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Interview: Wenn der Vater fehlt

Wer seinen leiblichen Vater niemals kennengelernt hat, leidet darunter ein Leben lang, sagt der Psychoanalytiker Horst Petri.

Lesen Sie einen Auszug aus der neuen Ausgabe von GEO WISSEN zum Thema "Väter":

Horst Petri, 74, hat in seiner Berliner Praxis für Psychotherapie schon viele vaterlos aufgewachsene Männer behandelt
Horst Petri, 74, hat in seiner Berliner Praxis für Psychotherapie schon viele vaterlos aufgewachsene Männer behandelt
© Peter Rigaud für GEO WISSEN

GEO WISSEN: Herr Professor Petri, in der Psychoanalyse spielte der Verlust des Vaters lange Zeit keine Rolle, selbst Sigmund Freud hat kaum ein Wort dazu verloren. Weshalb?

HORST PETRI: Freud hat in seinem Werk „Die Traumdeutung“ geschrieben, dass der Tod des Vaters „das bedeutsamste Ereignis, der entscheidende Verlust im Leben eines Mannes“ sei. Er bezog das ausdrücklich auch auf sich. Aber weiter beschäftigt hat er sich mit dem Thema nicht. Womöglich hat es ihn zu schmerzlich an die durch den Tod des eigenen Vaters entstandene tiefe Kränkung erinnert. Außerdem beschäftigte sich die Psychologie damals vor allem mit der frühen Kindheit und der Mutter-Kind-Beziehung. Der Vater war eine zu vernachlässigende Größe für das Wohlergehen der Kinder.

Was war für Sie der Anlass, das Thema schließlich doch ans Tageslicht zu heben?

Ich sollte Mitte der 1990er Jahre einen Vortrag mit dem Titel „Der abwesende Vater“ halten, stellte aber fest, dass es dazu kaum substanzielle Fachliteratur gab. Ich habe gesagt, dass ich darüber erst einmal länger nachdenken müsse. Und dann hat mich das Thema plötzlich gefangen genommen.

Weil Ihnen klar wurde, dass es Sie auch persönlich betrifft.

Ich habe mir zunächst die Akten meiner früheren Patienten vorgenommen – und mit Erschrecken festgestellt, dass sehr viele von ihnen vaterlos aufgewachsen sind. Das hatte ich in den Sitzungen mit ihnen nicht thematisiert. Ein zweites Erschrecken setzte ein, als ich begriff, dass auch ich selbst von einer langjährigen Vaterabwesenheit betroffen war. Zwischen meinem dritten und neunten Lebensjahr war mein Vater praktisch nie zu Hause, sondern damit beschäftigt, Brücken für die Reichsautobahnen zu bauen. Es gab in der Zeit keine richtige Bindung zwischen uns. Darauf hätte ich spätestens stoßen müssen, als ich mich während meiner psychoanalytischen Ausbildung einer Lehranalyse unterzog. Aber auch da spielte die Vaterabwesenheit keine Rolle.

Sie haben dann den Begriff „Vaterentbehrung“ geprägt. Ein sehr sperriges Wort.

Es ist dem Begriff der „Mutterentbehrung“ entlehnt, der sich auf Kinder bezieht, die in Heimen und Krankenhäusern groß wurden. Vaterentbehrung beschreibt unterschiedliche Konstellationen: etwa die Vaterlosigkeit, wenn es für das Kind nie einen Vater gegeben hat. Dann den Verlust, den man erleidet, wenn der Vater stirbt oder dauerhaft verschwindet. Und schließlich die Vaterabwesenheit – von der jahrelangen Kriegsabwesenheit bis hin zum geschiedenen Wochenendvater.

Was davon ist am schlimmsten für Kinder?

Sicherlich die Tatsache, nie einen Vater gehabt zu haben. Anthropologisch gilt es heute als gesichert, dass es ein großes Bedürfnis von Kindern gibt, sich in der Dreier-Konstellation mit Mutter und Vater zu entwickeln. Wenn allerdings die Mutter in relativ kurzer Zeit eine neue, stabile Partnerschaft eingeht, also ein Ersatzvater da ist, ist der Verlust nicht ganz so dramatisch. Aber auch dieses Kind wird sich irgendwann über die biologische Herkunft Gedanken machen, will wissen, woher es eigentlich stammt – das belegen Tausende Krankengeschichten.

