830er Jahren verstricken sich Ludwig und seine Söhne in einen erbitterten Machtkampf, unter dem auch die Verteidigung des Reiches leidet. Die Wikinger nutzen die Chancen, die sich für sie ergeben – und aus gelegentlichen Überfällen werden regelmäßige Beutefahrten. Jeden Sommer attackieren sie fortan die fränkischen Küsten, dringen entlang der Flüsse in immer größeren Flottenverbänden immer tiefer ins Land, plündern etwa Rouen an der Seine, überfallen Städte an Loire und Garonne, weiter im Osten auch Hamburg. Später werden sie weit den Rhein hinauffahren und unter anderem Köln und Bonn heimsuchen.

Ihr Trumpf dabei sind ihre Schiffe, schlank und doch ungeheuer stabil, mit Segeln und Ruderreihen bestückt, von einer Schnelligkeit, der die Gefährte der Franken kaum etwas entgegenzusetzen haben. In ihrer von Küsten, Inseln und Sunden geprägten Heimat haben die Wikinger ihre Schiffstechnik über Jahrhunderte perfektioniert. An den Ufern der fremden Flüsse verlassen die Nordmänner aber auch vielfach ihre Fahrzeuge, rauben Pferde, auf denen sie weiter übers Land jagen. Zu Hunderten, mitunter wohl auch zu Tausenden unternehmen sie ihre Raubzüge. Jeder Krieger führt meist mehrere Waffen mit sich: Schwert, Axt, Messer, oft einen Speer. Schilde, womöglich auch Lederpanzer oder Kettenhemden schützen den Körper im Gefecht.

Wie aus dem Nichts kamen die Angriffe

Wo aber die Kämpfe stattfinden, wann die Wikinger als Nächstes zuschlagen, kommt für die Gegner meist überraschend, ohne jegliche Vorankündigung. Die Plünderer bevorzugen Orte abseits der befestigten Städte. Klöster mit ihren Schätzen gehören zu den bevorzugten Zielen: Die Männer tauchen plötzlich nachts vor deren Toren auf oder greifen zu religiösen Festtagen an, wenn alle zum Gottesdienst versammelt sind.

Chronist Dudo beschreibt später das Grauen, das sich den Franken wieder und wieder ins Gedächtnis brennt: Die Angreifer schneiden ihren "unglücklichen Opfern mit dem Schwert die Kehle durch. Die Geistlichen werden gepeinigt und erleiden einen schrecklichen Tod. Die Frauen werden, nachdem sie von vielen von ihnen entehrt wurden, weinend in die Fremde verschleppt."

Um 850 kehren die brutalen Räuber aus dem Norden am Ende des Sommers teils gar nicht mehr nach Skandinavien zurück, sondern überwintern stattdessen auf fränkischem Boden, zunächst meist auf vorgelagerten Inseln. Von diesen Stützpunkten, bald auch von permanenten Siedlungen aus können sie immer leichter größere Armeen zusammenziehen.

Bräunlich schimmernder metallener Wikingerhelm mit zwei Gucklöchern für die Augen
Die Franken hofften, der hoch angesehene Anführer der Eindringlinge könne andere Gruppierungen der Nordmänner von ihren brutalen Angriffen abhalten. Dafür überließ der fränkische Monarch Rollo einen Teil seines Reiches (Wikingerhelm aus Norwegen, um 900)
© AISA / Bridgeman Images

Inzwischen haben die drei noch lebenden Söhne des verstorbenen Kaisers Ludwig das Reich unter sich aufgeteilt. Ihre Machtposition gegenüber den Wikingern hat das nicht verbessert: Meist sehen die Herrscher keine andere Möglichkeit, als die Plünderer durch hohe Tributzahlungen zum Abzug zu bewegen. Doch gibt es noch einen weiteren Weg, den Eindringlingen zu begegnen.

