Anzeige

Unsichtbare Forscherinnen Matilda-Effekt: Wie Frauen in der Forschung systematisch übersehen wurden

Otto Hahn und Lise Meitner im Labor
Lise Meitner und Otto Hahn entdeckten gemeinsam die Kernspaltung – den Nobelpreis für Physik erhielt Hahn dafür jedoch allein
© mauritius images / CBW / Alamy / Alamy Stock Photos
Wer in der Wissenschaftsgeschichte nach großen Errungenschaften und ihren Entdeckern sucht, findet fast ausschließlich die Namen von Männern. Dabei gab und gibt es auch jede Menge Frauen, die Großes in der Forschung geleistet haben. Jedoch blieben sie oft im Schatten ihrer männlichen Kollegen. Der "Matilda-Effekt" beschreibt dieses Phänomen

Namen wie Alexander Fleming, Otto Hahn, Alexander Graham Bell und Robert Koch sagen heute jeder und jedem etwas. Der Erstgenannte entdeckte das Penicillin – wenn auch zugegebenermaßen durch einen Zufall –, Zweiter erhielt für die Entdeckung der Kernspaltung des Urans den Nobelpreis für Chemie, der Dritte gilt heute als Erfinder des Telefons und Letzterer identifizierte Bakterien als Erreger und stellte damit die Medizin-Welt auf den Kopf.

Man könnte eine solche Auflistung beinahe endlos fortführen, ohne lange überlegen zu müssen. Aber bedeutende Wissenschaftlerinnen? Bei vielen endet die imaginäre Liste im Kopf bereits nach dem ersten Eintrag mit Marie Curie – der Frau, die die Radioaktivität entdeckte und dafür im Jahr 1903 mit dem Physik-Nobelpreis ausgezeichnet wurde.

Männer im Rampenlicht, Frauen im Schatten

Dieses Unwissen hat einen Grund: Weibliche Errungenschaften in der Wissenschaft wurden lange Zeit bewusst ausgeklammert und ignoriert oder vergessen. Diese systematische Diskriminierung hat einen Namen: Matilda-Effekt. Er beschreibt die Tendenz, dass Beiträge von Frauen in der Forschung häufig übersehen, verdrängt oder ihre Entdeckungen männlichen Kollegen zugeschrieben wurden.

Namensgeberin des Matilda-Effekts ist die Frauenrechtlerin und Soziologin Matilda Joslyn Gage. Gage verfasste 1870 ein Essay mit dem Titel "Woman as Inventor" (deutsch "Frauen als Erfinderinnen"), heute online einsehbar in der Harvard Library. Mit den Worten "Es mag vielen Personen nicht bewusst sein, doch die Erfindung der Egreniermaschine, einer der größten mechanischen Meilensteine in der modernen Wissenschaft, ist einer Frau zu verdanken" beginnt die US-Amerikanerin ihr Pamphlet und widerspricht darin der damals weit verbreiteten Annahme, Frauen verfügten nicht über den erfinderischen Drang und schon gar nicht über die nötige Begabung für das wissenschaftliche Arbeiten.

Die Frauenrechtlerin Matilda Joslyn Gage ist heute die Namensgeberin des "Matilda-Effekts" (Aufnahme von 1875)
Die Frauenrechtlerin Matilda Joslyn Gage ist heute die Namensgeberin des "Matilda-Effekts" (Aufnahme von 1875)
© picture-alliance / newscom / Picture History | Mathew Brady

Etwa hundert Jahre später fiel das 32 Seiten umfassende Schriftstück der Historikerin Margaret Rossiter in die Hände, die seither in zahlreichen Büchern die Leistungen vergessener Frauen in der Forschung aufbereitet und ins Licht gerückt hat. In einem 1993 veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel "The Matilda Effect in Science" berief sich Rossiter auf Matilda Joslyn Gage und taufte das Phänomen der unsichtbaren Wissenschaftlerinnen auf deren Namen.

"Jüngste Arbeiten haben so viele historische und aktuelle Fälle von Wissenschaftlerinnen ans Licht gebracht, die entweder ignoriert wurden, denen die Anerkennung verweigert wurde oder die auf andere Art und Weise aus dem Rampenlicht verschwanden, dass hier ein geschlechtsgebundenes Phänomen im Spiel zu sein scheint", schrieb Margaret Rossiter damals.

