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Kriminalgeschichte Vor 800 Jahren wird in China ein Mörder überführt - erstmals mithilfe von Insekten

Fliege
Weil Fliegen durch kleinste Partikel menschlichen Bluts angelockt werden, führen sie den chinesischen Beamten zum Täter. Heute nutzen Experten Insekten, um äußerst exakte Aussagen über Todesumstände zu treffen
© Alexandre Le Bourdais / Shutterstock
Im 13. Jahrhundert überführt ein chinesischer Ermittler einen Mörder mithilfe von Fliegen – es ist der erste Einsatz von Insekten bei der Verbrechensaufklärung

Schmeißfliegen surren. Heiße Luft drückt auf die Reisfelder. Es ist ein Sommertag in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts im Süden Chinas. Ein Mann liegt am Wegesrand. Er hat als Bauer auf dem Feld gearbeitet. Nun ist sein Körper mit zehn Stich- und Hiebwunden übersäht. Er ist tot.

Ein Untersuchungsbeamter, dessen Name nicht überliefert ist, soll den Fall aufklären. Da der Tote noch alle Wertgegenstände bei sich hat, schließt der Ermittler einen Raubmord aus. Die Frau des Toten aber erzählt ihm, ihr Mann habe sich vor Kurzem mit jemandem aus dem Dorf um Geld gestritten.

Da die Wunden am Leichnam von einem scharfen Gegenstand stammen müssen, fordert der Beamte alle benachbarten Bauern auf, ihre Sicheln vorzuzeigen. Wer das nicht tue, werde als Mörder verdächtigt.

Schnell kommen mehr als 70 Sicheln zusammen. Der Beamte ordnet sie auf dem Boden nebeneinander an. An keiner Klinge klebt Blut, keines der Werkzeuge ist auffällig. Doch nach und nach setzen sich Schmeißfliegen auf einer der Sicheln nieder – für den Ermittler ein wichtiges Zeichen.

Dass der chinesische Beamte das Verhalten der Insekten als ernsthaftes Indiz ansieht, zeigt, dass er seiner Zeit weit voraus ist. Kein vergleichbarer Fall aus dem Mittelalter ist überliefert. In Europa etwa gelten Fliegen, Maden und Käfer auf Leichen lediglich als Beweis dafür, dass neues Leben spontan aus toter Materie heraus entstehe.
Aber der Untersuchungsbeamte, offenbar medizinisch gebildet, weiß, dass Blutspuren Schmeißfliegen anziehen. Er befragt den Besitzer der Sichel, auf der sich die Tiere sammeln, und es stellt sich heraus: Der Mann ist derjenige, der in den Geldstreit mit dem Toten verwickelt war. Doch er leugnet den Mord.

Der Ermittler deutet nun auf die Sichel, ruft vor der versammelten Dorfgemeinschaft: „Sie haben einen Menschen getötet. An Ihrer Sichel sind noch Blutspuren. Deshalb versammeln sich dort die Fliegen. “ Die Schaulustigen beobachten die Situation, niemand sagt etwas. Da wirft sich der Mann zu Boden – und gesteht die Tat.

Ohne es zu wissen, begründet er so die forensische Entomologie

Der Untersuchungsbeamte hat als erster Ermittler der Geschichte einen Verbrecher mithilfe von Insekten überführt. Ohne es zu wissen, begründet er so die forensische Entomologie, also das Nutzen der Insektenkunde zur Aufklärung von Straftaten. Oder besser gesagt: Er ist Vorreiter dieser Disziplin. Denn nach seiner Pionierleistung gerät diese Herangehensweise für mehr als 600 Jahre in Vergessenheit.

Erst im 19. Jahrhundert beschäftigen sich europäische Rechtsmediziner mit winzigen Gliederfüßern auf toten Leibern, weil sie nun erkennen, dass die Tiere kürzlich Verstorbene besiedeln, etwa in deren Nasenlöcher und Ohren kriechen, um dort ihre Eier abzulegen.

Der deutsche Arzt Hermann Reinhard veröffentlicht 1882 eine der ersten Untersuchungen auf dem Gebiet. In seiner Schrift „Beiträge zur Gräberfauna“ beschreibt er, unter welchen Bedingungen man welche Larven, Puppen, Fliegen und Käfer in Särgen findet – und treibt damit die Professionalisierung der forensischen Entomologie voran.

Forscher wie er verfolgen das Ziel, mithilfe der Insekten auf einem Leichnam Rückschlüsse auf die Todesumstände des Verstorbenen zu gewinnen. 

Heute gehört das Fach zum Standardrepertoire von Ermittlern weltweit. Denn forensische Entomologen können unter günstigen Bedingungen den Todeszeitraum auf wenige Stunden genau bestimmen, selbst wenn ein toter Körper schon mehrere Wochen alt ist. Ob Schmeißfliege, Käsefliege, Speckkäfer – aufgrund von Größe, Menge und Entwicklungsstadium der jeweiligen Insektenart vermögen die Experten genaue Angaben zur sogenannten Liegezeit von Toten zu machen.

Fähigkeiten, die auf minutiöser Forschung beruhen: Die Wissenschaftler platzieren etwa die Eier bestimmter Speckkäfer auf getrockneter Schweinehaut, legen die Proben in große Brutschränke und variieren dann Luftfeuchtigkeit und Temperatur. So imitieren sie den Verwesungsprozess einer Leiche und beobachten etwa, wie schnell sich die Insekten unter bestimmten Umweltbedingungen entwickeln.

Derartige Möglichkeiten hat der chinesische Untersuchungsbeamte im 13. Jahrhundert nicht, als er erstmals einen Mord mithilfe der Insektenkunde löst. Umso mehr beeindruckt sein Erfolg einen kundigen Landsmann von ihm, den Rechtsgelehrten Song Ci.

1247 veröffentlicht der das Werk „Aufzeichnungen zur Tilgung von Ungerechtigkeiten“, in dem er Untersuchungen von Todesfällen schildert. Er legt auch die Aufklärung des Mordes an dem Reisbauern ausführlich dar – und ordnet ihn ein in das Kapitel: „schwierige Fälle“.

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