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Kriegsbeginn: Der erste Schuss

Sechs Jahre lang hat Adolf Hitler aufgerüstet, im Sommer 1939 fühlt er sich bereit: Durch einen schnellen Sieg über Polen will Deutschland all die Gebiete erobern, die es im Ersten Weltkrieg verloren hat – und weitaus mehr noch dazu. Großbritannien und Frankreich, so hofft der Diktator, werden sich ihm nicht in den Weg stellen

Lesen Sie einen Auszug aus der neuen Ausgabe von GEOEPOCHE zum Thema "Der Zweite Weltkrieg - Teil 1":

Seit mehr als zwei Wochen wartet Alfred Helmut Naujocks im Hotel „Haus Oberschlesien“ in der Stadt Gleiwitz nahe der polnischen Grenze auf seinen Einsatzbefehl. Am 31. August 1939 gegen 16 Uhr kommt endlich der Anruf aus Berlin mit dem Losungswort: „Großmutter gestorben“.

Der 27-jährige SS-Sturmbannführer und eine Handvoll weiterer Männer sollen am Abend als vermeintliche polnische Rebellen den deutschen Rundfunksender Gleiwitz überfallen. Die Aktion ist eine von zahlreichen Scheinattacken der SS, die Polen zugeschrieben werden und der NS-Führung als Vorwand für den Überfall auf den östlichen Nachbarn dienen sollen. Adolf Hitler hat den Angriffsbefehl für die Wehrmacht vor gut drei Stunden unterschrieben.

Kurz vor 20 Uhr erreichen Naujocks und seine Komplizen den nordwestlich von Gleiwitz gelegenen Sender. Die beiden Polizisten an der Pforte sind eingeweiht, der Pförtner hat seinen Posten verlassen. Niemand hält das mit Maschinenpistolen bewaffnete Kommando auf. Die Männer dringen in das Sendegebäude ein, gehen zum Betriebsraum. Dort überwältigen sie vier Männer und bringen sie gefesselt in den Keller.

Doch als sie die Mikrofonanlage in Gang setzen wollen, um den Hörern zu verkünden, dass der Sender (angeblich) besetzt worden ist, stellen sie fest, dass Gleiwitz kein eigenständiges Programm mehr ausstrahlt, sondern alle Sendungen aus Breslau übernimmt. Das hat bei der Planung niemand bedacht.

Hektisch suchen die Eindringlinge nach dem Gewittermikrofon, mit dem im Notfall auch Ansagen während des laufenden Programms möglich sind. Schließlich finden sie das Gerät in einem Schrank – und gehen auf Sendung.

Die Menschen, die gerade in der Region Gleiwitz vor dem Radioapparat sitzen, hören plötzlich eine Stimme: „Achtung! Hier ist Gleiwitz! Der Sender befindet sich in polnischer Hand!“ Er sei „Freiheitskämpfer“ behauptet der Sprecher in einer – teils auf Polnisch gehaltenen – Erklärung. Mit den Worten „Hoch lebe Polen!“ beendet er die Ansprache nach wenigen Minuten.

Der erste Tote des Zweiten Weltkriegs

Als die Männer aus dem Gebäude stürzen, hasten sie an einem auf dem Boden liegenden Körper vorbei. Es ist die Leiche des Oberschlesiers Franciszek Honiok, eines 41-jährigen Vertreters für Landmaschinen aus der Gegend, der öffentlich mit Polen sympathisiert. Am Vortag ist er von zwei Männern der Geheimen Staatspolizei verhaftet worden; nun haben ihn Gestapo-Beamte betäubt und anschließend erschossen, noch während im Sender die Erklärung verlesen wurde.

Es soll so aussehen, als sei Honiok einer der Männer, die die Radiostation überfallen haben. Der „Beweis“ für einen Übergriff polnischer Freiheitskämpfer auf deutsches Territorium. Franciszek Honiok ist der erste Tote des Zweiten Weltkriegs.

Um 22.30 Uhr meldet der Reichsrundfunk den Angriff auf den Sender Gleiwitz und andere vermeintliche Grenzzwischenfälle. In der Nacht verüben SS-Kommandos weitere Scheinattacken an der östlichen Reichsgrenze: So überfallen etwa 30 als polnische Soldaten verkleidete Männer die Zollstation bei Neukrug, und in Hochlinden töten Uniformierte sechs Menschen (die Toten, die die SS-Männer zurücklassen, sind ermordete KZ-Häftlinge).

Am nächsten Morgen tritt Hitler in Berlin vor den Reichstag und beklagt die „Gräueltaten“ und „Grenzzwischenfälle“ der letzten Stunden. Es seien 14 Vorfälle gewesen, „darunter drei ganz schwere“. Polen habe „zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen“, so der Reichskanzler. Und fügt dann hinzu: „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“ (Tatsächlich hat die Wehrmacht den Angriff bereits eine Stunde vorher eröffnet.)

Der Krieg, der an diesem 1. September 1939 mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen seinen Anfang nimmt, erschüttert bald ganz Europa, vom Nordkap bis nach Gibraltar, aber auch den Atlantik und das Mittelmeer, die Wüsten Nordafrikas und die Steppen Russlands sowie die Küsten der USA. Er wird mehr als 55 Millionen Todesopfer fordern, Leid und Elend in bis dahin unvorstellbarem Ausmaß über die Menschheit bringen, das Leben und die Erinnerung von Generationen prägen. Und den Erdball stärker verändern als jedes geschichtliche Ereignis zuvor.

Den vollständigen Text können Sie in der neuen Ausgabe von GEOEPOCHE zum Thema "Der Zweite Weltkrieg - Teil 1" nachlesen.

Während des Überfalls auf Polen im September 1939 demontieren deutsche Soldaten zahlreiche Schlagbäume an der 2300 Kilometer langen deutsch-polnischen Grenze. Die meisten dieser Bilder sind nachträglich für die Fotografen und Kameraleute der NS-Propaganda gestellt worden
Während des Überfalls auf Polen im September 1939 demontieren deutsche Soldaten zahlreiche Schlagbäume an der 2300 Kilometer langen deutsch-polnischen Grenze. Die meisten dieser Bilder sind nachträglich für die Fotografen und Kameraleute der NS-Propaganda gestellt worden
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GEO EPOCHE Nr. 43 - 06/10 - Der Zweite Weltkrieg - Teil 1

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