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Medizinethik Wann sollte man versuchen, ein Extrem-Frühchen zu retten? Und wer entscheidet das?

Wenn ein Kind vor der 24. Woche geboren wird, ist es ein Extremfrühchen. Sein Leben steht auf der Kippe
Wenn ein Kind vor der 24. Woche geboren wird, ist es ein Extremfrühchen. Sein Leben steht auf der Kippe
© Giulio Di Sturco für GEO
Medizinethikerin Prof. Claudia Wiesemann spricht über ethische Grenzen in der Neonatologie und wie Eltern von Extrem-Frühgeborenen in Zukunft geholfen werden kann. Die GEO-Titelgeschichte beschreibt den Kampf um die Kleinsten der Kleinen, die vor der 24. Woche zur Welt kommen 
von Charlotte Köhler

GEO: In Deutschland werden Frühgeborene im Regelfall ab der 24. Schwangerschaftswoche intensivmedizinisch behandelt. Davor liegt eine Grauzone, ein Entscheidungsspielraum. England etwa legt sich schon auf die 22. Woche fest. Ist es an der Zeit, bei uns die Grenze zu verschieben?

Prof. Claudia Wiesemann: Nein, denn für den Zeitraum zwischen der 22. und 24. Woche ist der Ausgang kaum sicher vorherzusagen. Mit einer starren früheren Grenze tut man den Kindern nichts Gutes. Diese Phase, das belegen Untersuchungen, ist besonders kritisch: Da ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein so früher Embryo überlebt, gering und das Risiko von Schädigungen hoch. Nicht für jedes der Babys, die in der Grauzone geboren werden, ist also eine intensivmedizinische Behandlung der richtige Weg. Daher sollte es keine starre Grenze geben, die bestimmt, ab wann in jedem Fall auf das Überleben ausgerichtete Maßnahmen begonnen werden müssen.

Doch wer soll in der Grauzone über Leben oder Tod entscheiden?

In der Ethik herrscht Konsens, dass in dieser Phase den Eltern die Entscheidung zugestanden werden sollte, ob eine intensivmedizinische Behandlung begonnen wird. Die Intensivmedizin stellt eine große Belastung für Frühgeborene dar. Eltern können am ehesten entscheiden, ob ein Überleben unter möglicherweise leidvollen Bedingungen dem Kind zumutbar ist oder nicht.

Kann man Eltern, die kein Medizinwissen haben und einer hohen Belastung ausgesetzt sind, diese Entscheidung überlassen?

Die Studienlage sagt eindeutig: Eltern wollen trotz der Belastung selbst entscheiden. Sie sind auch die rechtlichen Stellvertreter des Kindes. Aber natürlich kommen Eltern unvorbereitet in diese Situation und sind darauf angewiesen, gute Informationen von den Ärzt*innen zu erhalten. Die Routinen des Klinikalltags führen allerdings manchmal unbeabsichtigt zu einer Art Entmündigung der Eltern.

Wie sähe eine ideale ärztliche Beratung aus?

Die Fachleute sollten den Eltern alle notwendigen Informationen vorlegen, Erkenntnisse, aber auch Ungewissheiten mit ihnen teilen und in Ruhe erklären. Jedoch ohne dabei die zukünftige Lebenssituation des Kindes zu bewerten, etwa eine schwerere Behinderung reflexhaft als Leid zu präsentieren. Auch sollte das medizinisch Erreichbare aus der individuellen Lebensperspektive betrachtet werden. Soziale Faktoren spielen eine Rolle: Gibt es bereits ein Familienmitglied mit hohem Pflegebedarf? Haben die Eltern die psychischen, finanziellen und zeitlichen Ressourcen, um ggf. eine Vollzeit-Pflege leisten zu können? Im besten Fall begleiten die Mediziner*innen die Eltern durch diesen Prozess, damit diese nicht hilflos vor dem großen Apparat der Intensivmedizin stehen. Sie sollten den Eltern helfen, sich die Entscheidung zutrauen, um im besten Interesse des Kindes handeln zu können. 

Wann ist der Behandlungsabbruch eine Option?

