Wäre die Langsamkeit nicht schon von Stan Nadolny entdeckt worden, ich hätte mich dafür beworben. Seit zwei Tagen schweben wir bereits auf dem stillen Wasser des Mekongs und hängen unseren Gedanken nach. Wenn wir nicht gerade von der Crew der "Mekong Sun" mit traditionellem Thai Food bedient oder von unserem "Hoteldirektor" Thomas Stukenbrok auf die Eigenheiten asiatischer Lebensart hingewiesen werden, schauen wir still und staunend hinaus auf den umbrabraunen Fluss und bewegen uns in gefühlter Zeitlupe an den Flusslandschaften von Laos vorbei.
Die kraftvolle, zweimal 550 PS starke Maschine tief im Rumpf unseres Bootes unterlegt dieses exotische Bühnenbild mit dumpfem Brummen, das – einmal im gleichmäßigen Rhythmus befriedet – zum Taktgeber für eine Form der visuellen Meditation wird, die ich bislang noch nicht kannte. Hinter jeder Biegung des Flusses taucht ein neues Szenario auf: Dschungel an hoch aufragenden Ufern. Hügelige Lehmkaskaden neben rissigen, brachial in Sand und Stein geschlagenen Treppenstufen ins Nichts. Verwitterte Hütten aus Holz, die schon jahrelang niemanden mehr beherbergt haben dürften.
Wer nicht genau aufpasst, dem spielt der Dramaturg dieser so herrlich zäh fließenden Inszenierung einen Streich: Waren wir nicht vor ein paar Minuten erst genau an dieser Stelle? Haben wir diese Buddhafigur am Ufer oder diese grasenden Ziegen nicht gerade schon einmal passiert? Der Mekong ist ein mächtiger Fluss, der alles um sich herum einebnet und an den Rändern übermalt.
Schuhe aus: Das ist der wichtigste Satz an Bord
Natürlich kann man sich einer Bootsfahrt auf dem Mekong auch nüchterner nähern. Mit der Beschreibung dessen, was so eine Kreuzfahrt mit einem Boot wie der "Mekong Sun" von einer beliebigen Schiffssause auf einer schwimmenden Kleinstadt unterscheidet. Die "Mekong Sun" ist nur vierzig Meter lang und wirkt durch ihre eleganten Aufbauten aus Teak- und Mahagoniholz wie die schwimmende Gartenlaube eines skandinavischen Designers. Schuhe aus, das ist der erste Satz, den wir an Bord hören – die glänzenden Holzbohlen sollen möglichst nicht in Mitleidenschaft gezogen werden. Auf den beiden Decks befinden sich nur 14 Kabinen. (Das Schwesterschiff "Mekong Pearl" hat nur eine Kabine mehr.) Das heißt, dass nie mehr als 30 Gäste an Bord sind – zuzüglich der 16 Crewmitglieder natürlich, die wir im Rahmen einer Vorstellungsrunde kennenlernen. Es geht persönlich zu auf der „Mekong Sun", vom anonymen Amüsierbetrieb auf den "Traumschiffen" der Weltmeere ist unsere Fahrt auf dem Mekong weit entfernt.
Bevor wir in Luang Prabang an Bord der "Mekong Sun" einchecken, bleibt ein Tag Zeit, um uns den wohl schönsten Ort Südostasiens anzuschauen. Luang Prabang gilt als Stadt der tausend Pagoden, doch die Zahlen, wie viele es tatsächlich sind, sind unzuverlässig. Sicher ist nur, dass es sehr viele sind – was jeden Tag aufs Neue durch ein beeindruckendes Schauspiel auf Luang Prabangs Straßen bewiesen wird.
Gleich nach dem Morgengrauen schwärmen Heerscharen von in leuchtendem Orange gekleideten Mönchen aus, um sich die tägliche Morgengabe abzuholen. "Tak Bat" heißt dieses Schauspiel, das als "Offering" oder "Einsammeln der Morgengabe" zur Touristenattraktion geworden ist. Schweigend schlurfen die Mönche vorbei an den zumeist auf dem Bordstein kauernden Menschen und sammeln Früchte und Klebereis ein, ihr Frühstück, Mittag- und Abendessen. Mönche dürfen keinen weltlichen Besitz haben und sind auf diese morgendlichen Gaben angewiesen. Der Preis dafür: Selfies mit Touristen aus aller Welt.
