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Das Lesestück "Bitte jede Gebrauchsanweisung für Berlin wegschmeißen"

Die Schriftstellerin Elisabeth Rank ist geborene Berlinerin, was nicht jeder in der Hauptstadt von sich behaupten kann. Wir haben Sie gebeten eine Gebrauchsanweisung für Ihre Heimatstadt zu schreiben
Das Lesestück: Das Lebensgefühl in Berlin ist das, worum viele Metropolen die deutsche Hauptstadt beneiden
Das Lebensgefühl in Berlin ist das, worum viele Metropolen die deutsche Hauptstadt beneiden
© Daniel Biskup/laif

Ich könnte Ihnen jetzt sagen: "Hören Sie mir zu, ich bin hier geboren und aufgewachsen, ich weiß, wie der Hase läuft (nämlich übrigens in unkoordinierten Zick-Zack-Hopsern, falls Sie das interessiert), ich erzählen Ihnen jetzt, wie Berlin funktioniert und was Sie beachten müssen, um hier eine schöne Zeit zu haben". Ich muss Sie leider enttäuschen, denn den Teufel werde ich tun. Ich sage Ihnen nur: Bitte werfen Sie jede Gebrauchsanweisung für Berlin augenblicklich in den Müll. Das einzige, das man nämlich wirklich mitbringen muss, wenn man herkommt, ist ein offener Blick und ein Körper, der erst einmal jegliche Erwartungen an die Stadt abschüttelt (gerne auch zu rhythmischer Musik, das ist Ihnen überlassen). "Das ist ja eine tolle Gebrauchsanweisung", werden Sie jetzt eventuell missmutig vor sich hinmurmeln und diesen Text wegklicken oder zumindest ein neues Tab öffnen, um noch einmal "Berlin" zu googeln, aber lassen Sie mich kurz ausholen.

Auch ich als Berlinerin (und damit meine ich wirklich Original-Berlinerin, die 1984 in Berlin-Mitte geboren wurde, nur ein paar Schritte von der ehemaligen Mauer entfernt) musste eine Weile überlegen, bis ich eine Antwort auf die Frage fand, die mir neulich in Kreuzberg in meinem Lieblingskaffeeladen Chapter One von einer älteren Dame gestellt wurde: "Was haben Sie denn alle mit diesem Tempelhofer Feld?"

Mein Reflex war eigentlich, kurz von der Weite zu schwärmen und über den Blick auf den Himmel, den man als Großstädter so genießt, dann hielt ich aber doch inne, überlegte noch einmal genauer und setzte mich dann mit ihr auf einen Kaffee ins Fenster. "Das Tempelhofer Feld ist ein Ort, an dem die guten Dinge sind, die Berlin für mich ausmachen", sagte ich, weil es sich genauso anfühlt, wenn ich mit dem Fahrrad auf die ehemalige Landebahn rolle oder im Sommer morgens am kniehohen Gras vorbei jogge, aus dem es ganz laut zwitschert. "Aber da ist doch gar keine Stadt!", protestiert die Dame und ich finde, zu Recht, denn Stadt sind ja eigentlich eng gebaute Häuser, Geschäfte, viele Straßen und Gewusel. Zumindest auf den ersten Blick. Und dennoch ist das Tempelhofer Feld so sehr Berlin, weil hier zusammenkommt, was die Menschen ausmacht, die hier leben. Und Berlin könnte noch so viele Hochhäuser, Baracken, Brücken und Altbauten, Brachflächen und Neubauten beherbergen, ohne die Menschen darin und darum wäre es nicht Berlin.

Das Feld ist demnach die Stadt ohne Häuser. Hier sind die, die kommen, weil sie sich bewusst für eine gute Zeit entschieden haben, denn man stolpert nicht einfach so aufs Tempelhofer Feld. Man muss wirklich hingehen oder fahren, das passiert nicht einfach so. Hier sind die, die ihre Gesichter in die Sonne halten, die Arme in die Luft werfen und allen entspannen sich hier die Gesichtszüge für einen Moment, alle wollen wirklich da sein, kaum einer verirrt sich hierhin oder rennt fluchend im Kreis, niemand kommt und will eine neue Verordnung anpreisen, sich beschweren, herumpflaumen oder nölen, wie es sonst zum Beispiel im öffentlichen Nahverkehr häufig der Fall ist. Aufs Tempelhofer Feld kommen die Leute ohne Erwartung, deswegen funktioniert es so gut.

Hier wird aus dem Ächzen der vielen Baustellen ein Seufzen, als hätte jemand die Häuser mit einem Fingerschnips verschwinden lassen. Hier kann es die Stadt plötzlich allen Recht machen, weil es keine Straßen und Bordsteinkanten gibt, keine hupenden Busse und Fahrpläne, die nicht eingehalten werden, hier machen einfach alle für sich und damit irgendwie auch wieder ein bisschen zusammen.