Denn die Suche nach Land, auf dem sie sich dauerhaft niederlassen können, scheint für die Nordmänner nun immer wichtiger zu werden. Um 865 fallen Heerscharen von Skandinaviern über England her und erobern große Gebiete im Norden und Osten des Inselreichs, wo sich in der Folge viele Dänen ansiedeln. Mehrfach versuchen fränkische Herrscher daher, Bündnisse mit Wikingern zu schließen, indem sie ihnen Gebiete abtreten, etwa in Friesland, um sie zu befrieden und darüber hinaus zur Landesverteidigung zu verpflichten. Die Allianzen scheitern aber allesamt nach kurzer Zeit; die betreffenden Wikingerführer erweisen sich als treulose Partner oder sind selbst zu schwach, um sich gegen Konkurrenten zu behaupten.

Derweil setzen sich andere Nordmänner immer ehrgeizigere Angriffsziele: Im Jahr 885 fährt ein gewaltiges Wikingerheer, nach modernen Schätzungen wohl 12 000 Mann auf rund 300 Schiffen, die Seine hinauf in Richtung Paris. Die Stadt ist zwar noch nicht das alles überragende Machtzentrum späterer Zeiten, aber äußerst wohlhabend und strategisch bedeutsam. Die befestigten Brücken, die hier den Fluss überspannen, haben die Wikinger bislang daran gehindert, noch weiter ins westliche Teilreich vorzudringen.

Am 24. November beobachten die Pariser entsetzt von den Mauern aus, wie die Seine kilometerweit unter Hunderten Schiffen förmlich verschwindet. Als die Wikinger einige Tage nach ihrer Ankunft zum Angriff übergehen, verdunkeln Pfeile und Wurfgeschosse den Himmel, so schreibt es ein anwesender Mönch in einer Verserzählung über die Belagerung. Doch die Stadt hält unter Führung des Grafen Odo über ein Jahr lang stand, selbst als die Wikinger riesige Rammböcke bauen und die Mauern mit Katapulten und brennenden Schiffen attackieren.

Erst im folgenden Oktober kommt Kaiser Karl (später genannt "der Dicke"), der zu dieser Zeit noch einmal alle Teile des Frankenreichs unter einer Herrschaft vereinigt hat, Paris zu Hilfe. Vielversprechend glitzern die Waffen seiner Truppen im Sonnenlicht, schreibt der Mönch, "als ob der Himmel voll strahlender Sterne sei". Doch anstatt zu kämpfen, verspricht Karl den Wikingern einen Tribut in Silber, damit sie weiterziehen. Es ist ein Offenbarungseid. Ein knappes Jahrhundert nach den ersten Attacken haben die Herrscher des Frankenreichs den Angreifern aus Skandinavien nichts Wirksames entgegenzusetzen.

Ein riesenhafter Fürstensohn aus Norwegen: Rollo

Einer der Wikingerführer, die an der Belagerung von Paris teilnehmen, ist Rollo, so zumindest wird es der Chronist Dudo später berichten. Allerdings ist der Befehlshaber in den frühen Quellen nur schwer fassbar. Dudo beschreibt Rollo, der wohl in den 850er Jahren geboren wird, als einen Fürstensohn aus Skandinavien, der nach dem Tod seines Vaters aus seiner Heimat fliehen muss, weil ein König Anspruch auf dessen Land erhebt. Über eine Insel namens Scanza (wohl in den Orkneys) und England kommt er demnach mit seinen Kriegern schließlich ins Frankenreich. Dort überfällt Rollo die Küstengebiete, erpresst hohe Tributzahlungen und Lösegelder, verwüstet auch, so schildert es Dudo, die Gegend am Fluss Schelde so gründlich, dass eine Hungersnot ausbricht.

Mehrere nordische Quellen stellen den späteren Gründer der Normandie allerdings etwas anders dar. Sie erzählen von dem Abkömmling eines mächtigen Adeligen aus Norwegen, mit Namen Göngu-Hrólfr ("Rolf der Geher"), der so groß sei, dass kein Pferd ihn tragen könne – weshalb er überallhin zu Fuß gehe. Seine Heimat musste dieser Riese verlassen, so einer dieser Berichte, weil der König ihn wegen mehrerer Plünderungszüge im eigenen Land verbannt habe. Heute sind die Details von Rollos Herkunft und Lebensweg nicht mehr genauer zu ergründen. Außer Frage steht jedoch seine Gewaltbereitschaft – und dass er sich irgendwann dem Gebiet am Unterlauf der Seine zuwendet, bei der Stadt Rouen.

