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Hamburg Was geht ab in Wilhelmsburg?

Wer mit Marco Antonio Reyes Loredo, Produzent und Moderator, durch Wilhelmsburg läuft, könnte meinen, der Halbbolivianer sei hier aufgewachsen. Ist er aber nicht... Eine persönliche Entdeckungstour

Inhaltsverzeichnis

Willkommen in Wilhemsburg

Er tippt schnell noch eine E-Mail ins Smartphone. Marco Antonio Reyes Loredo sitzt in seinem Büro in den ehemaligen Zinnwerken mitten in Wilhelmsburg, gleich hinter dem Veringkanal. Sein Telefon steht nicht mehr still, seit die Nachricht über den Abriss seines Lebensmittelpunktes, die Zinnwerke, in der Post war.

Das dunkelrote Backsteinwerk ist ein Wahrzeichen Wilhelmsburgs, das an die industrielle Geschichte der Insel erinnert. Jetzt soll es dem Opernfundus der Hamburgischen Staatsoper weichen. Nicht nur die Firma des 33-jährigen Moderators und Allrounders, die Firma Hirn und Wanst GmbH, steht nun vor der Frage wohin. Sondern auch seine kreativen Mitstreiter, ein Getränkehändler und ein Handwerksbetrieb. Sie arbeiten alle in den Zinnwerken und sollen zum 30. September raus aus ihren Räumen.

Hamburg: „Wilhelmsburger wollte ich sein, vom ersten Moment an", sagt Marco
„Wilhelmsburger wollte ich sein, vom ersten Moment an", sagt Marco
© Claudia Höhne

Willkommen in Wilhelmsburg - mitten im Künstlerleben auf der südlich gelegenen Elbinsel. Jahrelang mieden viele Hamburger diese Gegend wie der Teufel das Weihwasser. Ein hoher Ausländeranteil, eine hohe Arbeitslosenquote, viele Jugendliche ohne Schulabschluss verliehen Wilhelmsburg den Stempel "Problemstadtteil". Jetzt ist die Gentrifizierung in vollem Gange. Dank der Internationalen Bauausstellung (IBA) und der internationalen gartenschau hamburg (igs) kommen jede Menge Besucher, um den Stadtteil zu entdecken.

Wilhelmsburg wandelt sich, auch der Blick von außen auf das Viertel: „Es kommen nun auch Leute aus Winterhude mit dem Cabrio und fotografieren mit ihrem Smartphone die neuen Gebäude der IBA, wie das Wälderhaus oder den Energiebunker“, erzählt Marco. „Auch der 'Spiegel' schrieb ja schon: ‚Hier tut Hamburg so, als sei es Berlin’.“

Geboren wurde der studierte Kulturanthropologe 1979 in Weimar. Seinen Beruf kann er nicht erklären, „das wäre viel zu kompliziert, ich mache so Zeugs.“ Bekannt wurde er auch außerhalb Hamburgs durch seine Sendung „Die Konspirativen KüchenKonzerte“, die 2010 als erste freie Produktion überhaupt für den Grimme-Preis nominiert wurde.

Was als Sendung im Internet und im offenen Kanal begann, schaffte 2012 den Weg zum Sender ZDFkultur inklusive einer zweiten Nominierung für den Grimme-Preis 2012. Dabei hatte alles hat ganz simpel angefangen: „Ich habe mir Künstler eingeladen, die ich mal treffen wollte, die mich interessierten, und habe denen ein Essen gekocht in meiner Küche, schließlich gibt es die besten Gespräche immer auf Küchenpartys – und dann haben wir losgelegt, um mal gutes Fernsehen zu machen, völlig ohne Geld und Erfahrung.“

Marcos Heimat Wilhelmsburg

Hamburg: Die Konspirativen KüchenKonzerte: Scooter rockte Wilhemsburg und die Küche von Marco Antonio Reyes Loredo
Die Konspirativen KüchenKonzerte: Scooter rockte Wilhemsburg und die Küche von Marco Antonio Reyes Loredo
© Claudia Höhne

2007 kam Marco vom Hamburger Stadtteil St. Pauli nach Wilhelmsburg – und wusste, dass er bleiben wollte: „Wilhelmsburger wollte ich sein, vom ersten Moment an. Ich war auf einer Einwohnerversammlung im Bürgerhaus Wilhelmsburg, und da waren die Leute so engagiert und so bei der Sache. Der eine kämpfte für die Verdrängung der armenischen Brombeere, der andere für eine völlig neue Form von öffentlichem Nahverkehr. Es wurden am Ende mindestens fünf verschiedene Flugblätter verteilt. So viele meinungsstarke Leute, hatte ich noch nie vorher erlebt.“

„Außerdem,“ sagt er und grinst „war da auch noch der Zaun am Zollhafen, das kannte ich als Ossi doch schon.“ Wer mit ihm durch die Straßen streift, merkt sofort, dass Marco Antonio Reyes Loredo hier längst fest verwurzelt ist.