Tourismus ist Fluch und Segen zugleich
Kaum haben sich die Mönche in ihre Tempel zurückgezogen, öffnen die ersten Frühstückscafés in Luang Prabang. Avocados werden aufgeschnitten, es duftet nach frischem Kaffee, frische Früchte werden auf Tellern zerteilt. Luang Prabang ist dank der üppigen Restaurierungsbemühungen seiner einstigen französischen Besatzer zu einer der schicksten Städte Laos' geworden. Backpacker aus der ganzen Welt machen hier in schmucken Gasthäusern Station, die Restaurants und Cafés sind stilvoll hergerichtet, die Straßen überwiegend sauber – mit dem Rest von Laos, einem der ärmsten Länder der Welt, hat Luang Prabang wenig zu tun.
Es ist ein Fluch und es ist ein Segen für die Bewohner dieser wundervollen Stadt. Selbst die urwüchsigen Tages- und Nacht-Märkte haben sich verändert, auch wenn an abseitigeren Ständen immer noch gekochte Ratten oder Flughunde feilgeboten werden und blutige Stümpfe von Ziegenbeinen auf die Auslage tropfen.
Der Oberlauf des Mekongs gehört zu den eindrucksvollsten Flusstrecken der Welt. Unsere Route zwischen Luang Prabang und Vientiane, der Hauptstadt von Laos, ist knapp 500 Kilometer lang – ein Klacks nur im Vergleich zu den mehr als viertausend Kilometern, in denen sich die "Mutter aller Flüsse" von den Götterbergen Tibets bis ins Delta von Vietnam windet. Doch es sind abwechslungsreiche 500 Kilometer, die bestimmt werden von engen Biegungen, Schleusen, kleinen Wasserfällen und versteckten Sandbänken. An einigen Stellen ist der Mekong 100 Meter tief, an anderen reicht das Wasser gerade, um Schiffe zu tragen. Mal misst er 50 Meter von Ufer zu Ufer, dann wieder dehnt er sich auf gewaltige 16 Kilometer aus.
Der Kapitän steuert nach Gefühl
Unser Kapitän Huan Chith Ta Phon ist ein kleiner Mann. Er steht auf einem Höckerchen, um freie Sicht auf den Fluss zu haben. Er manövriert auf Sicht, kein Autopilot steuert unsere Geschicke. Schriftliches Kartenmaterial, das helfen könnte, den sicheren Weg zwischen Stromschnellen und Sandbänken zu finden, gibt es nicht. Erfahrung und ein Gefühl für den Mekong sind es, die Huan Chith Ta Phon leiten. Und das auch nur tagsüber. Bevor die Dunkelheit einsetzt, muss ein Ankerplatz auf einer Sandbank an den Ufern des Mekongs gefunden werden.
Fest kalkulierbare Ziele gibt es nicht. Der Mekong hat ein Eigenleben. Wann wir wo sein werden, ist im Voraus nie genau zu bestimmen. Am zweiten Abend ankern wir weit abseits von Spuren menschlicher Zivilisation. Auf einer Landzunge entfacht unsere Crew ein Lagerfeuer, zu den Klängen einer schlichten Klampfe werden Lieder angestimmt. Wehmütig klingen sie und so geheimnisvoll, wie die Geräusche, die aus den nahegelegenen Wäldern zu uns hinüber dringen.