Beispiele für den "Matilda-Effekt" gibt es viele

Und tatsächlich sitzt das Problem tief: Zahlreiche Frauen ereilte in ihrer Forschungskarriere ein solches Schicksal und sie erlitten fehlende Anerkennung. So mussten im Laufe der Geschichte viele Wissenschaftlerinnen zusehen, wie ihre männlichen Kollegen für eine Errungenschaft geehrt wurden oder gar den Nobelpreis erhielten, während sie selbst bestenfalls in einer Fußnote genannt wurden.

Als wohl berühmtestes Beispiel gilt Lise Meitner, die österreichische Physikerin, die eine Schlüsselrolle bei der Entdeckung der Kernspaltung spielte. Obwohl ihr Kollege Otto Hahn 1903 den Nobelpreis für diese Entdeckung erhielt, wurde Lise Meitners Beitrag lange Zeit völlig übersehen oder minimiert.

Auch die britische Biochemikerin Rosalind Franklin musste ähnliches erleben: Für die Entdeckung der DNA Doppelhelix wurden allein die Molekularbiologen Francis Crick und James Watson mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Dabei waren es weder Watson noch Crick, die die Theorie zur DNA-Struktur bestätigten, sondern Franklin. Die Männer gelangten jedoch an die unveröffentlichten Daten Rosalind Franklins und nutzten diese ohne ihre Erlaubnis.

Ein weiteres Beispiel ist die Mathematikerin und Informatikerin Margaret Hamilton. Als Mitarbeiterin am Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelte Hamilton den Computercode, der die Mondlandung 1969 erst möglich machte. Sie programmierte die Navigationssoftware des Bordcomputers der Apollo 11 – 40.000 Kommandozeilen, ausgedruckt in 17 Bänden, welche die Rakete zum Mond und zurück dirigierten. Der Forscherin aber blieb die Anerkennung dafür jedoch jahrzehntelang verwehrt.

Statistische Auffälligkeiten

Einen datenbasierten Beweis für solche Auffälligkeiten liefert Statista: Das Statistik-Portal hat die Verteilung der NobelpreisträgerInnen in den einzelnen Kategorien nach Geschlecht von 1901 bis 2022 untersucht und festgestellt: Ein Großteil der Nobelpreise gingen an Männer. Die größte Diskrepanz findet sich beim Nobelpreis für Physik (98,2 Prozent) und Wirtschaftswissenschaft (97,8 Prozent). Betrachtet man die Verteilung über alle Nobelpreis-Kategorien hinweg, so waren 93,6 Prozent aller Preisträger männlich, nur 6,4 Prozent weiblich.

Auch heutzutage haben Frauen noch damit zu kämpfen, die gleiche Anerkennung für ihre Leistung zu erfahren wie ihre männlichen Kollegen – gerade im Forschungsbereich. Obwohl mittlerweile mehr Frauen als Männer in Deutschland studieren und damit an den Hochschulen überproportional vertreten sind, war im Jahr 2021 nur gut jede vierte hauptberufliche Professur (27 Prozent) in Deutschland mit einer Frau besetzt. Auch in den weiteren Stadien der akademischen Laufbahn sind Frauen zunehmend unterrepräsentiert. Bei abgeschlossenen Promotionen lag der Frauenanteil im Jahr 2021 insgesamt bei 46 Prozent. Auch die Zahl der Hochschulpräsidentinnen ist gering: An drei Viertel der Universitäten in Deutschland stehen Männer an der Spitze.

Noch immer sind Frauen als Rednerinnen auf Konferenzen und wissenschaftlichen Tagungen oder als Verfasserinnen von Publikationen unterrepräsentiert. Auch die Bezahlung liegt (branchenübergreifend) häufig unter der ihrer männlichen Kollegen, dieses Phänomen nennt sich heute "Gender Pay Gap".

Um diese Ungleichheit in der Forschung auszugleichen, hilft vor allem eins: die unsichtbaren Frauen sichtbar zu machen und so ein breites Bewusstsein für die Ungleichheit schaffen. Nur wer von den Leistungen kluger Wissenschaftlerinnen weiß, kann diese auch zitieren, über sie berichten und letztendlich auch junge Frauen und Mädchen in der Ausbildung inspirieren. Genau das war auch das Ziel der US-amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Margaret Rossiter, als sie den "Matilda-Effekte" ins Leben rief: die Geschichte der Forschung zu vervollständigen und die unsichtbaren Frauen ins Rampenlicht zu rücken.

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel