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Psychologie der Feiertage Warum wir bei Familienbesuchen so leicht in die Kinderrolle zurückfallen

Fröhliches Miteinander der Generationen: An Feiertagen erhalten Erwachsene nicht selten Ratschläge von ihren Eltern im Rentenalter, werden bevormundet. Ein Phänomen, das sich alljährlich wiederholt 
Fröhliches Miteinander der Generationen: An Feiertagen erhalten Erwachsene nicht selten Ratschläge von ihren Eltern im Rentenalter, werden bevormundet. Ein Phänomen, das sich alljährlich wiederholt 
© Fabio and Simona / mauritius images
Töchter und Söhne werden beim Heimatbesuch bevormundet, ihnen werden ungebeten Ratschläge erteilt und zuweilen ernten sie taktlose Bemerkungen zu ihrer Lebenssituation. Psychologen haben herausgefunden, warum der Familienbesuch alte Rollenmuster aktiviert und wie souveräne Abgrenzung gelingt   

Einen Freund hat es beim Besuch seiner hochbetagten Mutter besonders schwer getroffen: Als sie gemeinsam beim Bäcker in den Weihnachtsferien in der Schlange anstanden und er anschließend sein Gebäck zur Hälfte aß, blickte die Mutter ihn tadelnd an: "Waren die Augen wieder größer als der Mund?"

Im Handumdrehen war der Bekannte, 48 Jahre, Doktor der Juristerei, inzwischen sogar Honorarprofessor, auf das Niveau eines Fünfjährigen regrediert, geschrumpft eben. Er fühlte sich unwohl, da diese Ansprache natürlich nicht seiner Entwicklung und Position im Job entsprach. Warum rutschen Eltern und Kinder besonders an Feiertagen so leicht in überkommene Rollenmuster? Nicht nur den längst im Rentenalter befindlichen Eltern ergeht es so, dass sie alte Verhaltensweisen gegenüber den Kindern reaktivieren, Ratschläge erteilen und den Nachwuchs oft bevormunden. Auch Söhne und Töchter auf Besuch gleiten, schlimmstenfalls einquartiert ins alte Kinderzimmer, in überholte Muster: Reagieren trotzig, lassen sich bedienen, werfen Klamotten in die Ecke. 

Ablösung bedingt Lebensglück 

Für die Psychologin Sandra Konrad ist der Schlüssel zum glücklichen Erwachsenenleben die ausreichende Abnabelung von den Eltern. Gut abgelöste Menschen könnten ihrer Ursprungsfamilie auf Augenhöhe begegnen, würden nicht so leicht in kindliche Muster fallen. Doch zu Weihnachten oder an anderen Feiertagen herrscht eine zusätzlich schwierige Gemengelage: Zur Erschöpfung am Ende des Jahres gesellen sich Erinnerungen, nostalgische Gefühle sowie die Sehnsucht nach Wärme, Resonanz und einem heilen Nest. Alles berechtigte Glücksquellen auch bei Erwachsenen, die eine zu starke Abgrenzung innerlich verbieten. An der reichgedeckten Familientafel staut sich immenses Konfliktpotenzial auf allen Seiten, während alle die Harmonie nicht gefährden wollen. Es kommt zu Einmischungen, Grenzüberschreitungen und Red Flags. Hinterher sind die Familienmitglieder gerädert und der Bedarf an gegenseitigen Besuchen ist auf Monate kuriert. Könnte es besser gehen?

Nach Sandra Konrad verfügen gut abgelöste Erwachsene vor allem über eins: Freiraum in der Beziehungsgestaltung zu ihren Eltern, sie haben nicht das Gefühl wie viele Erwachsene, an ihrem Leben vorbei zu leben, weil sie die Erwartungen anderer, die von Mutter und Vater, erfüllen. Sie sind in der Lage, die häufig unausgesprochenen Regeln solcher Familienfeste und Begegnungen mitzubestimmen und flexibel zu reagieren. Dazu mag sogar gehören, an Heiligabend mal einen elterlichen Ratschlag oder Kommentar großzügig zu überhören, da man generell sicher in der erwachsenen Rolle im Alltag verankert ist und sich nicht an einzelnen missglückten Sätzen abarbeiten muss. Solche gut gelöste Menschen könnten "die gesamte Beziehung zu den Eltern nachhaltig verändern und neue und eigene Tanzschritte wählen", so Psychologin Konrad. Ein solcher erstrebenswerter Zustand gelingt aber nur jenen, die in der Lage sind, Grenzen zu ziehen und sich mit innerer Klarheit abzugrenzen. 

