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Völkerrecht "Der Vorwurf des Völkermordes gegen Israel wiegt zu schwer"

Ausgebombte Gebäude im Gazastreifen
Zerstörung im Gazastreifen: Die israelische Offensive nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 wirft die alte Frage auf, was im Krieg erlaubt ist – und was nicht
© AP Photo | Adel Hana / picture alliance
Weltweit gibt es derzeit mehr als 100 bewaffnete Konflikte, doch anders als früher ist in diesen Kriegen nicht mehr alles erlaubt. Ein Gespräch mit dem Münchner Juristen Daniel-Erasmus Khan über die historischen Wurzeln des humanitären Völkerrechts und die aktuelle Debatte über mögliche Kriegsverbrechen im Gazastreifen

Herr Professor Khan, war Napoleon Bonaparte ein Kriegsverbrecher? 

Prof. Dr. Daniel-Erasmus Khan: Die Antwort ist juristisch ganz klar: Napoleon war kein Kriegsverbrecher. Zu seiner Zeit galt noch immer der alte lateinische Grundsatz inter arma enim silent leges – denn unter den Waffen schweigen die Gesetze. Der Krieg war ein rechtloser Zustand. Man konnte ihn im Grunde führen, wie man wollte. Brutal und moralisch fragwürdig war Napoleons Vorgehen natürlich. 1799 ließ er zum Beispiel nach der Eroberung der Stadt Jaffa in Palästina Tausende Gefangene hinrichten. Würde das heute passieren, wäre es ein Kriegsverbrechen. Wir dürfen aber nicht den Fehler begehen, unsere eigenen Vorstellungen von Verbrechen auf die Vergangenheit zu projizieren. Da gilt das Rückwirkungsverbot, wie wir Juristen es nennen.

Wann kam die Idee auf, dass im Krieg nicht alles erlaubt ist? 

Die Idee, dass man dem Krieg Schranken setzen kann, ist so alt wie der Krieg selbst. Was mir besonders wichtig ist: Dies ist keine Errungenschaft der westlichen Zivilisation! In Indien taucht sie schon im mehr als 2000 Jahre alten Heldenepos "Mahabharata" auf, und auch die Kalifen haben entsprechende Regeln erlassen. Die Vorstellung, dass man den Krieg einhegen soll, war also in vielen Kulturen verankert. Aber das waren keine Rechtssätze, auf deren Grundlage man jemanden hätte anklagen können, das waren ethisch-moralische Standards.

Gemälde, Napoleon im Zentrum umgeben von vielen Menschen
Gnadenloser General: Während seines Feldzugs in Ägypen und in Palästina ließ Napoleon Bonaparte 1799 in der Küstenstadt Jaffa mehrere Tausend Gefangene ermorden. Dieses Gemälde zeigt ihn aber als Wohltäter, der sich um seine pestkranken Soldaten sorgt
© CBW / Alamy / mauritius images

Warum hat man denn den Krieg nicht mit allen Mitteln geführt?

Die erste Motivation war die Angst vor Rache. Man hat die Frauen und Kinder seiner Feinde verschont, damit diese es mit den eigenen ebenso tun. Der zweite Grund waren Nützlichkeitserwägungen. Nach dem Motto: Ein getöteter Kriegsgefangener ist schlechter als ein lebender Kriegsgefangener. Den kann man ja zum Beispiel austauschen. Dazu hat es schon immer in allen Kulturkreisen ethische oder moralische Skrupel gegeben. 

Sie sagen, dem Krieg strengere Grenzen zu setzen, ist keine Errungenschaft der westlichen Zivilisation, trotzdem beginnt die Geschichte des humanitären Völkerrechts in Europa. Genauer gesagt mit dem Schweizer Henri Dunant, der 1863 das Rote Kreuz mitgegründet hat. Was veränderte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts?  

Damals begann die Verrechtlichung des humanitären Völkerrechts im eigentlichen Sinne. Es ist im Wesentlichen – von ein paar Vorläufern abgesehen – ein Produkt jener Zeit.

Woran lag das? Wurden die Kriege im 19. Jahrhundert so brutal, dass man sich gesagt hat: Jetzt müssen wir endlich verbindliche Regeln aufstellen?