Nach ein paar Metern durch das Reiherstiegviertel in Richtung Wochenmarkt plaudert er vorm Supermarkt mit der SPD-Abgeordneten aus Wilhelmsburg und erkundigt sich nach der letzten Versammlung. Wenig später winkt er über die Straße zu einem Freund.

Jede Ecke scheint der Produzent und Allrounder zu kennen. Mit dem Becher „Galão to go“ vom Portugiesen geht es doch erst noch in eine andere Richtung, kurz Hallo sagen bei den Leuten von den Rialto Lichtspielen, dem frischrenovierten Kino auf dem Vogelhüttendeich.

Der Wahlhamburger weiß über jede Straßenecke etwas zu erzählen. „Die Leute haben hier wirklich ordentlich geschuftet.“ Viele freiwillige Helfer haben mit ihren Händen das Kinokleinod wieder flott gemacht. Der Dokumentarfilm „Die Wilde 13“ über die Buslinie Wilhelmsburg, an dem er gerade als Produzent mitarbeitet, soll hier seine Premiere feiern. Wo auch sonst?

„Wilhelmsburg ist wirklich der spannendste Stadtteil, den ich mir vorstellen kann. Es ist der Raum, auf dem exemplarisch das passiert, was in ganz vielen Metropolen passiert“, erklärt er. Woanders hin will Marco nicht mehr. „Der Ort hat mich geprägt, und ich präge den Ort“, sagt er.

Das merkt man sofort, wenn man mit ihm auf dem Markt am Stübenplatz steht. Er weiß nicht nur, dass Ali die besten Schlangengurken hat, sondern auch, dass es eine äußerst schmackhafte anatolische Gurke ist. Er kennt den „Bio-Demeter-Mann", der das Biogemüse verkauft, weil es längst Zeit für einen ökologischen Gemüsestand auf diesem Markt war. Auch wo es die besten Haushaltswaren oder die beste Bratwurst gibt, weiß er natürlich – schließlich hat er mal Koch gelernt.

Zwischen den Ständen trinkt er seinen Kaffee und erzählt ein bisschen Tratsch. In Wilhelmsburg fand er die große Freiheit; auch wenn die für viele eigentlich auf der anderen Elbseite liegt. „Die Zinnwerke entdeckte ich beim Joggen am Veringkanal und wunderte mich über die Tische im Innern, irgendwann nervte ich die Leute solange, bis ich einen Schlüssel hatte.“

Der Mietvertrag kam erst viel später dazu, da war das „Märchen“ von seiner selbstgemachten Low-Budget TV-Küchenshow zur ZDFkultur Sendung schon im vollen Gange. Der umtriebige Halbbolivianer muss nun zurück in seine Zinnwerke: arbeiten. Und was wünscht er sich für Wilhelmsburg? Dass weiß er sofort: „Dass Bürgermeister Olaf Scholz anruft und sagt: 'Du, Marco, das war doch ein Versehen mit dem Abriss der Zinnwerke – ihr könnt alle bleiben'!“

Steckbrief

Name: Marco Antonio Reyes Loredo

Geboren: „1979 in Weimar. 33 Jahre alt.“

Wohnhaft in Wilhelmsburg seit: „2007“

Beruf: „Keine Ahnung. Je nachdem, ich mach so Zeugs, definieren kann ich das nicht. Aber Städte interessieren mich. Während meines Studiums der Kulturanthropologie wollte ich Stadtforscher werden. Gerade bin ich Autor und Produzent des Dokumentarfilms 'Die Wilde 13', ein Dokumentarfilm über die Hamburger Buslinie, die von der S-Bahnstation Veddel bis nach Kirchdorf Süd führt. Und ganz offiziell bin ich noch Geschäftsführer der Hirn und Wanst GmbH.“ http://konspirativekuechenkonzerte.de

Ergänze "Mein Wilhelmsburg ist ... ":

„Es ist nicht mein Wilhelmsburg, sondern es muss, ‚unser Wilhelmsburg‘ heißen!“

Marcos Tipps I

Hamburg: Party und Kunst - dafür steht die Soulkitchen in Wihlemsburg. Über Hamburg hinaus wurde sie bekannt als Fimlocation für den gleichnamigen Film von Fatih Akin. Doch nur noch bis Ende des Jahres dient diese Halle als alternatives Kulturzentrum
Party und Kunst - dafür steht die Soulkitchen in Wihlemsburg. Über Hamburg hinaus wurde sie bekannt als Fimlocation für den gleichnamigen Film von Fatih Akin. Doch nur noch bis Ende des Jahres dient diese Halle als alternatives Kulturzentrum
© Gerald Haenel/laif

