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Therapien Studie zeigt: HIV-Patienten erkranken deutlich seltener an Multipler Sklerose

Illustration einer beschädigten Nervenzelle
Bei Multipler Sklerose attackieren Immunzellen die Umhüllung (gelb) von Nervenfasern (blau). Lähmungen, Taubheitsgefühle oder Sehstörungen können die Folge sein
© Stocktrek / mauritius images
Menschen, die antiretrovirale Medikamente im Rahmen einer HIV-Behandlung einnehmen, haben ein geringeres Risiko, MS zu entwickeln, offenbart eine große Untersuchung. Das könnte den Weg für neue Therapien gegen die vielschichtige Autoimmunerkrankung ebnen  

Ein starkes Immunsystem ist der wichtigste Garant, gegen aggressive Krankheitserreger gewappnet zu sein. Der Segen einer tüchtigen Abwehr wird jedoch zum Fluch, wenn der Körper beginnt, sich selbst zu attackieren. Bei der Multiplen Sklerose (MS) etwa greifen Abwehrzellen in Gehirn und Rückenmark die Umhüllung von Nervenfasern an. Diese chronische Entzündung schädigt die isolierende Schicht, sodass die Nervenzellen Reize nicht mehr richtig weiterleiten. Die Folge sind meist schubweise auftretende Lähmungen, Taubheitsgefühle oder Sehstörungen.

Etwa 250.000 Menschen in Deutschland leben mit MS. 70 bis 80 Prozent davon sind Frauen. Ihre körpereigene Abwehr gilt als besonders robust, umso häufiger treten bei ihnen Erkrankungen auf, die durch ein überschießendes Immunsystem verursacht werden. Heilen lässt sich MS bislang nicht. Doch schon seit etlichen Jahren gibt es Berichte darüber, dass eine Gruppe von Menschen besonders geschützt sein könnte, das Leiden zu entwickeln: HIV-Patienten, die ihre Virusinfektion mittels antiretroviraler Medikamente in Schach halten. 

Ursächlicher Zusammenhang bislang unklar

Auch sind Einzelfälle von MS-Patienten bekannt, die nach Infizierung mit dem HI-Virus und anschließender Einnahme entsprechender Medikamente unter deutlich weniger MS-Schüben (oder gar keinen mehr) litten. Allerdings ist es angesichts des komplexen Krankheitsbildes schwer, einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Symptomlinderung und HIV-Medikament festzustellen. Auch fehlten bislang Auswertungen größerer Datenmengen, um statistisch signifikante Aussagen treffen können.

Dabei sind Forschende um den Epidemiologen Kyla McKay vom Department of Clinical Neuroscience am Karolinska Institut in Stockholm nun einen entscheidenden Schritt weitergekommen. Das Team wertete bevölkerungsbasierte Gesundheitsdaten von zwei Kohorten HIV-positiver Personen aus Schweden und British Columbia, Kanada, aus. Insgesamt 29.000 Patientinnen und Patienten verfolgten die Wissenschaftler über einen Zeitraum von fast zehn Jahren.

Krankheitsrisiko sinkt um bis zu 72 Prozent

Die Ergebnisse ihrer Studie publizierten sie in den "Annals of Neurology". Demnach erkrankten im Beobachtungszeitraum nur 14 HIV-positive Menschen an MS, das sind 47 Prozent weniger Fälle, als aufgrund der Zahlen aus der Allgemeinbevölkerung zu erwarten gewesen wäre. Bei HIV-positiven Frauen reduzierte sich das Risiko, an MS zu erkranken, sogar um 72 Prozent. 

Die genauen Gründe für diesen offensichtlichen Schutz sind nach wie vor unbekannt. Die Studienergebnisse allein lassen keine Aussage darüber zu, ob das Virus oder die antiretrovirale Therapie für die Verringerung des MS-Risikos verantwortlich ist. Für beide Möglichkeiten führt das Expertenteam denkbare Erklärungen an. 

So ist bekannt, dass HIV zu einem fortschreitenden Verlust spezieller Immunzellen, den sogenannten CD4+-T-Zellen, führt. Diese Zellen spielen auch bei MS eine wichtige Rolle, da sie an der Entstehung von Entzündungen im Gehirn und im Rückenmark beteiligt sind. Eine HIV-Infektion könnte die Wahrscheinlichkeit, an MS zu erkranken, also dadurch verringern, dass sie die Zahl der CD4+-T-Zellen senkt.

Medikament könnte Verlauf von Multipler Sklerose bremsen

Ebenso ist die Hoffnung begründet, dass nicht das Virus, sondern dessen Behandlung die Entstehung von MS unterdrückt. Die antiretroviralen Medikamente, so lautet ein möglicher Mechanismus, hemmen nicht nur die Aktivität des HI-, sondern auch des sogenannten Epstein-Barr-Virus. Dieses weltweit verbreitete Herpes-Virus wiederum gilt seit jüngsten Analysen als eine Hauptursache für MS.

Ließe sich dieser Verdacht in Folgestudien erhärten, könnten die antiviralen Eigenschaften einer HIV-Therapie möglicherweise auch das Fortschreiten der MS-Erkrankung bei Betroffenen minimieren. Gerade die zunehmende Beschädigung von Nervenzellen im Spätstadium lässt sich derzeit kaum in den Griff bekommen. Für Hunderttausende Betroffene wäre ein wirksames Medikament die Nachricht ihres Lebens.

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