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Ernährung Darmexpertin: "Glutenfrei ist zu einer Werbebotschaft geworden"

Modell eines Dickdarms
Auch Dr. Viola Andresen erklärt Mithilfe eines Dickdarm-Modells ihren Patienten den Aufbau und die Funktionsweise des Organs
© Peakstock / Shutterstock
Warum viele, die Gluten für ihre Beschwerden verantwortlich machen, falsch liegen und weshalb glutenfreie Ernährung zu einer Gefahr werden kann: Darüber spricht Darmexpertin Dr. Viola Andresen im Interview und vertiefend im neuen Podcast von GEO WISSEN

Was verbirgt sich hinter ei­nem vermeintlichen Reizdarm?

Dr. Viola Andresen: Mitunter ein Morbus Crohn, eine chronisch-entzündliche Darmerkrankung. Manchmal auch eine schwach ausgeprägte Gluten-Unverträglichkeit, die nur entdeckt worden wäre, wenn man bei einer Magenspiegelung Gewebeproben aus dem oberen Dünndarm entnommen hätte. Auch harmlosere Ursachen wie Milchzucker- oder Fruchtzucker- Unverträglichkeiten oder Bakterienüberwucherung im Dünndarm werden längst nicht immer abgeklärt.

Die Schwierigkeit bei der Diagnosestellung besteht aber nicht nur in der Prüfung möglicher anderer Krankheiten – sie erfordert auch eine Abgrenzung zu normalen Verdauungsbeschwerden, wie sie viele Menschen beispielsweise nach Sauerkraut oder Bohnen kennen. Während die einen das als gegeben hinnehmen, horchen andere dann intensiv in sich hinein und fürchten schon, dass sie krank sind.

Wenn ich aber bei einem Patienten nach eingehenden Untersuchungen und sorgfältigem Ausschluss anderer Ursachen schließlich das Reizdarmsyndrom feststelle, darf ich nicht den Eindruck einer Verlegenheitsdiagnose aufkommen lassen, sondern muss dem Betroffenen erläutern, dass es sich um eine eigenständige Erkrankung handelt.

Wir wissen heute, dass bei Reizdarmerkrankten verschiedene Störungen im Darm vorliegen können. So ist zum Beispiel oft die Barrierefunktion des Darms nicht mehr intakt.

Was ist damit gemeint?

Alles, was unser Körper aufnimmt, muss zunächst die sogenannte Darmbarriere passieren – und ist die Darmschleimhaut intakt, nimmt der Organismus gezielt Wasser und Nährstoffe auf und leitet sie über das Blut und die Lymphgefäße zu ihrem Bestimmungsort; unerwünschte Darminhalte werden dagegen am Eindringen gehindert.

Diese Barrierefunktion kann aber durch verschiedene Einflüsse wie etwa Mikrobiomveränderungen oder Entzündungen gestört werden. Dann gelangen Fremdstoffe und Erreger ins Gewebe, die das Immun- und Nervensystem im Darm reizen und dadurch Beschwerden verursachen können.

Und das führt zu Unverträglich­keiten?

Manche Unverträglichkeiten von Nahrungsmitteln scheinen tatsächlich mit einer gestörten Barrierefunktion im Zusammenhang zu stehen; hierzu wird gerade vermehrt geforscht. Bei den häufigsten Unverträglichkeiten gegen Milchzucker oder Fruchtzucker liegen jedoch andere Mechanismen vor. Milchzucker kann vom Körper nur aufgenommen werden, wenn er zuvor durch das von der Darmschleimhaut produzierte Enzym Laktase aufgespalten wird.

Fruchtzucker wiederum benötigt zur Aufnahme ein spezielles Transporter-Eiweiß. Steht von diesen Substanzen nicht ausreichend zur Verfügung – genetisch bedingt oder aufgrund von Darmentzündungen –, kann der Dünndarm die Zuckerarten nicht vollständig aufnehmen. Sie gelangen in den Dickdarm und werden dort von Bakterien fermentiert, wobei Substanzen entstehen, die Blähungen und Durchfall auslösen.Wenn Darmentzündungen die Ursache sind, verschwinden die Symptome, sobald sich der Darm erholt.

Und wie ist es bei Gluten?

Bei Gluten sind zwei Störungen zu unterscheiden: Die Zöliakie, also die Weizeneiweiß-Unverträglichkeit, ist eine recht seltene Krankheit, bei der es im Darm nach Kontakt mit dem in Getreide vorkommenden Eiweiß Gluten zu einer schweren entzündlichen Autoimmunreaktion kommt; sie ist also nicht die Folge einer Darmentzündung, sondern vielmehr eine Ursache dafür. Betroffene müssen lebenslang komplett auf glutenhaltige Nahrungsmittel verzichten.

Davon abzugrenzen ist die Gluten- oder Weizensensitivität, bei der Menschen aus noch unbekannten Gründen beim Verzehr von Getreideprodukten Bauchbeschwerden und andere körperliche Symptome entwickeln können. Diese Krankheit ist noch nicht gut verstanden und wird derzeit erforscht. Sie ist aber auch selten.

Und dann gibt es noch die – viel größere – Gruppe von Menschen, die Gluten zu Unrecht für ihre Beschwerden verantwortlich machen: Studien haben gezeigt, dass 90 Prozent derjenigen, die das Gluten in Verdacht haben, es in Wirklichkeit bestens vertragen.

Viele Menschen meinen, Gluten sei grundsätzlich ungesund. Stimmt das?

Nein, das ist eine völlig falsche Annahme, die leider durch unsere Lebensmittelindustrie gefördert wird. Auf vielen Produkten ist vermerkt, sie seien glutenfrei – oft auch auf solchen, die ohnehin nie Gluten enthalten haben, wie etwa Fleischwaren. Das wirkt dann wie ein Gütesiegel, und die Produkte sind meist teurer als andere. Für die meisten von uns ist der Glutengehalt völlig irrelevant. Mit laktosefreien Produkten ist es genauso, die sind nur für jene von Bedeutung, die eine Laktose-Unverträglichkeit haben.

Auch wenn ich keine Probleme habe, könnte ich ja auf solche Substanzen verzichten.

Das ist nicht ratsam. Es gibt Studien, wonach eine glutenfreie Ernährung langfristig nachteilig ist, offenbar auch, weil die Menschen dann häufig mehr Fleisch und weniger Getreideprodukte essen. Hinzu kommt, dass Gluten in vielen Produkten, in denen es für Konsistenz und Steifigkeit zuständig ist, ersetzt werden muss – oft durch Reisstärke, die mitunter mit Schwermetallen belastet ist.

Viel hilfreicher für den Darm ist etwas anderes, woran aber kaum jemand denkt: in Ruhe zu essen, sich Zeit zu lassen und nicht ständig nebenbei etwas in sich hineinzustopfen.

Das gesamte Interview können Sie in der Ausgabe GEO WISSEN GESUNDHEIT "Der Darm" nachlesen.

GEO WISSEN GESUNDHEIT Nr. 12 - Der Darm

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