Dafür lässt sich keine allgemeine Regel aufstellen. Es wird jeweils in der konkreten Situation im Einvernehmen mit den Eltern entschieden. Und das gilt sogar für solche kindlichen Fehlbildungen, die mit dem Leben nicht vereinbar sind – wie bei einem Kind, das mit Anenzephalie geboren wird, also ohne Gehirn. Selbst ein solches Kind lebt unter Umständen nach der Geburt noch für wenige Stunden oder Tage, Zeit, die den Eltern wichtig sein kann und die mit entsprechender Palliativversorgung ohne Leid für das Kind gestaltet werden kann.

Weltweit wird an künstlichen Systemen geforscht, die Gebärmutter und Plazenta bei drohender Frühgeburt ersetzen könnten – außerhalb des Mutterleibs. Ein europäisches Team arbeitet am Perinatal Life Support-Verfahren (PLS) für Föten zwischen der 24. und 28. Woche, das sie an digitalen Silikonpuppen testen. Wie beurteilen sie diese Entwicklung?

Wir sehen in diesem relativ frühen Stadium, dass die intensivmedizinische Behandlung oft bleibende Schäden hinterlässt. Es wäre deshalb wünschenswert, den Kindern und ihren Eltern eine bessere Option anbieten zu können. Um ein ethisches Urteil über die Zulässigkeit zu fällen, muss man PLS mit der aktuellen intensivmedizinischen Behandlung im Inkubator, nicht aber mit einer natürlichen Schwangerschaft vergleichen. Denn es ist kein Ersatz für den Mutterleib, sondern käme erst dann zum Einsatz, wenn die Schwangerschaft zu früh endet. Für das Gehirn und die noch unterentwickelten Organe des Frühgeborenen bedeutet die Behandlung auf der Intensivstation bislang maximalen Stress. Es ist denkbar, dass PLS diesen Stress deutlich mindert. Trotzdem müssten die bisherigen Ergebnisse einer solchen Forschung sorgfältig begutachtet werden, denn ein menschlicher Organismus reagiert anders als ein Computersystem.

Prof. Claudia Wiesemann ist Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Uni Göttingen
Prof. Claudia Wiesemann ist Direktorin des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Uni Göttingen
© Helena Schätzle

Die Forschenden beraten sich mit Verbänden von Eltern Frühgeborener, denn das PLS könnte in etwa zehn Jahren in Kliniken eingesetzt werden…

Ich finde es ganz hervorragend, dass Eltern in einem sehr frühen Stadium in die Forschung einbezogen werden. Sie können einschätzen, unter welchen Bedingungen sie das Verfahren als hilfreich für ihr Kind bewerten. Andere Projekte zu medizinischer Innovation haben gezeigt, dass die Betroffenen-Perspektive essenziell für gute Forschung ist. In diesem Fall dürfen vor allem die Sorgen und negativen Assoziationen, die die künstliche Gebärmutter auslöst, nicht unterschätzt werden. Einige meiner medizinethischen Kolleginnen und Kollegen diskutieren zurzeit, was es bedeuten würde, Embryonen von Beginn an in solchen künstlichen Gebärmüttern aufzuziehen – wie das unsere Geschlechterverhältnisse, ja unsere Gesellschaft verändern würde. Das ist ein bekanntes Thema der Science-Fiction-Romane des 20. Jahrhunderts. Und jetzt eben auch der Medizinethik. Doch lenkt eine solche spekulative Diskussion meines Erachtens vom Thema ab, um das es hier eigentlich geht.

Worum geht es denn aus Ihrer Sicht eigentlich?

Entscheidend ist die Frage, wie wir die Überlebenschancen von extrem Frühgeborenen so verbessern können, dass sie später eine bessere Lebensqualität haben. Die Forschenden sollten versuchen, den gesellschaftlichen Diskurs in diese Richtung zu lenken. Sie müssen klar machen, dass es darum geht, optimale Behandlungsbedingungen für den Fötus herzustellen. Eine bessere Alternative zur Behandlung im Brutkasten zu schaffen. Wenn stattdessen ein Diskurs überhand nimmt, der den Homunculus – den Menschen aus der Retorte – heraufbeschwört, dann haben sie verloren. Denn eine solche Entwicklung werden viele Menschen – nicht zu Unrecht – als eine große Bedrohung empfinden.

Erschienen in GEO Nr. 10 (2023)

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