Rialto Lichtspiele

„Der 1976 gedrehte Kultfilm ‚Nordsee ist Mordsee’ von und mit Regisseur Hark und Schauspieler Uwe Bohm lief neulich gleich dreimal. Die Bohms waren jeden Abend anwesend und haben dem Publikum Rede und Antwort gestanden. Noch bis zum 31. Oktober laufen hier wieder regelmäßig Filme. Pünktlich zum 100jährigen Jubiläum des Lichtspielhauses wurde das Haus wieder eröffnet. Das Ganze wurde nur mit Spenden und vielen freiwilligen Helfern möglich. Auch unser Dokumentarfilm ‚Die Wilde 13’ wird im Rialto seine Premiere feiern.“

Vogelhüttendeich 30 , http://www.rialto-lichtspiele.de

Bürgerhaus Wilhelmsburg

„Wer wissen will, was Sache ist auf der Elbinsel, geht hier auf eine Bürgerversammlung. Es finden aber auch Konzerte statt. Das ist wirklich ein Haus der Bürger.“

www.buewi.de

Lieblingskünstler in Wilhelmsburg

„Raimund Samson, der hat 2007/2008 eine Busgalerie auf die Beine gestellt. Entlang der Buslinie 13 hingen an Häuserwänden großformatige Bilder. Diese Idee fand ich schon damals visionär. Zudem ist er ein meinungsstarker Mann und Künstler. Guckt auf seine Seite: www.raimundsamson.com vorbei.“

Die Wilde 13

„Der Hamburger Bus vom HVV mit der Nummer 13 fährt von der S-Bahnstation Veddel bis nach Kirchdorf Süd. Einsteigen, mitfahren - und nicht nur bis zum Reiherstiegviertel, sondern bis zur Endhaltestelle!“ www.hvv.de

Der beste Imbiss in Wilhelmsburg

„Der Imbiss von Birgit Israel namens Wilhelmsburger Grill-Shop, der liegt in der Fährstrasse 63. Man darf sich nur nicht von der grellen Neonbeleuchtung abschrecken lassen. Doch hier lernt man beim Pommes und Astra mehr über den Mikrokosmos Wilhelmsburg als irgendwo sonst im Viertel.“

Marcos Tipps II

Hamburg: Der Veringkanal auf der Elbinsel von Wihlemsburg ist DER Treffpunkt zum Entspannen
Der Veringkanal auf der Elbinsel von Wihlemsburg ist DER Treffpunkt zum Entspannen
© Gerald Haenel/laif

Don Matteo

„Dieses Restaurant ist von der Atmosphäre wie der Film ‚Solino’ von Regisseur Fatih Akin. Das Essen ist gut, und die drei sizilianischen Schwestern sorgen für Pasta, Pizza und bestes Italiengefühl. Geboren sind die drei Schwestern aber natürlich in Wilhelmsburg, trotzdem sind sie durch und durch Italienerinnen.“

Veringstraße 69

Cafe Seu

„Hier hole ich mir immer meinen Kaffee, den Galão zum Mitnehmen.“ Veringstr. 26

Die Tonne

„Hier auf dem Liegestuhl am Kanal zu liegen ist eine feine Sache. An Samstagen spielen im Glaskasten mit Terrasse mitunter Hamburger Bands, die sich hier erstmals auch einem größerem Publikum stellen.“ Am Veringhof 13, http://tonne.cc/

Wochenmarkt auf dem Stübenplatz

„Mittwochs und samstags von 7 bis 13 Uhr füllt sich dieser Platz mit Leben. Eine Bratwurst mit Pommes und ein starker schwarzer Kaffee sind hier genauso zu haben wie Kleidung, Koffer und Haushaltswaren – und seit kurzem auch Bio-Gemüse.“

Soulkitchen

„Es dauert nicht mehr lange, dann ist auch die Filmlocation von Fatih Akins gleichnamigem Film verschwunden. Die Halle muss Ende des Jahres einem LKW-Stellplatz weichen. Mein Freund Matthias Lindner ist nicht nur ehrenamtlicher Betreiber des alternativen Veranstaltungszentrums Soulkitchen, sondern auch einer der Gründe, warum ich hier in Wilhelmsburg bin. Er ist ein kulturelles Trüffelschwein und findet die tollsten Orte in der Stadt – und unsere Aftershow-Partys der Küchenkonzerte waren auch alle hier.“

Industriestr. 101

Der interkulturelle Garten Hamburg-Wilhelmsburg e.V.

„Bunte Bauwagen, Grünzeug, soweit das Auge reicht – toll. Der Verein versteht sich als Begegnungsstätte für Menschen unterschiedlicher Nationen, Kulturen, Religionen, Sprachen und Arbeitsweisen. Hier werkeln und buddeln alle mit, egal welcher Herkunft sie sind. Das ist für mich mal eine internationale Gartenschau.“ im Park am Veringkanal, www.interkgarten.de

Lieblingsort in Wilhelmsburg

„Am Veringkanal verläuft meine Joggingstrecke, gleich hinter dem Gelände der alten Zinnwerke bin ich gern.“

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