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Interview Wann Wander-Apps gefährlich werden – und wie man Unfälle in den Bergen vermeidet

Nimm zwei: Auf dem Weg durch die Alpen helfen Handys enorm - aber auch die gute alte analoge Karte hat nicht ausgedient, sie dient als zweie Quelle und damit der Sicherheit
Nimm zwei: Auf dem Weg durch die Alpen helfen Handys enorm - aber auch die gute alte analoge Karte hat nicht ausgedient, sie dient als zweie Quelle und damit der Sicherheit
© Westend61 / imago images
Sich von einer Wander-App durch die Alpen leiten zu lassen, wird immer populärer. Gleichzeitig kann es dabei zu Unfällen kommen, wenn vermeintlich einfache Routen in zu anspruchsvolles Terrain führen. Wie man digitale Karten richtig nutzt, erläutert Bergsport-Experte Thomas Bucher, Pressesprecher des Deutschen Alpenvereins (DAV), – und was sonst wichtig ist, um sicher im Gebirge unterwegs zu sein

GEO:In jüngster Zeit scheinen Wandernde in den Alpen häufiger in Not zu geraten, weil sie auf die digitalen Karten ihrer Apps vertrauen und sich dann in unwegsamem Gelände wiederfinden. Wie groß schätzen Sie die Gefahr durch solche Hilfsmittel ein?

Thomas Bucher: Grundsätzlich muss man sagen, dass Bergwandern insgesamt eher sicherer als unsicherer geworden ist. Der DAV führt seit Jahrzehnten dazu Statistiken. Aber: Es passieren natürlich inzwischen mehr Unfälle im Kontext von digitalen Hilfsmitteln. Sie finden ja auch seit einiger Zeit immer mehr Verbreitung. Da ist es nur logisch, dass es bei steigender Popularität auch vermehrt zu Unglücken kommt.

Welche Fälle sind Ihnen besonders in Erinnerung?

Es gab einen ziemlich schwerwiegenden Absturz im Frühjahr 2022, der auch groß durch die Presse gegangen ist. An der Maiwand zwischen Kufstein und Rosenheim kamen drei Wandernde ums Leben – weil sie einen Pfad gegangen sind, der zumindest in den meisten gedruckten Karten nicht eingezeichnet war, sondern in einer App, die auf die Daten der Plattform OpenStreetMap zugreift. Und da war ein Weg eingezeichnet, den man nur mit sehr viel Bergerfahrung, Ortskenntnis und bei Top-Bedingungen in Angriff nehmen sollte. Weil er von Felsen durchsetzt ist und durch abschüssiges Terrain führt. Aber zu der Zeit lag dort hier und da auch noch Schnee. Und genau darauf sind die drei dann auch ausgerutscht, über steilem Gelände abgestürzt und tödlich verunglückt.

Das Unglück hat viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil drei Opfer zu beklagen waren und weil es einigermaßen offensichtlich war, dass es in Zusammenhang mit OpenStreetMap gestanden hat?

Ja, und gerade im Sommer 2023 ist im Steinernen Meer bei Berchtesgaden jemand unter vergleichbaren Bedingungen ums Leben gekommen. Wahrscheinlich folgte der Wanderer wie im ersten Fall einem Track, der ihn in zu anspruchsvolles, steiniges Gelände führte – und er stürzte ab. Er hatte sich vermutlich auf einen Weg verlassen, der auf OpenStreetMap-Daten basierte. Zwar existierte dieser Weg möglicherweise wirklich, aber eben nur als Trampelpfad durch herausforderndes Terrain.

Luftrettung am Fellhorn-Gipfel, mit Blick ins österreichische Kleinwalsertal. Inzwischen rückt die Bergwacht immer häufiger aus, weil sich Wandernde bei ihrer Orientierung allein auf Apps verlassen -  bei umsichtiger Benutzung der digitalen Karten ließen sich allerdings viele Unfälle vermeiden
Luftrettung am Fellhorn-Gipfel, mit Blick ins österreichische Kleinwalsertal. Inzwischen rückt die Bergwacht immer häufiger aus, weil sich Wandernde bei ihrer Orientierung allein auf Apps verlassen -  bei umsichtiger Benutzung der digitalen Karten ließen sich allerdings viele Unfälle vermeiden
© Alamy Stock Photos / travelpix / mauritius images

In vielen Apps, die auf OpenStreetMap und vergleichbare Dienste zurückgreifen, kann jeder einfach Routen posten. Sehen Sie darin das Problem?

