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Emotionen Peinlich berührt? Verlegenheit erfüllt einen wichtigen Zweck, sagt die Forschung

Eine Frau verbirg ihrt Gesicht hinter herabhängenden Zweigen
Nach einem Fauxpas möchten wir oft am liebsten eines: ungesehen sein
© Itla / Stocksy
So unangenehm und überflüssig fühlt sich Verlegenheit an, dass man fragen könnte, warum sie überhaupt existiert. Doch Forschende erkennen in dem eigenartigen Gefühl eine verblüffende Logik

Es sind diese Momente, die wir alle schon erlebt haben – und nie wieder erleben möchten. Da kippt uns die Kaffeekanne auf dem Konferenztisch um, da sprechen wir den längst bekannten Nachbarn mit falschem Namen an, da ertappt uns eine Freundin bei einer Lästerei. Wie peinlich! Am liebsten möchten wir dann sprichwörtlich in den Boden versinken, uns kleiner als klein machen. Bloß verschwinden.

Doch erst weil uns derartige Situationen so unangenehm sind, erregen sie in der Regel die Aufmerksamkeit anderer. Und das ist – aus Sicht von Fachleuten aus Anthropologie und Psychologie – gut so. Denn sie verstehen Verlegenheit vor allem als Besänftigungsgeste gegenüber unseren Mitmenschen: Wer sich peinlich berührt zeigt, gibt zu erkennen, dass zum Beispiel eine Taktlosigkeit nicht absichtlich geschah und zudem nicht wieder erfolgen soll.

Körpersignale zur Schadensbehebung

Demnach fungiert Verlegenheit als eine Art Schadensbehebung, die darauf abzielt, nach einem unangemessenen Verhalten die Akzeptanz der anderen zurückzugewinnen und so sozialer Ächtung zu entgehen. Zweifellos hätte ein Ausschluss aus der Gruppe für die Menschen der Frühzeit fatale Folgen gehabt: einen Mangel an Nahrung, an Schutz und womöglich gar den Tod.

Daher galt es, die Harmonie im Sozialverband zu wahren, die empfundene Peinlichkeit also mittels deutlicher Zeichen für andere erkennbar zu machen. Und so wird das Verlegenheitsgefühl bis heute von eindeutigen Körpersignalen begleitet, die sich – so zeigen wissenschaftliche Beobachtungen – in fester Abfolge und stets binnen fünf Sekunden einstellen.

Zunächst senkt sich der Blick. Dann folgt ein zaghaftes Lächeln. Häufig dreht der Betreffende den Kopf zur Seite und wendet den Blick ab. Oft beschleunigt sich der Blutfluss – die Haut errötet.

Nahaufnahme eines verlegen lächelnden Frauengesichts
Gesenkter Blick, zaghaftes Lächeln: typische Signale der Verlegenheit
© Chris Zielecki / Stocksy

Dass diese sichtbaren Merkmale der Verlegenheit tatsächlich beschwichtigend wirken, belegen Studien, in denen Probanden gebeten wurden, eine Testperson zu beurteilen, der ein Missgeschick unterläuft – etwa, dass sie im Supermarkt einen Stapel Konserven umstieß. Merkten die Befragten der Person an, dass ihr die Situation peinlich ist, vergaben sie besonders hohe Sympathiewerte. Blieben die charakteristischen Signale dagegen aus, schwand das Wohlwollen.

Verlegenheit kann unvernünftig machen

Doch wie viele andere Emotionen hat auch das Peinlichkeitsgefühl eine Kehrseite, es bewirkt nicht immer Gutes. Denn allzu oft gehen Menschen übermäßig hohe Risiken ein, um nur ja nicht in Verlegenheit zu geraten. Sie versäumen wichtige medizinische Untersuchungen, weil ihnen ein Arztbesuch unangenehm ist. Eilen bei Unfällen nicht zu Hilfe, weil sie fürchten, sich bei einem Rettungsversuch zu blamieren. Oder nehmen unsichere Sexpraktiken in Kauf, weil sie sich genieren, etwa Kondome zu kaufen. 

Eng verwandt mit der Verlegenheit ist die Körperscham, jenes beklemmende Gefühl, das uns etwa dann befällt, wenn wir uns vor anderen ausziehen sollen. Diese Angst vor der Blöße unterscheidet den Menschen von allen anderen Lebewesen: Während Tiere meist offen vor den Augen ihrer Artgenossen kopulieren, versteckt sich der Mensch beim Sex und verhüllt seinen Körper. Zwar kommen einige Naturvölker noch heute ohne Kleidung aus, doch selbst bei ihnen ist geregelt, welche Blicke erlaubt sind und welche als obszön gelten.

Scham als Triebfeder der Zivilisation 

Das Verbergen des Geschlechtsaktes, so mutmaßen Verhaltensforscher, schwächte Rivalitätskämpfe unter den frühen Hominiden ab und begünstigte so ein ungestörtes Zusammensein. Das Verhüllen der Genitalien wiederum sorgte dafür, dass die Menschen nicht immerzu begehrlichen Reizen ausgesetzt waren, sondern einen Großteil ihrer Zeit und Aufmerksamkeit auf andere Tätigkeiten richten konnten.

Gut möglich also, dass sich kulturelle Errungenschaften wie Ackerbau und Viehzucht auch deshalb entwickeln konnten, weil der Homo sapiens sexuell weit weniger abgelenkt war als andere Arten.

Neben den Zuneigungsgefühlen, die das soziale Miteinander erst ermöglichten, mussten unsere Ahnen also auch eine Reihe unbequemer Emotionen hervorbringen. Denn sie gewährleisteten, dass das Leben in der Gruppe dauerhaft funktionierte. Nur wer Schuld- und Schamgefühle zeigte, wer zu erkennen gab, dass ihn Regelverstöße verlegen machen, wurde als kooperativer und verlässlicher Partner wahrgenommen.

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