Ob die Kriege wirklich "brutaler" geworden sind, ist schwer zu sagen. Die waffentechnische Entwicklung schritt aber in der Tat rasant voran und damit auch die potenzielle Zahl von Opfern. Viel wichtiger aber ist: Die Kriegführung in Europa war lange Zeit eine Sache von Söldnern. Diese kleinen professionellen Heere waren sehr wertvoll, entsprechend gut behandeln und bezahlen musste man sie. Nach dem Aufkommen der allgemeinen Wehrpflicht Ende des 18. Jahrhunderts jedoch prallten in Europa immer häufiger Massenheere aufeinander, Menschen aus dem Volk. Das führte dazu, dass die einzelnen Soldaten plötzlich nicht mehr viel wert waren. Sie waren ja nun leicht zu ersetzen und wurden, hart gesagt, zu Kanonenfutter. Die Sanitätsdienste versagten, Tausende verbluteten auf dem Schlachtfeld. Zu dieser Entwicklung gesellte sich eine zweite – und die ist entscheidend. Denn gleichzeitigt drängten die Bürger in den europäischen Staaten auf Teilhabe an der Macht. Nur deshalb stieß Dunant auf so große Resonanz.

Prof. Dr. Daniel-Erasmus Khan
Prof. Dr. Daniel-Erasmus Khan: Der Jurist lehrt Öffentliches Recht, Europarecht und Völkerrecht an der Universität der Bundeswehr in München. Er ist der Autor von "Das Rote Kreuz: Geschichte einer humanitären Weltbewegung" (Beck, 2013) 
© Privat

Das müssen Sie erklären.

Dunants prägendes Erlebnis war die Schlacht von Solferino im Juni 1859, ein schreckliches Gemetzel zwischen Frankreich und Sardinien auf der einen und Österreich auf der anderen Seite. Dunants Buch "Eine Erinnerung an Solferino", das er drei Jahre später veröffentlichte, wurde zur Initialzündung für das humanitäre Völkerrecht. Der Schlüsselsatz darin lautet: "Die Völker bleiben nicht kalt und gleichgültig, sobald die Söhne des Landes sich schlagen. Das Blut, das bei den Gefechten vergossen wird, das ist ja dasselbe, welches in den Adern der ganzen Nation fließt." Heißt: Es waren nicht mehr irgendwelche Söldner, die da auf den Schlachtfeldern ihr Leben ließen, sondern Bürger. Damit konnte Dunant den Mächtigen ins Gewissen reden, denn die brauchten ja die Kooperation der bürgerlichen Abgeordneten im Parlament. Ein absolutistischer Herrscher im 18. Jahrhundert konnte es sich leisten, seine Untertanen verbluten zu lassen, ein konstitutioneller König im 19. Jahrhundert nicht mehr.

Die Konsequenz aus Dunants Engagement waren zum einen das Rote Kreuz, das den Staaten einen kostenlosen Sanitätsdienst zur Verfügung stellte, und zum anderen die erste Genfer Konvention aus dem Jahr 1864. Was stand da drin? 

Durch die Genfer Konvention wurde erstmals eine bestimmte Gruppe von Kriegsopfern geschützt: die Verwundeten. Früher konnte man diese einfach niedermachen. Verwundeten Feinden zu helfen galt sogar lange als Hochverrat. In der Konvention einigten sich die Staaten auch auf die Rolle des Roten Kreuzes und auf die Neutralität der Sanitätsdienste. Die durfte man nun nicht mehr wie früher beschießen. Es fing also ganz klein an. Aber damit war eine Bresche geschlagen in den Grundsatz: Im Krieg gibt es kein Recht. 

Kriegsszene vor schlossartigem Gebäude, Männer mit Degen
Wendepunkt der Weltgeschichte: Die Schlacht von Solferino im Sommer 1859 bereitete nicht nur dem geeinten Italien den Weg, sie inspirierte auch den Schweizer Henri Dunant zur Gründung des Roten Kreuzes
© Classic Image / Alamy / mauritius images

Die nächste wichtige Wegmarke in der Entwicklung des humanitären Völkerrechts waren die Haager Friedenskonferenzen von 1899 und 1907. Wer hat den Anstoß dazu gegeben?

Interessanterweise ging die Initiative für diese Friedenskonferenzen von Nikolaus II. aus, dem russischen Zaren. Die Russen haben sich damals sehr für das Völkerrecht engagiert – ganz anders als heute. Der Zar hat das allerdings nicht primär aus humanitären Gründen getan, sondern weil er wusste, dass sein Land den anderen europäischen Großmächten militärisch unterlegen war. Hauptziel dieser Friedenskonferenzen war es deshalb auch, Wege zu finden, wie man Kriege von vornherein vermeiden konnte, zum Beispiel durch friedliche Streitbeilegung. Zugleich wurden in Den Haag aber auch Regeln aufgestellt, die die Art und Weise der Kriegsführung betrafen, die sogenannte Haager Landkriegsordnung. 

Darin ging es dann um so etwas wie die Verhältnismäßigkeit der Mittel?