Buchmalerei, die Rollo zeigt, der ein Schiff verlässt und von einem Geistlichen empfangen wird
Tatsächlich blieben die Angriffe in der Region – besonders zur Freude der Mönche und Kleriker – nach Rollos Ansiedlung aus. Bald gelang es dem neuen Fürsten, sein ursprünglich auf das Gebiet rund um Rouen beschränktes Territorium erheblich zu vergrößern (Buchmalerei, um 1400)
© Photo Josse / Bridgeman Images

An der Belagerung von Paris ist Rollo offenbar nur zeitweise beteiligt. Dudo jedenfalls berichtet, der Nordmann habe währenddessen die Stadt Bayeux angegriffen. Dabei gerät eine junge einheimische Adelige namens Poppa in seine Gewalt. Rollo nimmt sie zur Frau – "nach dänischer Sitte", wie es in einer Quelle heißt, also ohne christlichen Segen.

Eine Weile lebt der Wikinger Dudo zufolge in England, angeblich um einen durch eine Rebellion bedrohten König zu unterstützen. Doch anschließend soll Rollo sich mit voller Kraft dem Frankenreich zugewandt, dort weite Landstriche mit Raubzügen überzogen haben. Im Jahr 911 dann führt er seine Kämpfer bei der Belagerung von Chartres an.

Mittlerweile haben sich die Machtverhältnisse im Westfränkischen Reich nochmals drastisch geändert. Markgraf Robert, der Bruder von Odo, dem Verteidiger von Paris, ist zum starken Mann im Westen des nunmehr endgültig geteilten Reiches aufgestiegen, ein einflussreicher Fürst, der den Wikingern mit mehr Wucht entgegenzutreten vermag. Unter seiner Führung triumphieren die Franken bei der Schlacht vor Chartres und schlagen die Gegner in die Flucht.

Der Feind wandelte sich zum Bündnispartner 

In Dudos mitunter fantastischen Schilderungen sehen die Sieger von einer Verfolgung der Wikinger ab, weil diese sich hinter einem Wall aus blutigen Kadavern eilig geschlachteter Tiere verschanzt haben. Der Held des Chronisten, der hünenhafte Rollo, taucht nun auch in anderen Quellen als Anführer auf. Offenbar hat er sich inzwischen größere Anerkennung erworben. Und anscheinend trauen ihm die Franken jetzt sogar zu, die anderen Wikinger in Schach zu halten.

Warum sie erneut die gezielte Ansiedlung von Wikingern erwägen, obwohl alle vorherigen Versuche gescheitert sind, ist nicht überliefert. Womöglich, weil nur noch wenig zu verlieren ist. Gerade das Gebiet um Rouen, um das es gehen soll, ist vermutlich derart durch Kämpfe verheert, dass die Einwohner sich in ihrer Verzweiflung wohl jeder möglichen Lösung zuwenden. Und so ist es nach Dudo auch der Erzbischof von Rouen, der dem Wikinger als Erster den Vorschlag der Franken unterbreitet: Ein enges Bündnis soll anstelle eines Krieges treten, den das Volk nicht länger auszuhalten vermöge.

Damit überhaupt ein gültiger Vertrag mit den Nordmännern zustande kommen kann, ist es für die Franken unumgänglich, dass Rollo und möglichst alle seiner Gefährten den christlichen Glauben annehmen. Auch meinen sie wohl, die zukünftigen Bündnispartner so enger an sich zu binden, sie auf gemeinsame Moral und Werte verpflichten zu können.

Buchmalerei, die zeigt, wie Rollo inmitten von Geistlichen in einem Holzbottich stehend getauft wird
Auch die Taufe forderten die Franken von Rollo und seinen Leuten. Doch ihm diente die Zeremonie (hier dargestellt in einer Buchmalerei von ca. 1400) wohl nur als Mittel zum Zweck. Und für viele seiner wikingischen Mitstreiter blieb der Sinn des Rituals anfangs vermutlich bedeutungslos
© KHARBINE-TAPABOR / imago-images

Damit auch Rollo sich der dauerhaften Anerkennung durch die Franken sicher sein kann, verspricht König Karl ihm seine Tochter Gisla, zu jener Zeit noch ein Kind, zur Frau. Nach erfolgreichen Vorgesprächen, die der Erzbischof und Markgraf Robert mit Rollo führen, besiegeln die Parteien schließlich ihren so bedeutsamen Bund, vermutlich an den Ufern des Flusses Epte im Jahr 911.

