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Neurobiologie Warum die Schwächen des Gehirns unsere Stärken sind

Fehler machen
Wenn wir einen Flüchtigkeitsfehler begehen, registriert das Gehirn den Schnitzer, noch bevor er uns bewusst wird. Sofort fällt im Stirnhirn das elektrische Potenzial ab. Die Folge: Die Aufmerksamkeit steigt
© Ivan Kruk / Fotolia
Unser Denkorgan ist alles andere als perfekt: Es ist ungenau, schlampig und liebt den Fehler. Doch der Lapsus im Gehirn hat Methode. Nur so bleiben wir Maschinen überlegen. Die mögen reibungslos arbeiten – kreativ aber sind sie nicht

Kurz vor Mitternacht am 19. Mai 2012 in München. Finale der Champions League, Bayern München gegen Chelsea London. Es steht unentschieden im Elfmeterschießen, und Bastian Schweinsteiger muss als letzter Schütze das tun, was in drei Vierteln aller Fälle gelingt und für einen Weltklassefußballer wie ihn keine große Kunst ist: Er muss treffen, ein motorisches Kinderspiel – eigentlich. Doch er verschießt, der Ball knallt gegen den Pfosten, Bayern München verliert.

Keine vier Wochen zuvor hatte Schweinsteiger den letzten Elfmeter im Halbfinale gegen Real Madrid eiskalt versenkt.

Eben noch ein gefeierter Elfmeterheld, dann die tragische Figur im großen Finale. „Ist doch nur menschlich“, werden Sie sagen, „Fehler passieren nun einmal.“

Schließlich bauen wir ständig kleine Missgeschicke in unsere Abläufe ein. Fast scheint es, als wäre das Gehirn genau das, was wir in unserer auf Effizienz und Perfektion getrimmten Welt nicht benötigen: schusselig, schlampig und alles andere als akkurat. Wie oft wünschen wir, uns besser zu konzentrieren, wie oft rutscht uns ein Flüchtigkeitsfehler durch oder sind wir von unseren Dummheiten genervt.

Kein Wunder, dass wir Fehler radikal bekämpfen und nicht tolerieren. Ein Tippfehler im Bewerbungsschreiben? Keine gute Idee. Den Namen des Gegenübers vergessen? Ziemlich peinlich. Wer Fehler macht, ist ein geistiger Verlierer. Oder was soll gar gut daran sein, wenn unser Gehirn solchen mentalen Mist baut und uns immer wieder im Stich lässt?

Viele stellen sich vor, dass das Gehirn beim Denken und Handeln vorgeht wie ein hierarchisch organisierter Betrieb: Der Boss sagt, wo es langgeht, und delegiert die Angelegenheit an die anderen Abteilungen, bis jeder weiß, was er zu tun hat. Aus A folgt B. Wenn am Schluss ein Fehler passiert ist, muss vorher etwas schiefgelaufen sein. Schließlich folgt alles einer linearen Logik. Meistens jedenfalls.

Doch das Gehirn funktioniert anders. Unsere Handlungen werden nicht vorher exakt geplant und dann penibel ausgeführt. Vielmehr herrscht in unseren Nervennetzwerken ein ziemliches Durcheinander an unterschiedlichen Handlungsmustern, von denen sich auch mal ein falsches durchsetzen kann.

Wenn man wissenschaftlich untersuchen will, auf welche Weise das Gehirn Aussetzer produziert, benötigt man nur zwei Dinge: eine Aufgabe und eine Versuchsperson. Selbst simple Konzentrationsaufgaben, bei denen unter Zeitdruck auf Signale reagiert werden muss, reichen dann aus, um bei einem Probanden fehlerhafte Handlungen zu erzeugen.
Eine solche Aufgabe könnte lauten, bei einem zentral auf einem Bildschirm eingeblendeten V mit rechts zu drücken, bei einem zentralen W mit links. Um den Test zu erschweren, tauchen außerdem Störbuchstaben (sogenannte Flanker) auf – fertig ist der Eriksen-Flanker-Test, der 1974 von Barbara und Charles Eriksen entwickelt wurde:

WWVWW
VVWVV
VVVWW
WVWVW

Auch wer sich vornimmt, nur auf den zentralen Buchstaben zu achten, kommt mitunter durcheinander und drückt falsch. Doch warum ist das so?

Bevor das Gehirn eine Aktion initiiert, legt es zunächst ein Handlungsziel fest, beispielsweise: Bei einem zentralen V drücke mit rechts. Dafür zuständig sind vordere Hirnregionen (im präfrontalen Kortex), in denen bewusste Aufmerksamkeitsprozesse verarbeitet werden. Gleichzeitig trifft in den Sehzentren des Hinterkopfs eine Vielzahl an optischen Sinnesreizen ein. Ob wir ein V oder ein W auf dem Bildschirm sehen, ist da schon klar. Nicht jedoch, wie wir handeln sollen, denn dazu muss die Bildinformation mit dem Handlungsziel verglichen werden.

Etwa auf halber Strecke zwischen dem Stirnhirn und der Sehrinde liegt eine Region, die man Basalganglien nennt. Ganglien sind Knotenpunkte, zentrale (basale) Verschaltungsstellen zwischen Hirnregionen. Hier werden die Sinnesreize mit unserem Handlungsziel in Einklang gebracht und verschiedene Handlungsmuster geformt.

Fehler passieren an dieser zentralen Stelle, wenn die unterschiedlichen Handlungsmuster miteinander konkurrieren. So könnte bei der Buchstabenfolge WVWVW ein Muster lauten: „Drück rechts, du siehst gerade ein V.“ Oder: „So viele W auf dem Bildschirm, drück mal links.“ Oder: „Die Zeit läuft gleich ab, drück irgendwas.“

Vielleicht begünstigt ein bestimmter Sinnesreiz ein bestimmtes Muster, obwohl es falsch ist. Dann kann es so stark werden, dass es die anderen konkurrierenden Muster überlagert – und der Fehler rutscht uns prompt heraus.

Um das zu vermeiden, kontrolliert eine angrenzende Hirnregion, was in den Basalganglien vor sich geht: die vordere Gürtelrinde (Gyrus cinguli), die mit dem planenden Stirnhirn verbunden ist. Die Gürtelrinde unterdrückt falsche Handlungsmuster und begünstigt diejenigen, die mit dem Handlungsziel übereinstimmen. Jedoch ist dieser Filter nicht perfekt, und je mehr Sinnesreize auf uns einstürmen, desto eher rutscht ein inkorrektes Muster durch.

Nach einem Fehler sorgt die Gürtelrinde zusammen mit vorderen Hirnregionen dafür, dass der gleiche Patzer nicht noch einmal passiert. Trotzdem bleibt das Gehirn bei seinem grundlegenden Denkprinzip: Es lässt ein dynamisches Durcheinander an möglichen Handlungen zu, bis sich eine Variante durchsetzt – manchmal halt eine falsche.

Das ist unangenehm und gleichzeitig wunderbar. Denn Fehler machen zu können ist die Vorbedingung für neue Ideen.

Ein Schachcomputer irritiert den amtierenden Weltmeister – mit einem unlogischen Zug

Mai 1997, die mentale Vormachtstellung der Menschheit steht auf dem Spiel. Garri Kasparow, weltbester Schachspieler, erhebt sich vom Brett und gibt auf: Zum ersten Mal besiegt ein Schachcomputer, nämlich Deep Blue von IBM, einen amtierenden Weltmeister über mehrere Partien.

Bemerkenswert ist, wie der Computer zum Sieg kam: Denn in der zweiten Partie machte Deep Blue einen Zug, den Kasparow vorher noch nie gesehen hatte, einen unlogischen Zug, der dem Computer auf den ersten Blick einen Nachteil brachte. Vielleicht das erste Aufblitzen echter Maschinenkreativität? Kasparow war irritiert, er kam aus dem Rhythmus und verlor.

Als die Techniker später die Rechenprotokolle auswerteten, stellte sich heraus: Im konkreten Moment des „unmaschinellen“ Zugs war die Maschine überlastet gewesen. Um das Spiel überhaupt fortzusetzen, hatte das Programm einen Zufallszug ausgewählt. Es war ein Fehler, der den Sieg über Kasparow brachte – und gleichzeitig wahrscheinlich der einzige (und letzte) Moment in der Computergeschichte, in dem eine Maschine wirklich kreativ war.

Heute sind Schachprogramme unschlagbar. Computer besiegen uns in Go und Poker. Aber nicht weil sie das Spiel kreativ interpretieren, sondern weil sie eben keine Fehler mehr machen. Gegen einen Menschen ist das eine prima Strategie, denn uns unterlaufen ständig Fehler. Doch unsere Stärke liegt woanders: Wir können ein neues Spiel erfinden, mit neuen Regeln und Figuren. Und dann setzen wir uns mit ein paar Freunden hin und probieren es aus.