Finden sich Kinder, die nie einen Vater gehabt haben, möglicherweise eher mit dem Verlust ab als Kinder, die ihn bewusst erleiden? Die eine Trennung der Eltern miterleben müssen?

Es spielt natürlich eine wichtige Rolle, wie der Vater verloren wurde und wie die Familie damit umgeht. Wenn dem Sohn vermittelt wird, was für ein wunderbarer Mensch der Vater gewesen ist, dann kann es sein, dass der Sohn sich mit dem positiven Vaterbild identifiziert und es auf sich bezieht. Aber es besteht auch die Gefahr, dass der tote Vater derart idealisiert wird, dass er für den Sohn ein unerreichbarer Held wird, an dem er immer wieder scheitert.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Ich hatte einen 53-jährigen Patienten, der in den vergangenen Jahren einige berufliche Misserfolge überwinden musste. Er hatte seinen im Krieg gefallenen Vater nie kennengelernt. Da er aber das einzige Kind war, projizierte die Mutter alle positiven Eigenschaften ihres Mannes auf den Sohn, erzählte ihm ständig, wie erfolgreich der Vater als junger Architekt war. Ich fragte ihn, ob seine heutige Krise wohl etwas damit zu tun habe, dass er die seinem Vater zugesprochene Größe niemals erreichen könne. Das beschäftigte ihn intensiv. In den Folgestunden konnten wir das übermächtige Vorbild langsam sterben lassen. Und der Patient konnte sich auf die Frage konzentrieren, wer er denn eigentlich selbst ist. Bald lösten sich auch seine berufliche Blockade und sein Stimmungstief.

Bei der Generation der heutigen jungen Väter ist die Vaterentbehrung meist eine Folge der Trennung der Eltern. Ändert sich damit auch die Symptomatik?

Diese Männer verleugnen den frühen Schmerz meist völlig, sagen, dass der Vater schon lange kein Thema mehr für sie ist, weil sie ihn seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen haben und sie bei der Mutter aufgewachsen sind. Aber dann sitzen die plötzlich bei mir und brauchen Hilfe. Ich habe vier Patienten im Alter zwischen 30 und 40 Jahren, die alle kleine Kinder haben. Die Frauen halten es mit den Männern nicht mehr aus, weil sie unfähig sind, empathisch auf die Familie einzugehen. Sie sind sehr leistungsorientiert, sehr tüchtig und erfolgreich – aber emotional wie zugeschnürt.

Immerhin kommen diese Männer überhaupt zu Ihnen.

Oft aber erst nach einer Trennung, oder wenn die Frau ihnen gesagt hat, dass sie sich trennen will. Für die Männer bricht eine Welt zusammen, sie sind oft völlig hilflos, entwickeln schwere Verlassensängste und Depressionen. In den Gesprächen stellt sich dann heraus, dass sich diese Männer bislang kaum um die Kinder gekümmert haben, sie aber nun wie wild um die Familie kämpfen. Sie versuchen ihre Schuldgefühle loszuwerden und sich als guter Vater zu profilieren, alles Versäumte nachzuholen. Dabei sind sie häufig so überfürsorglich und vereinnahmend, dass die Kinder in ihrer freien Entwicklung erheblich eingeschränkt werden.

Und das ist eine Folge der eigenen Vaterentbehrung?

Sie haben aufgrund dieser Entbehrung nie gelernt, eine gute Bindungsqualität zum anderen Geschlecht und zu den eigenen Kindern zu entwickeln. Ihre Gefühlsbindungen zu nahen Personen haben an Tiefe verloren. Und dann kommt es zur sogenannten transgenerationalen Weitergabe des Traumas: Sie vernachlässigen die eigenen Kinder, weil sie das selber nicht anders erlebt haben und ohnehin davon ausgehen, dass sie entbehrlich sind.

Das vollständige Interview können Sie in der neuen Ausgabe von GEO WISSEN zum Thema "Väter" nachlesen.

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GEO WISSEN Nr. 46 - 11/10 - Väter

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