Das Land, über das Rollo – inzwischen über 50 Jahre alt – nun offiziell gebietet, ist in seiner Größe nicht klar umrissen. Seine Grenzen folgen aber in etwa denen des Erzbistums von Rouen, beschreiben ein Gebiet, das sich von der Stadt Eu im Osten bis über das heutige Le Havre hinaus im Westen erstreckt und damit auch die Mündung der Seine umfasst, eines der großen Einfallstore von Wikingern ins Frankenreich, das Rollo nun bewachen soll.

Und tatsächlich schafft es der neue Graf, die Überfälle in der Region umgehend zu stoppen. Doch Rollo stellt sich noch eine ganz andere Herausforderung: Er muss jetzt von seiner Hauptstadt Rouen aus eine funktionierende Herrschaft aufbauen, eine Bevölkerung regieren, die diverser kaum sein könnte.

Schon Rollos eigene Leute sind unterschiedlichster Herkunft. Unter ihnen befinden sich neben seinen ursprünglichen Gefolgsmännern viele Abenteurer, die sich ihm wohl vor allem in der Hoffnung auf Beute angeschlossen haben: Skandinavier aus verschiedensten Heimatgebieten, aber auch schottische und irische Kelten, Engländer, Friesen. 

Im neuen Reich bilden diese Personen, wohl höchstens einige Tausend Männer und sehr wenige Frauen, freilich nur eine kleine Minderheit, sind sie umgeben von einer Bevölkerung, die ihnen, deren Gräueltaten der vergangenen Jahre sie kaum vergessen kann, zum Teil zutiefst misstraut. Um unter den Untertanen dauerhaft Frieden zu wahren und so seine Herrschaft zu sichern, das erkennt Rollo wohl, sollten sich seine Männer den Franken anpassen, nicht umgekehrt.

Würden die Franken Rollos Leuten jemals trauen?

Dass der Fürst sich taufen lässt, ist ein erster Schritt auf diesem Weg. Seit über 30 Jahren hält Rollo sich immer wieder im Frankenreich auf, hat in dieser Zeit die Christin Poppa zur Frau genommen und zwei Kinder mit ihr. Er weiß, dass ihn die christlichen Herrscher der umgebenden Reiche nie als rechtmäßigen Fürsten anerkennen werden, wenn er nicht den nordischen Göttern abschwört. 

Für nicht wenige wikingische Kämpfer war die Taufe zuvor wohl kaum mehr als eine festliche Zeremonie, der sie gerne beiwohnten, ohne ihrer Bedeutung irgendwelche Beachtung zu schenken. Für Rollo selbst mag sie zunächst vor allem Mittel zum Zweck sein. Und auch wenn er seine Gefolgsleute auffordert, es ihm gleichzutun: Nicht alle werden auf ihn hören. Genauso werden sich nicht die Franken sofort in Sicherheit wiegen, nur weil sich diejenigen, die bis vor Kurzem noch ihre Heimat verwüstet haben, nun in größerer Zahl zum Christentum bekennen.

Rollo regierte hart – und passte sich zugleich an

Um das Vertrauen in seine Herrschaft zu steigern, regiert Rollo deshalb mit harter Hand. Vor allem Raub stellt er unter viel strengere Strafen, als es sonst im fränkischen Reich üblich ist: Ächtung und Tod drohen nicht nur dem Täter selbst, sondern auch jedem, der ihm hilft. Rollos Regime ist so berüchtigt, dass noch im 12. Jahrhunderts ein Chronist darüber berichtet, wie Rollo einmal auf der Jagd in einem Wald bei Rouen drei goldene Armbänder in den Zweigen einer Eiche aufgehängt haben soll, die über Jahre niemand zu stehlen wagt.