Würden wir immer schnell, fehlerfrei und perfekt handeln, wären wir sicher äußerst intelligent. Intelligenz reicht aber nicht, um die Welt zu verändern. Denn dazu muss man ab und an etwas Neues wagen, ohne vorher zu wissen, ob es gut geht. Sprich: Man muss sich trauen, Fehler zu machen. Das Gehirn kalkuliert dieses fehlerhafte Denken systematisch ein und ist dadurch mehr als nur perfekt: Es ist anpassungsfähig. Denn pure Perfektion machte uns letztendlich so leistungsfähig wie ein monokultiviertes Getreidefeld: super, wenn alles gleich bleibt – schnell kaputt, wenn sich eine Kleinigkeit ändert.

Dennoch hätten viele Menschen gern ein fehlerfreies Gehirn – vergessen dabei allerdings, was dieses auch wäre: langweilig, vorhersehbar und wenig kreativ. Umgekehrt wäre ein permanent Mist bauendes Denkorgan auch nicht besonders nützlich. „Jetzt trau ich mich mal, einen Fehler zu machen“ könnten auch berühmte letzte Worte sein. Es ist die raffinierte Balance, die unser Gehirn so überlegen macht: immer effizienter werdend, wenn die Rahmenbedingungen klar sind – dann wieder verrückt und ineffizient genug, ebendiese Rahmenbedingungen infrage zu stellen und Denkregeln zu brechen.

Viele Disruptive Geschäftsmodelle der heutigen Zeit sind durch solche Regelbrüche entstanden: Der Fahrdienstleister Uber hinterfragt, ob man Taxifahrer überhaupt noch braucht. Der Nachrichtendienst Snapchat bricht mit dem Prinzip, Nachrichten dauerhaft zu speichern. Und die Reiseplattform Airbnb wendet sich von der Grundregel des Hotelgewerbes ab, dass Reisende ein Hotel für eine Übernachtung brauchen. Heute optimieren auf Perfektion getrimmte Algorithmen die Geschäftsabläufe der IT-Unternehmen, doch deren kontraintuitive Geschäftsidee konnten sie nicht erahnen. Und auch nicht, ob diese Firmen in fünf Jahren bankrott oder Weltmarktführer sind.

Dass wir in Zukunft wenig Angst haben müssen, von künstlicher Intelligenz ersetzt zu werden, liegt deswegen nicht daran, dass wir schneller, perfekter oder intelligenter wären als Maschinen. Sondern am Gegenteil: Wir sind unpräzise, langsam und fehlerhaft. Genau deswegen können wir die Welt verändern.

Anstatt Ausrutscher prinzipiell zu verteufeln, sollten wir uns klarmachen, was sie auch sind: die geheime Stärke unseres Denkens. Denn wo bliebe ohne sie der Raum für Freiheit, für Mut und Heldentaten? Für die Draufgänger, die Erfinder und Entdecker? Für die Verrückten und anfangs Belächelten, deren Ideen vielleicht kompletter Unsinn sind – und manchmal doch die Welt umkrempeln? Für die Regelbrecher und Visionäre, die niemals wirklich sicher sind, ob ihre Ideen bahnbrechend oder Quatsch sind?

Nur dadurch, dass wir Fehler machen können und in unserem Denken gezielt einkalkulieren, sind wir mehr als bloß intelligente Lebewesen: Wir sind frei, weil wir die Grundsätze unseres Lebens ändern können. Wir sind kreativ, weil wir uns nicht immer an feste Regeln binden lassen. Und wir sind humorvoll, weil uns jeder unerwartete Bruch unserer Erwartung, jede Überraschung in Erstaunen versetzt. Es sind diese Regelbrüche und Veränderungen, die unser Leben bereichern. Eine fehlerfreie Welt mag perfekt sein, doch sie wäre auch das Ende allen Fortschritts. Denn wenn alles perfekt ist, wohin solltest du dann noch schreiten?

Zum Glück sind wir viel zu neugierig, um uns mit dem Perfekten zu begnügen. Und noch etwas hat die Erforschung menschlicher Fehler gezeigt: Bei deren Entstehung spielen viele Hirnregionen eine Rolle. Doch eine fehlt: die Region für Angst. Denn eine eingebaute Angst vor dem Fehler haben wir nicht, sie wird uns erst im Laufe der Zeit beigebracht.

Kein Kind überlegt, ob es gleich auf der Nase liegt, wenn es mit dem Laufen beginnt. Wie oft sind wir hingefallen – und wieder aufgestanden. Gerade deswegen sollten wir nie den Mut verlieren, etwas Neues auszuprobieren. Denn etwas zu machen ist wichtiger, als es perfekt zu machen. Oder wie es der Weltfußballspieler Roberto Baggio sagte, nachdem er im WM-Finale 1994 für Italien den wichtigsten aller Elfmeter verschossen hatte: „Elfmeter vergeben nur diejenigen, die den Mut haben, sie zu schießen.“

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