Denn nur wer große Erwartungen in einem Rucksack oder einem Rollkoffer mitbringt, wird von Berlin enttäuscht sein, nur wer sich schon ein Bild gebastelt hat, wird eine Kopie davon hier sicherlich nicht finden. Berlin hat das noch nie gemacht, also ich meine, genau das gesagt, was jemand hören wollte, da können Sie alle fragen, die Sie auf Ihrem Weg treffen, Berlin hat noch nie die richtige Antwort parat gehabt, aber charmant geschaut hat es beim Überlegen und laut gedacht hat es, denn Berlin ist sich für jeglichen Versuch nicht zu schade und genau daran müssen Sie sich erinnern, wenn Sie herkommen. Berlin sagt nicht, wer was muss, Berlin sagt: Sie dürfen es sich aussuchen, mehr als das habe ich nicht. Genau so ist das Feld.

Berlin stellt den Boden und den Himmel und einfach nur Platz. "Den Rest muss jeder selbst machen", sage ich zu der kleinen Dame, die zwar keinen Hut, aber Handschuhe trägt, sogar beim Kaffeetrinken. "Dann mache ich jetzt wohl mal selbst, Sie haben mich überzeugt", sagt sie, bezahlt meinen Kaffee und stöckelt die kleine Treppe hinunter auf die Straße, bevor ich angemessen Danke sagen kann. Ich flüstere es dennoch leise.

Man muss Berlins Ecken kennen, ihnen ein bisschen Raum und Luft geben, man darf nicht gleich mit einem Haufen von Erwartungen und Bitten und Wünschen auf die Stadt eindreschen, sonst kommt sie gar nicht dazu das zu tun, was sie am besten kann: jedem eine Chance geben, jeden sein lassen, wie er oder sie ist, alles ansehen, aber nicht sofort bewerten. Dazu sanft mit dem Kopf schütteln, denn so macht man das hier seit vielen Jahren.

Wenn einem nämlich ständig neue Menschen, neue Sitten, neue Sanierungspläne vor der Nase herumhüpfen und der Blick ihnen folgt, dann rüttelt der Kopf eben hin und her und her und hin. Von außen sieht das aus wie Skepsis. Dabei ist's nur der Blick. Man wird ja wohl mal seufzen dürfen. Deswegen knüllen Sie bitte jede Gebrauchsanweisung zu einem Ball zusammen und behalten Sie dieses Knäuel in der Tasche. Sie könnten eventuell einen Fußball brauchen unterwegs.

Das Lesestück: Die Schriftstellerin Elisabeth Rank wurde mit ihrem Romandebüt "Und im Zweifel für dich selbst" bekannt, 2013 erschien dann der Nachfolger "Bist du noch wach?"
Die Schriftstellerin Elisabeth Rank wurde mit ihrem Romandebüt "Und im Zweifel für dich selbst" bekannt, 2013 erschien dann der Nachfolger "Bist du noch wach?"
© Nina Hüpen-Bestendonk

Für Momente ganz ohne Kopfschütteln bitte einmal hier entlang:

Landebahnfeeling

Legen Sie sich auf eine der Landebahnen auf dem Tempelhofer Feld – egal bei welchem Wetter. Ob es stürmt, schneit oder die Sonne scheint, Sie müssen einmal dort gelegen und sich selbst in Gedanken von oben gesehen haben. Lassen Sie sich den Wind um die Ohren wehen und halten Sie es aus, das gehört mit dazu. Danach wird alles aus Ihnen rausgepustet sein und Sie werden es lieben.

Schlürfendes Lebensgefühl

Trinken Sie an einem Donnerstag- oder Freitag-, vielleicht auch einem Samstagabend einen Drink im Rias (Manteuffelstraße 100, Kreuzberg) oder im List (Weichselstraße 66, Neukölln). Sitzen Sie am Tresen, schlürfen Sie etwas, das Sie vorher noch nie geschlürft haben (und schlürfen Sie bitte wirklich, das macht man hier so) und warten Sie ab.

Neue Wege erkunden

Laufen Sie. Auch wenn Ihnen die Entfernungen weit vorkommen werden, ziehen Sie bequemes Schuhwerk an und laufen Sie einfach. Laufen Sie los, erkunden Sie Hinterhöfe, fragen Sie Menschen nach einem (und nicht DEM) Weg, machen Sie Tore auf und schauen Sie nach. Sie werden wunderschöne, ruhige Friedhöfe finden, lustige Parties und Menschen, die sich freuen werden, wenn mal nicht jemand verschreckt beiseite springt, sobald man ihn anlächelt.

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