Vor allem aber bemüht sich der Graf um Kontinuität, übernimmt neben der Religion auch politische Strukturen des Frankenreichs, belässt es etwa bei den gewohnten Ämtern. Rollo profitiert davon, dass in den Jahrzehnten zuvor zahlreiche Adelige und Geistliche vor den Wikingern geflohen sind – sofern sie nicht ihre Standhaftigkeit mit dem Leben bezahlt haben. Rollo kann daher viele vakant gewordene Ämter mit Gefolgsleuten besetzen, ohne sich die Feindschaft alteingesessener Mächtiger, die er verdrängen muss, einzuhandeln.

Die Flucht der alten Eliten hat zudem viel Land frei werden lassen, das er nun verteilen kann. Rollo selbst, dem ohnehin die Ländereien zufallen, die zuvor dem König oder dessen Repräsentanten gehört haben, sichert sich auch viele der verlassenen Anwesen, andere verwendet er dazu, seine engen Vertrauten zu belohnen.

Buchmalerei, die die Ankunft von Rollos Schiff vor den Mauern einer Stadt zeigt
Von Rouen, seiner Hauptstadt, aus baute Rollo seine Verwaltung auf. Dabei übernahm er Strukturen und Gesetze seiner Vorgänger. Viele der skandinavischen Siedler tauschten bald ihre wikingische Kultur gegen die des Frankenreichs. Die Normandie entstand (Buchmalerei von etwa 1485, die die Ankunft von Rollos Schiff in Rouen zeigt)
© British Library / akg-images

Doch längst nicht alles verläuft so reibungslos. Um 913 schreibt der Erzbischof von Rouen besorgt an einen Amtskollegen. Viele der neuen Christen, so klagt er, huldigten noch immer ihren alten Göttern. Schlimmer noch: Einige würden weiterhin fränkische Christen attackieren, sie sogar töten, darunter Geistliche. Auch Rollo nehmen viele Franken seine Bekehrung nicht ab. Er habe, wird ein Chronist rund 100 Jahre später behaupten, im Angesicht des Todes zwar reichlich Gold an die christlichen Kirchen verteilt, zugleich jedoch seinen anderen Göttern Gefangene opfern lassen.

Fest steht: Ein Friedensfürst wird Rollo durch seine Konversion nicht. Gelegentlich unternimmt er auch jetzt noch Plünderungszüge, etwa nach Flandern im Nordosten. Zugleich vertraut er nicht darauf, dass die fränkischen Nachbarn sein Territorium respektieren. Ein Großteil seiner Anstrengungen dreht sich darum, hier Befestigungen wieder aufzubauen sowie neue Bollwerke zu errichten.

Gefahr für den neuen Fürsten drohte von überallher

Die Sorge um die eigene Sicherheit ist weise. Denn außerhalb seines Reiches spitzt sich ein Konflikt zu, der schon lange schwelt. Im Jahr 922 lässt sich Markgraf Robert zum König im Westfrankenreich ausrufen. Auch Rollo, der ja dem Karolinger Karl die Treue geschworen hatte, wird in diesen Zwist hineingezogen. Robert stirbt bereits ein Jahr später in einer Schlacht gegen Karl, seine Parteigänger aber erheben seinen Schwiegersohn Rudolf zum neuen König. Rollo hält zunächst weiter zu Karl, verständigt sich dann aber mit Rudolf – der ihm 924 die westlich an sein bisheriges Territorium angrenzenden Gebiete mit der Stadt Bayeux zubilligt.

Bald kommt es jedoch gerade in diesen Gegenden zu inneren Unruhen, erheben sich Wikinger, die sich zuvor schon hier niedergelassen hatten und sich nicht damit abfinden wollen, dass sie nun unter der Herrschaft des Grafen von Rouen leben sollen.

Die Probleme nahmen zu. Rollos Schwäche auch

Und auf einmal türmt sich für Rollo eine dreifache Bedrohung auf: Während die wikingischen Aufständischen weite Landstriche der westlichen Grafschaft verheeren, wittert ein mächtiger Adeliger aus dem Lager König Rudolfs die Chance, Teile von Rollos Gebiet in seinen Besitz zu bekommen, und lässt seine Truppen einfallen. Schließlich setzen auch noch diejenigen Fürsten, die Rollo durch seine Attacken im Nordosten gegen sich aufgebracht hatte – darunter Arnulf von Flandern –, zum Gegenschlag an und belagern die Grenzstadt Eu.