Absolut. Außerdem darf man keine Hinterlist ausüben, keine vergifteten Waffen einsetzen und so weiter. Es ist ein ganzer Katalog.

Wurden die Zivilisten dadurch auch geschützt?

Nein! In der Haager Landkriegsordnung tauchen die Zivilisten nicht auf, abgesehen von den Regelungen zum Besatzungsrecht. 

Warum? Hat man Zivilisten damals nicht für schützenswert gehalten? 

Nun, man könnte sagen, die Regeln des humanitären Völkerrechts kommen immer einen Krieg zu spät. Wissen Sie wie viele zivile Opfer es in der Schlacht von Solferino gegeben hat? Ein einziges. Eine Frau wurde von einem Querschläger getroffen. Im Jahr 1907, als die Haager Landkriegsordnung beschlossen wurde, waren Schlachtfelder noch Schlachtfelder. Die Sphären der militärischen Auseinandersetzungen waren noch streng von der zivilen Welt getrennt. Es gab noch keine Bombardements, noch keine Flugzeuge. Das heißt auch: Es gab noch gar keine Notwendigkeit, Zivilisten zu schützen. Ganz anders als in Gaza heute. 

Männer in Uniform, teils mit Helmen, stehen hintereinander in einer Reihe, alle haben die Augen bedeckt
Schreckliche Waffe: Diesen britischen Soldaten raubte im Jahr 1918 ein deutscher Giftgas-Angriff das Augenlicht. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde diese Art der Kriegsführung verboten
© GL Archive / Alamy / mauritius images

Und dann kam der Erste Weltkrieg. Welche Lehren hat man daraus gezogen? 

Man hat 1925 zum Beispiel den Gebrauch von Giftgas verboten. Diese fürchterliche Waffe war ja zunächst von den Deutschen eingesetzt worden, um den Stellungskrieg an der Westfront aufzubrechen. Außerdem wurden 1929 die Kriegsgefangenen besser geschützt …

aber immer noch nicht die Zivilisten?

Nein, es gab bis zum Zweiten Weltkrieg keinen expliziten Schutz der Zivilbevölkerung. Auch das ist ein gutes Beispiel für die Regel, dass das humanitäre Völkerrecht immer einen Krieg zu spät kommt. Erst die Jahre zwischen 1939 und 1945 haben gezeigt, dass es nach den Verwundeten und Kriegsgefangenen eine dritte massive Opfergruppe gibt, die geschützt werden muss. Das war die Lektion des Krieges und die hat man in den Genfer Konventionen von 1949 dann auch umgesetzt.

Heißt das, dass das Bombardement von Städten wie Coventry, Hamburg oder Hiroshima im Zweiten Weltkrieg nach dem damals geltenden Völkerrecht legal war? 

Ja. Gemäß der Haager Landkriegsordnung durften zwar "unverteidigte Städte" nicht angegriffen werden, aber die Städte, die Sie genannt haben, waren ja nicht unverteidigt, denken Sie nur an die Flakstellungen und so weiter. Wichtig ist, dass man nach dem Krieg die Konsequenzen aus dem millionenfachen Leid gezogen hat. Das humanitäre Völkerrecht mag den Ereignissen hinterherhinken, aber immerhin bewegt es sich weiter. 

Blick aus einem Flugzeug heraus auf eine ausgebombte Stadt
Hamburg in Trümmern: Während des Zweiten Weltkriegs wurden etliche Städte von Bombern aus der Luft zerstört. Eine grausame Taktik, die damals indes noch nicht als Kriegsverbrechen galt
© CBW / Alamy / mauritius images

Wo sehen Sie aktuell die Lücken im humanitären Völkerrecht? Die Kriegsführung revolutioniert sich ja gerade wieder, zum Beispiel durch die Drohnenschwärme im Ukrainekrieg oder den Einsatz von Künstlicher Intelligenz.

Das ist eine gewaltige Herausforderung. Die KI und die "automatic weapons" stellen nämlich fundamentale Grundsätze des traditionellen Völkerrechts in Frage, das ja davon ausgeht, dass Menschen die Verantwortung tragen. Ob man die Verantwortung für das Töten von Individuen auf eine Maschine übertragen darf, wird derzeit unter anderem vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz diskutiert. Auf der anderen Seite gibt es auch Stimmen, die sagen: Automatische Waffen sind die viel besseren Kämpfer, weil sie keine Rachegefühle kennen. Diese fordern aber in einem Krieg die meisten unschuldigen Opfer. Eine andere große Herausforderung für das humanitäre Völkerrecht hat nichts mit dem technologischen Wandel zu tun, sondern mit dem Auftauchen neuer Akteure …

… wie der islamistischen Hamas.