Abgrenzung über den Körper 

Ein paar Schritte führen zu diesem wertvollen psychologischen Vermögen. Zunächst gilt es, ein Sensorium für Unbehaglichkeitsgefühle zu gewinnen und körperliche Signale ernst zu nehmen. Bei Schilderungen von Verwandten verspannt sich die Schulterpartie? Bei Einmischungen oder Kommentaren zum aktuellen Lebensgefährten steigt Zorneshitze auf, krampft der Magen oder das Herz beginnt zu flattern? Der Körper signalisiert, dass das Maß der Dinge lange voll ist.

Der Buchautor und Psychologe Rolf Sellin berät Menschen mit Abgrenzungsschwierigkeiten. Als Sofortmaßnahme empfiehlt er, die Körperhaltung während eines solchen unbehaglichen Familiengesprächs zu ändern und sich aufzurichten, eine distanzierte Positur einzunehmen. Abgrenzung über den Körper funktioniere wie im Tierreich, wo sich zwei Kater aufplustern, um Dominanz zu signalisieren, so der Experte. Ratsam könne sein, das Lächeln einzustellen – oder die Stimmlage zu verändern. Wer keine Erfolge über Haltung und Tonlage erzielt, sollte familiäre Kommentare dann mit neutralen Selbstaussagen parieren  – etwa: "Ich liebe und schätze meinen Partner" oder "mir tut die vegane Ernährung  gut". Auch kann es helfen, an Festtagen kurz den Raum zu verlassen und einen Themenwechsel zu erzwingen. 

Ein solches Nein zu den anderen Familienmitgliedern sollte man ruhig einmal im Trockenen üben und im Idealfall mit Wertschätzung und Anerkennung beispielsweise für eine mögliche Fürsorge des Ratschlags verbinden.

Wie ein neuer Blick auf Mutter und Vater entsteht 

Gut ist es, wenn solche Maßnahmen nicht erst in der Situation aus dem Köcher gezogen werden, sondern Erwachsene vor großen Festen im Vorfeld einen Plan entwickeln und den Besuch nach einem erwachsenen Skript selbst mitgestalten: So lässt sich der Verlegenheit vorbeugen, immer nur auf Eltern oder Verwandte zu reagieren. Ein Gestalter hat selbst Pläne, Vorstellungen, wie ein Fest besser seinen Erwartungen entspricht, ist sich seiner Handlungsmöglichkeiten bewusst und sorgt gut für sich. Oft laufen hohe Feste ja nach unhinterfragten Familien-Regeln ab, die niemanden mehr zusagen. Hier kann es Dynamik in erstarrte Abläufe bringen, wenn im Vorfeld Optionen für Veränderungen besprochen und getestet werden. 

Im Idealfall machen alle Generationen Kompromisse, sodass sich eine Balance zwischen Alt und Neu einpendelt. Nach Psychologin Konrad werden Menschen übrigens psychologisch vollends frei vom Bann der elterlichen Dominanz und Einmischung, wenn sie diese in einem größeren, einem transgenerationalem Zusammenhang zu sehen vermögen. Vielleicht hat die Mutter schon von ihrer Mutter wenig Verständnis und Fürsorge bekommen, weswegen sie nun stets die Aufmerksamkeit aller Familienmitglieder durch dramatische Krankheitsschilderungen auf sich ziehen muss. Oder der Vater erlebte in den Nachkriegsjahren bittere Armut, sodass ihm heute jeder Luxus beim Familienmahl schwerfällt und Gäste mit Weinen vom Discounter bewirtet werden. 

Plötzlich kann Verständnis und ein neuer Blick für Mutter und Vater aufkommen, der den Handlungsspielraum Erwachsener durch Mitgefühl erheblich erweitert. Der Mittelweg zwischen trotziger Rebellion und devoter Anpassung bei erwachsenen Kindern wird frei und ermöglicht damit echte Begegnung mit den alten Eltern. Einen Versuch beim nächsten Familienfest ist es wert, sich einmal in neue Dynamiken zu begeben oder einmal aus anderer Flughöhe auf die Elterngeneration zu blicken. "Ohnehin heißt Ablösung ja nicht, die Eltern weniger zu lieben", sagt Sandra Konrad. "Sondern nur, diese reifer zu lieben. Man kann also abgelöst sein und gerade deshalb mit Mutter und Vater liebevoll verbunden bleiben." Das Band zwischen Eltern und Kindern muss also nicht zerreißen, die Verbindung kann sogar reifer und fester werden. 

mae

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