Rollo selbst kann bei den Angriffen von allen Seiten vermutlich kaum noch in die Kämpfe eingreifen. Anscheinend ist der inzwischen wohl über 70-Jährige so geschwächt, dass er es einige Zeit später für ratsam hält, zumindest einen Teil der Verantwortung an seinen Nachfolger abzugeben. 927 beteiligt er daher seinen Sohn Wilhelm an der Regierung, den Spross mit der fränkischen Adeligen Poppa. (Zur versprochenen Hochzeit mit Gisla, der Tochter des französischen Königs, war es wahrscheinlich nie gekommen, vielleicht weil sie noch als Kind starb.)

Wilhelm (später mit dem Beinamen "Langschwert" versehen) ist zu dieser Zeit wohl bereits über 30 Jahre alt. Doch auch wenn er wie sein Vater ein tapferer Krieger ist: Aus dieser Krise rettet sie vor allem ihr geschicktes Lavieren zwischen den verfeindeten Lagern, die im Westfrankenreich um die Macht ringen. Auch von Wikingerrebellionen im Inneren ist nun für einige Jahre nichts überliefert, offenbar kehrt Ruhe ein im Reich der Nordmänner. Bis zum Tod des Gründers.

Buchmalerei mit einem Stammbaum, der die Porträts von Rollo, seinem Sohn Wilhelm und seinem Enkel Richard zeigt
Begründer einer Dynastie: Als Rollo (oben) um 932 im Alter von ungefähr 75 Jahren aus dem Leben schied, hatte sein Sohn Wilhelm die Regierung wohl bereits übernommen. Auf Wilhelm folgte dessen Spross Richard, der fast 50 Jahre – zuletzt wahrscheinlich schon als Herzog – herrschte
© British Library / akg-images

Um 932 stirbt Rollo im Alter von etwa 75 Jahren, erschöpft von einem langen Leben, in dem er sich zunächst zu einem der mächtigsten Wikinger seiner Zeit emporgekämpft hatte. Um sich dann in etwas völlig Neues zu verwandeln: einen christlichen Fürsten mit wikingischen Wurzeln, der mit Anpassungsfähigkeit, Härte und diplomatischem Geschick eine ganze Gesellschaft umformt – oder zumindest den Anfang dazu macht. Schon zu Rollos Lebzeiten beginnt in seinem Reich eine neue Generation heranzuwachsen, Nachkommen der meist männlichen skandinavischen Zuwanderer, die mit einheimischen fränkischen Frauen Familien gegründet haben. Die Keimzellen einer Bevölkerung der Zukunft.

Eine neue Gesellschaft: gemischt aus Wikingern und Franken

Und doch ist die Grafschaft, die er seinem Sohn hinterlässt, fragil. Bereits kurz nach Rollos Tod erhebt sich eine Gruppe von Wikingern gegen die Politik der Anpassung und den neuen Fürsten, der selbst halber Franke ist. Zwar kann Wilhelm den Aufstand niederschlagen. Doch unzufriedene Nordmänner bleiben eine ständige Bedrohung. Auf der anderen Seite kann Wilhelm das normannische Territorium mit Zustimmung von König Rudolf im Westen nochmals erweitern.

Gleichzeitig aber kämpft Wilhelm stets um die Anerkennung der fränkischen Großen. Denn noch immer ist er für viele nur der Anführer von Piraten. Ein Chronist überliefert, wie er 940 zwar zu dem Treffen des inzwischen amtierenden westfränkischen Königs, des Karolingers Ludwig IV., mit dem ostfränkischen König geladen wird. Als sich die Monarchen und die übrigen Fürsten jedoch zu wichtigen Unterredungen zurückziehen, habe man vor Wilhelm das Zimmer verschlossen. Rasend vor Wut, habe der Graf daraufhin sehr deutlich gemacht, dass er auf einer Teilnahme bestehe – und die Tür eingetreten.