OpenStreetMap ist eine digitale Karte, die vom Input der Community lebt. Und in gewisser Weise wird sie auch nicht kuratiert, es gibt keine Sachverständigen, die – wie in unserem Fall – Wanderwege begutachten und abnehmen. Das ist anders bei gedruckten Wanderführern, die zum Beispiel sind natürlich kuratiert. Aber: Wie bei vielen digitalen Angeboten, die von einer Community getragen werden, korrigiert die Community natürlich auch Fehler oder postet Hinweise, die nützlich sind. Es gibt zudem viele Leute, die sich verantwortlich fühlen für ihre Region. Und die greifen sehr wohl ein, wenn da Wanderwege dargestellt werden, die problematisch sind.

Die digitale Welt ist eben Fluch und Segen zugleich.

Ich gehe seit 50 Jahren in die Berge, inzwischen könnte ich mir das nicht mehr ohne OpenStreetMap vorstellen. Da stoße ich auf Routen, die ich sonst nie finden würde. Deshalb würde ich das digitale Angebot auch nie verteufeln, ganz im Gegenteil. Ursache für Unfälle ist menschliche Inkompetenz. Man muss das Angebot richtig nutzen.

Und wie geht das am besten?

Grundlegend ist: seinen eigenen Kopf einzuschalten. Digitale Karten sind Hilfsmittel, wie gedruckte Karten oder ein Kompass, nicht mehr und nicht weniger. Das muss man sich immer wieder klarmachen. Hilfsmittel können keine Entscheidungen übernehmen. Die muss man selber treffen. Wer in den Bergen unterwegs ist, bewegt sich durch wilde Natur, nicht durch einen Vergnügungspark, wo alles abgesichert ist. Da ist Kompetenz gefragt. Sogar dann, wenn Sie beispielsweise das DAV-Portal „Alpenvereinaktiv“ nutzen, in dem sie nur Wanderwege finden, die wirklich Wanderwege sind.

Aber es ist ja schon verführerisch, einfach auf den blauen Punkt zu schauen, der die eigene Position darstellt. Und dann einer roten Spur zu folgen – und eben nicht nachzudenken.

Natürlich ist das verführerisch. Wie mit dem Navi im Auto auch. Dessen Benutzung führt dazu, dass die Leute nicht mehr wissen, wie Städte oder Landschaften strukturiert sind, weil sie einfach nur auf das Display starren. Und genau das ist passiert in den Bergen auch.

Wann kommt es denn klassischerweise zu Unfällen im Zusammenhang mit Apps und problematischen Wegen?

Ich gerate plötzlich in unwegsames Gelände, und schon haut es mich runter – das passiert in der Regel nicht. Ursache ist meist eine Kaskade von Fehlern. Wandernde bemerken, dass ihr Trip anspruchsvoller wird. Bald sogar heikel, ein Stück oberhalb dessen, was sie noch meistern können. Trotzdem denken sie: Ich versuche es weiter, denn ich bin ja auf meinem Wanderweg. Und sie strengen sich enorm an, weil sie in einem Gelände unterwegs sind, das sie überfordert. Am Ende: totale Erschöpfung. Dann der Fehltritt. Wir sehen also mehrere Fehler hintereinander. Diese Kaskade ist übrigens typisch für viele Unfälle in den Bergen, auch jenseits von einer App-Nutzung.

Wie soll man reagieren, um die Kaskade aufzuhalten?

Wichtig ist zu sagen: Stopp, ich bin hier falsch, ich muss zurück. Das ist das eigentlich Entscheidende. Ich muss die Krisensituation erkennen, und zwar so frühzeitig, dass ich noch umdrehen kann. Oder noch in der Lage bin, Hilfe zu holen.

Könnten Sie noch das noch mal auf eine Formel bringen, was wichtige Alarmzeichen sind, die eine Umkehr erfordern?

Zunehmende körperliche Verausgabung. Dazu mentale Überforderung. Ich muss mich enorm konzentrieren, um keine Fehler zu machen. Meine Tour fühlt sich dann ganz anders an, viel herausfordernder. Nicht nur eine unzureichende Planung kann mich in eine solche Situation bringen. Ich kann im Frühjahr oder Herbst unterwegs auch auf Schneefelder treffen, die den Schwierigkeitsgrad erhöhen. Wenn ich dafür nicht fit genug bin oder die falschen Schuhe anhabe: zurück ins Tal. Auch bei einem massiven Wetterwechsel ist Beidrehen angesagt. Natürlich sollte man sich für einen solchen Fall sowieso wappnen und passende Bekleidung im Rucksack haben. Sobald es plötzlich heftig zu schneien beginnt, zieht man sich die Funktionsjacke über und begibt sich besser auf den Rückzug. Und wenn man in einer Gruppe unterwegs hat, was immer zu empfehlen ist, dann zählt darüber hinaus noch Folgendes: Wenn auch nur einer zweifelt, ob der Weg noch zu schaffen ist, sollte man die Tour abbrechen.

Keine ungewöhnliche Situation: Sogar im Frühjahr oder Herbst bedecken in den Alpen hin und wieder Schneefelder die Wanderwege, die den Schwierigkeitsgrad erhöhen können. Wer sich als Anfänger dafür nicht fit genug fühlt oder das falsche Schuhwerk gewählt hat, dreht besser um
Keine ungewöhnliche Situation: Sogar im Frühjahr oder Herbst bedecken in den Alpen hin und wieder Schneefelder die Wanderwege, die den Schwierigkeitsgrad erhöhen können. Wer sich als Anfänger dafür nicht fit genug fühlt oder das falsche Schuhwerk gewählt hat, dreht besser um
© Michael Fritzen / Adobe Stock

Wir sprechen bisher nur über das Umkehren, aber natürlich kann es auch ratsam sein, im Notfall weiterzugehen, oder?

Klar, wenn ich beispielsweise einen Grat oder Gipfel überschreiten will und bis zur Hütte dort nur noch ein Drittel der Wegstrecke zu bewältigen habe, dann wäre Umdrehen in vielen Fällen eine schlechte Idee, schon rein mathematisch betrachtet. Es kommt immer auf die konkrete Situation an – und wo sich Möglichkeiten auftun, den Trip abzubrechen.

Was raten Sie, damit es erst gar nicht erst zu einer Notlage kommt? Wie geht man verantwortungsbewusst mit digitalen Karten um?

Zunächst mal: erst planen, dann loslaufen. Und für die Planung immer mindestens zwei Quellen benutzen. Da kann eine zweite App helfen. Oder eine Tourenbeschreibung im Netz. Oder auch ein gedruckter Wanderführer. Vielleicht ziehe ich auch Leute zurate, die sich auskennen. Dann kann man die ganze Route schon viel besser einschätzen, auch den Schwierigkeitsgrad.

Wie gut ich solche Herausforderungen beurteilen kann, hängt natürlich auch von meiner Erfahrung ab.

Logisch, und wenn ich wenig erfahren bin, dann mache ich selbstverständlich auch erst mal nur überschaubare Touren. Die kurz und leicht sind, eingeschätzt auf der Basis von mehreren Quellen. Sich einen Erfahrungsschatz aufzubauen, ist nun nicht wahnsinnig schwer. Man arbeitet sich einfach im wahrsten Sinne Schritt für Schritt voran, sammelt Kilometer und Höhenmeter, dann ist man bald viel sicherer unterwegs. Vielleicht starte ich mit einer Almwanderung, die zwei Stunden dauert, die über eine bewirtschaftete Hütte und unterwegs größtenteils über Forstwege führt. Da kann man kaum etwas verkehrt machen.

Anfänger fragen sich oft, ob sie einen Wanderweg bewältigen können, bei dem „Trittsicherheit“ gefragt ist. Was bedeutet das überhaupt?

Dass ich es schaffe, meine Füße so geschickt zu setzen und meinen Körper so im Gleichgewicht zu halten, dass ich auch in sehr unwegsamem Gelände kontrolliert unterwegs bin. Wir reden hier von schmalen Passagen, die von Steinen durchsetzt und deshalb alles andere als ebenerdig sind – und bei denen sich an einer Seite auch mal ein Abgrund auftut. Trainieren kann man das zu Hause in der Wohnung oder im Park nicht, das muss man in den Bergen tun. Wer über diese Körperbeherrschung verfügt, dem öffnen sich aber immer mehr Welten beim Wandern. Und dazu gehören am Ende auch Routen, auf denen man Abschnitte eher klettert als geht.

© Priva

Thomas Bucher ist seit 15 Jahren Pressesprecher des Deutschen Alpenvereins. Der 54-Jährige wohnt am Alpenrand, ist in den Bergen unterwegs, seit er gehen kann, und lebt seine Leidenschaften in den gängigsten Disziplinen aus: Klettern, Bergsteigen, Skitourengehen, Wandern.

Erfahrene Leute mitzunehmen hilft wahrscheinlich auch, wenn ich mich weiterentwickeln will.

Genau, die wissen außerdem, wie man gut plant. Dazu gehört auch, sich zu überlegen, zu welcher Uhrzeit sollte ich denn wo sein? Als Meilensteine unterwegs bieten sich markante Punkte an, die oft auch schon in den Routenbeschreibungen zu finden sind. Zum Beispiel eine Hütte auf dem halbem Weg zum Gipfel. Wenn ich bis zu diesem Zwischenziel nun meine gesamte eingeplante Zeit verbraucht habe, ja, dann sollte ich nicht mehr zum Gipfel marschieren.

Was gehört sonst noch zum Repertoire? Sollte man immer eine analoge Karte einpacken?

Ja, als Back-up fürs Handy. Es sei denn, drei Leute auf der Tour haben die Route jeweils auf ihrem Telefon, dann ist Redundanz garantiert und man kann die Papierkarte zu Hause lassen. Und natürlich sollte mein Telefon durchhalten. Ich muss wissen, wie lange der Akku mitspielt. Und wie schnell der an Leistung verliert, wenn es kalt wird.

Dann in die Wärme damit?

Genau, es hilft meist, das Smartphone in der Hosentasche oder körpernah zu tragen. Und eine Powerbank einzustecken ist nie eine schlechte Idee.

Wenn ich jetzt trotz aller Umsicht in eine Notsituation gerate, was ist zu tun?

Kommt darauf an, ob Sie Empfang haben. Falls nicht und es handelt sich um eine Wandergruppe, kann auch jemand losmarschieren, der nicht direkt betroffen ist, und Hilfe holen. Vorausgesetzt, die Umstände lassen das zu. Zweite Möglichkeit: sich bemerkbar machen, sofern möglich. Dafür gibt es das alpine Notsignal, also sechs akustische Signale oder sechs Lichtsignale pro Minute. Falls Ihr Handy aber eine Verbindung aufbauen kann – rufen Sie die 112 an. Dann gelangen Sie gleich zur Rettungsleitstelle. Am besten sagen Sie, dass Sie einen Bergnotfall haben, dann werden Sie sofort an die zuständigen Leute weitergestellt. Die fragen Sie dann alles Relevante, insbesondere nach Ihrem Aufenthaltsort. Es spart Zeit, wenn Sie das einigermaßen gut auf die Reihe kriegen. Sie können Ihre Position im Gelände beschreiben. Oder die Standortdaten auf Ihrem Handy auslesen.

Warum spart das Zeit?

Die Bergwacht braucht mindestens 20 Minuten, um die Position von einem Handy zu lokalisieren, meistens sogar länger. Das hat auch Datenschutzgründe. Die Rettungsleute müssen jedes Mal zunächst mit der Polizei zusammen einen Prozess anstoßen, um die Ortung auf juristisch korrekte Weise durchzuführen.

Und das lässt sich nicht beschleunigen?

Doch, dafür gibt es Apps, die sich jeder aufs Telefon ziehen kann. Das bayerische Innenministerium hat zusammen mit Tirol und Südtirol beispielsweise die App „SOS EU ALP“ entwickelt. Die ist insofern praktisch, weil man darüber den Notruf machen und gleichzeitig auch die Position senden kann, sofort an die Stelle, an der man gerade telefoniert. Und das ist viel wert.

Mussten Sie selbst schon mal einen Notruf absetzen?

Ja, im vergangenen Jahr, allerdings beim Klettern, in Tirol nahe Kitzbühel. Wir hatten die Tour eigentlich hinter uns und waren kurz unter dem Gipfel schon im Gelände, wo wir das Seil nicht mehr brauchten. Und da ist mein Kollege abgestürzt und 30 Meter tiefer liegen geblieben. Zum Glück hatte er nur Schürfwunden. Einen Moment habe ich gezögert und gedacht, alles ok, wir steigen jetzt gemeinsam ab. Aber dann wurde mir klar: Wir sind in einer Krisensituation. Wir können gar nicht einschätzen, ob er sich nicht auch innerliche Verletzungen zugezogen hatte. Das muss einem, und das ist das Learning, erstmal klar werden und man muss das zulassen: Wir brauchen Hilfe. Und diese Entscheidung musste ich treffen. Er selbst war natürlich ziemlich durch den Wind.

In diesem Zustand hätte er keinesfalls absteigen können?

Genau, auch weil der Weg zurück ins Tal nicht ganz ohne war. Wir hatten dort tatsächlich Empfang, ich konnte also die Rettung rufen und ziemlich genau beschreiben, wo wir waren. Keine zehn Minuten später kam der Hubschrauber. Obwohl unser Kletterziel sehr abgelegen liegt. Unglaublich. Die Notärztin hat dann klare Anweisungen gemacht und mich kurz gefragt: Wollen Sie mitfliegen? Ja oder nein? Ich habe verneint, weil ich gut alleine absteigen konnte. Gleich darauf hob der Heli ab. Da wird nicht lange gefackelt.

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