Ja, wenn man es mit Gruppen zu tun hat, die sich prinzipiell nicht an Regeln halten wollen, dann hat jede Rechtsordnung ein Problem. Man braucht einen gewissen Grundkonsens.

Handelt die Hamas völkerrechtswidrig?

Absolut. Diese Leute missachten die Regeln ganz bewusst. Die Angriffe vom 7. Oktober bewegten sich an der Grenze zwischen einem terroristischen Akt und einem Völkermord. 

Mehrere Männer an sitzen an einem Tisch und unterzeichnen Verträge
Meilenstein der Humanität: Mit den Genfer Konventionen, die 1949 unterzeichnet wurden, zog die Staatengemeinschaft die Konsequenzen aus dem Zweiten Weltkriegs. Erstmals waren nun auch Zivilisten geschützt
© KEYSTONE | STR / picture alliance

Und die israelische Reaktion? Wie würden Sie die als Völkerrechtler bewerten?

Das ist schwer in wenigen Sätzen auf den Punkt zu bringen. Ich sage mal so: Die Israelis kennen die Regeln, und sie bemühen sich auch, sich daran zu halten. Und die Grundregel des humanitären Völkerrechts ist die Trennung zwischen Zivilisten und Militärs. Zivilisten sind geschützt. Zugleich verfolgt Israel in Gaza ein legitimes Ziel: die Bekämpfung der militärischen Infrastruktur. Dass dabei unter bestimmten Umständen auch Zivilisten zu Schaden kommen, das nimmt das humanitäre Völkerrecht in Kauf – im Rahmen der Verhältnismäßigkeit. Eines muss man sich klarmachen: Das humanitäre Völkerrecht verbietet den Krieg nicht, sondern setzt ihn geradezu voraus. So hat schon Henri Dunant gedacht: Man kann den Krieg nur dann humanisieren, wenn man ihn als Phänomen akzeptiert und den Kriegführenden grundsätzlich zugesteht, dass sie ihre Kriegsziele erreichen, sofern diese denn legitim sind. Natürlich heiligt auch hier der Zweck nicht die Mittel. Deswegen stellt das humanitäre Völkerrecht Schranken auf. Aber diese Schranken dürfen nicht so hoch sein, dass die Kriegführung unmöglich gemacht wird. Also, wenn die Hamas sich unter Zivilisten versteckt, dann kann man nicht sagen, und das ist jetzt ziemlich brutal, wir dürfen diese Infrastruktur nicht angreifen, weil sich dort Zivilisten aufhalten.

Heißt das: Am Ende trägt die Hamas die Verantwortung?

Ja. Man kann den Israelis nicht verweigern, ihre Kriegsziele zu verfolgen. Solange diese legitim sind und alles getan wird, um die Zivilbevölkerung so weit wie möglich zu schützen. Das Problem am Gazastreifen ist, dass er so klein ist.

Die südafrikanische Regierung ist strenger als Sie. Sie hat Israel vor dem Internationalen Gerichtshof verklagt, in Gaza einen Völkermord zu begehen. Wie sehen Sie das? 

Dass sich im Gazastreifen eine humanitäre Katastrophe abspielt, das steht außer Frage, aber der Vorwurf des Völkermordes gegen Israel wiegt schwer, meines Erachtens zu schwer. Anders als vielfach angenommen, geht es bei einem Völkermord im juristischen Sinne nämlich nicht einfach um eine hohe Zahl von Opfern, sondern um die Absicht dahinter. Maßgeblich ist damit der Wille, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Diesen Willen aber wird man Israel einfach nicht unterstellen können. Im Übrigen muss man wissen: Wer die Art und Weise der israelischen Kriegführung kritisch sieht – ob zu Recht oder zu Unrecht –, der hat derzeit nur eine einzige Möglichkeit, seine Kritik vor ein internationales Gericht zu bringen: Er muss sich auf die Völkermordkonvention von 1948 berufen. Und da liegt die Versuchung natürlich nahe, tatsächliche oder angebliche Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht zum "Verbrechen der Verbrechen" ("crime of crimes"), wie der Völkermord oft genannt wird, aufzuwerten. Aber damit wir uns nicht missverstehen: Auch Kriegsverbrechen müssen natürlich untersucht und verfolgt werden. Um dessen besonders verabscheuungswürdige Einzigartigkeit nicht zu relativieren, sollte man mit dem spezifischen Vorwurf des Völkermordes aber doch sehr zurückhaltend sein. Pate hierfür standen ja bekanntermaßen die Vernichtung und Verfolgung der Armenier im Osmanischen Reich und dann insbesondere der Holocaust an den europäischen Juden.

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