Wie sein Vater macht sich Wilhelm Feinde, weil er zwischen den Welten lebt, bei aller Anbiederung an die Franken noch immer die Sprache der Wikinger spricht, offen neben seiner kinderlosen Ehe mit einer fränkischen Adeligen mit einer anderen Frau nach dänischer Sitte verbunden ist, deren Sohn er als seinen Nachfolger erwählt. Die noch immer eintreffenden Skandinavier, die sich in seinem Herrschaftsgebiet ansiedeln wollen, heißt er zudem in großer Zahl willkommen, pflegt enge wirtschaftliche Kontakte mit den Reichen im Norden.

Auf Rollos Sohn lauerten Attentäter

Und wie sein Vater strebt er wohl danach, seinen Machtbereich auch im Osten weiter auszudehnen – und gerät darüber in Konflikt mit Arnulf von Flandern, mit dem schon Rollo gerungen hatte. Im Dezember 942 treffen sich Arnulf und Wilhelm zu Verhandlungen auf einer Insel in der Somme, wo Arnulfs Männer über den Normannen herfallen und ihn ermorden. Eine Bestrafung durch den König, wie sie ein solches Verbrechen an einem fränkischen Lehnsmann wohl hervorgerufen hätte, bleibt im Fall des "Piratenfürsten" aus.

Der Mord bringt das von Rollo gegründete Reich, nur gut 30 Jahre nach den Anfängen, an den Abgrund. Denn Wilhelms Sohn Richard, der neue Graf, ist beim Tod seines Vaters noch minderjährig. Erneut bricht von allen Seiten Unbill herein. König Ludwig versucht, die Grafschaft unter seine Kontrolle zu bringen. Zwar erkennt er Richard formal als Fürsten an, lässt den Jungen jedoch an seinen Hof bringen und behält ihn unter strenger Bewachung in seiner Obhut. Unterdessen entfesseln abermals Wikinger auf dem Gebiet des Grafen einen Aufstand.

Am Ende kann Richard sich behaupten – indem er sich Hugo andient, dem Sohn des vormaligen Königs Robert, der mittlerweile seinerseits im Kampf mit dem Karolinger Ludwig um die Vorherrschaft steht. Als Hugo seinem Verbündeten anbietet, ihn mit seiner Tochter Emma zu verloben, nimmt der Graf bereitwillig an, bindet sich damit noch stärker an das aufstrebende Haus Hugos.

Der Enkel trug erstmals einen klangvollen Titel: Herzog

Fast 50 Jahre wird Richard regieren. In dieser Zeit erreichen weiterhin große Wikingergruppen sein Herrschaftsgebiet, lassen sich Skandinavier vor allem in dessen Westen nieder, unter denen sich ebenfalls viele der Christianisierung widersetzen. Doch Richard gelingt es, auch diese Neuankömmlinge von der Taufe zu überzeugen – durch eine packende Rede, wie Dudo es schildert, tatsächlich aber wohl durch eine Mischung aus Druck und Entgegenkommen. So nimmt er die Tochter einer vermutlich erst kürzlich aus Dänemark zugezogenen Familie zur Frau – zunächst nach dänischer Sitte, nach dem frühen Tod seiner ersten Gattin Emma jedoch auch nach christlichem Ritus.

Irgendwann nachdem sich der Sohn von Hugo 987 zum König des Westfrankenreiches aufgeschwungen und die Dynastie der Kapetinger begründet hat, passiert etwas Bemerkenswertes. Richard, verschwägert mit dem Monarchen, beansprucht nun einen neuen Titel für sich: "Herzog". Den höchsten Adelsrang unter dem König.

Die Geburt der Normandie

Als Richard 996 stirbt, 85 Jahre nach dem Vertrag Rollos mit König Karl, ist aus dem wikingischen Piratengebiet um Rouen ein politisch gefestigtes Fürstentum geworden. Der Gründer und seine Nachfolger haben aus ehemaligen Plünderern und ihren Opfern, aus Heiden und Christen, eine großteils geeinte Bevölkerung geformt. Und die Zeitgenossen verwenden für dieses Reich – nach der "nordmännischen" Herkunft seiner Herrscher – nun immer häufiger einen passenden Namen: das Herzogtum der "Normandie".

Erschienen in GEO EPOCHE Nr. 125 "Die Normannen" (2024)

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