Am nächsten Tag besuchen wir ein kleines Dorf, Ban Don Sai Ngam. Die Frage, die uns antreibt: Wie lebt man mitten im gefühlten Nichts – und wovon? Die Besucher des kleinen Dorfs gehören zu den so genannten Tiefland-Laoten, einer von drei Bevölkerungsgruppen in Laos. Eine Gruppe Kinder erwartet uns schon auf dem kleinen Hügel vor dem Eingang zum Dorf. Teilweise tragen sie Fußballtrikots von Manchester United oder Real Madrid. Die Häuser im Dorf sind einfach, aber solide erbaut, nur der Tempel befindet sich in einem heruntergekommenen Zustand. Der Grund: Der Mönch ist weg. Länger schon, wie wir hören, weitergezogen, weil sich die Gemeinde seinen Unterhalt nicht mehr leisten konnte. Das vermutet jedenfalls Thomas Stukenbrok, unser bedächtiger Guide in allen Fragen der Völkerverständigung auf der "Mekong Sun". Einer von uns darf einen seltsamen dreirädrigen Traktor Probe fahren, der eines der wenigen technischen Hilfsmittel zu sein scheint, mit dem hier Landwirtschaft betrieben wird. Das Gros ihrer Ernte verkauft das Dorf auf einem Markt in der Gegend, davon leben sie.
Wie lebt man im gefühlten Nichts?
In einer ähnlichen Ansiedlung Tage vorher trafen wir noch eine ältere Frau, die auf abenteuerliche Weise selbst angebauten Zuckerrohr-Schnaps in kleinen braunen Fläschchen ohne Etikett verkaufte. Hier in Ban Don Sai Ngam will uns niemand etwas verkaufen.
"Das hier ist kein Show-Dorf, das von Touristen lebt", versichert Thomas Stukenbrok, und es stimmt: Die Menschen dort haben ebenso viel Interesse an uns wie wir an ihnen, ohne dass daraus unbedingt ein Geschäft entstehen müsste. Als wir zurück an Bord gehen, sind wir trotzdem bedrückt. Wie okay und wahrhaftig ist es denn, einfach mal so nebenbei festzustellen, dass die Menschen in Ban Don Sai Ngam mit ihrem einfachen Leben einen zufriedenen Eindruck machen. Oder ist es nicht eher ein Teil unseres bequemen Blickwinkels und unserer westlichen Arroganz, die objektive tiefe Armut der Laoten stillschweigend zu relativieren? Eine ewig aktuelle Frage, die uns Weltenbummler auf all unseren Wegen so oder ähnlich immer wieder begegnet.
Flusslandschaft in Zeitlupe
Nach fünf Tagen endet unsere Reise in Vientiane, der Hauptstadt von Laos. Vientiane versprüht den Charme einer staubigen Provinzstadt. Vom exotischen Zauber unserer Schiffspassage auf dem Mekong ist hier nichts mehr zu spüren. Wehmütig lassen wir die eindrucksvollsten Bilder der letzten Tage noch einmal vor unserem geistigen Film-Projektor ablaufen, bevor uns ein Flugzeug nach Bangkok bringt. Vor allem die viele Momente natürlich, die wir still und beinahe andächtig am Oberdeck der "Mekong Sun" verbrachten, während diese unglaubliche Flusslandschaft in Zeitlupe an uns vorüberzog und uns traurig und glücklich zugleich machte. Mehr als auf dem Mekong werden wir über das Wesen der Melancholie nie mehr erfahren.
REISETIPPS
Anreise: Von Frankfurt am Main und München gibt es Direktflüge in die thailändische Hauptstadt Bangkok. Von dort sind es weitere eineinhalb Flugstunden bis Luang Prabang. Zurück fliegt Lao Airways von Vientiane nach Bangkok.
Einreise: Für Laos wird ein Visum benötigt, das am Flughafen ausgestellt wird und rund 38 Euro kostet.
Flusskreuzfahrten: Lernidee Erlebnisreisen betreibt die zwei Boutiqueschiffe "Mekong Sun" und "Mekong Pearl" auf dem oberen Mekong. 14, beziehungsweise 15 Kabinen bieten Platz für 28 beziehungsweise 29 Personen. Besonders beliebt ist die 14tägige Reise „Orchidee" vom Goldenen Dreieck über Luang Prabang bis nach Vientiane oder umgekehrt.
Zuweilen unterstützen uns Veranstalter bei der Organisation der Reisen. Dies hat keinen Einfluss auf den Inhalt der Berichterstattung