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Hirnforschung Deshalb sind manche Menschen besonders gewalttätig

Hirnforschung: Viele Gründe, warum Menschen zu Gewalttätern werden, lassen sich im Gehirn finden. Das belegen diverse wissenschaftliche Studien
Viele Gründe, warum Menschen zu Gewalttätern werden, lassen sich im Gehirn finden. Das belegen diverse wissenschaftliche Studien
© mauritius images / Igor Stevanovic / Alamy
Seit vielen Jahren untersuchen Forscher, weshalb manche Menschen zu starker Gewalt neigen. Inzwischen wissen sie: Es gibt anatomische Auffälligkeiten im Gehirn, die dazu führen können, dass die Impulskontrolle der Betroffenen versagt

Die 39 Männer und zwei Frauen, die an diesem Tag im Jahr 1995 an den Füßen gefesselt in die Abteilung für Gehirnforschung an der University of California geführt werden, sind allesamt Schwerverbrecher, die getötet haben. Nun sollen sie an einem Experiment teilnehmen, das eine neue Ära in der Erforschung der Ursachen von Gewaltverbrechen begründet. Denn erstmals werden Wissenschaftler tief in die Schädel von Mördern blicken – von Menschen also, die mehr als alle anderen für das Dunkle, Destruktive, Unberechenbare im Homo sapiens stehen. Lässt sich das Böse in den Windungen ihrer Hirne aufspüren? Funktioniert das Denkorgan von Gewaltverbrechern anders als das friedfertiger Menschen? Kann man das Abgründige, Niederträchtige besser verstehen, wenn man seine neuronalen Grundlagen durchschaut?

Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, untersucht der Neurokriminologe Adrian Raine die Probanden mit einem Positronen-Emissions-Tomographen. Dieses Gerät registriert die Signale von schwach strahlenden Substanzen; daher hat der Forscher den 41 Mördern – und einer gleich großen Gruppe von Kontrollpersonen – vor Versuchsbeginn eine für sie unbedenkliche Menge leicht radioaktiven Traubenzuckers gespritzt. Anhand der davon ausgehenden Strahlung kann der PET-Scanner präzise messen, in welchen Hirnregionen sich der Zucker konzentriert – ein Zeichen dafür, wie viel Energie die dortigen Nervenzellen verbrauchen, wie aktiv sie also jeweils sind. Damit die Gehirne der Teilnehmer dauerhaft beschäftigt sind und die Forscher so eine Vielzahl von Signalen aufzeichnen können, bitten sie die Probanden, eine einfache Aufgabe zu lösen. Eine gute halbe Stunde lang sollen sie immer dann eine Taste drücken, wenn auf einem Bildschirm vor ihnen eine Null erscheint.

Adrian Raine will mit diesem Test vor allem herausfinden, ob der präfrontale Kortex im Kopf der Verbrecher Eigenheiten offenbart. Denn dieser hochentwickelte vordere Bereich der Großhirnrinde ist für komplexe Fähigkeiten und vernunftbasierte Entscheidungen wichtig. Selbstbeherrschung, Selbstreflexion, moralische Bewertungen und Taktgefühl haben dort ihren Sitz. Zudem ist der präfrontale Kortex als Kontrollinstanz dafür zuständig, andere Hirnstrukturen, die uns zu impulsivem Handeln veranlassen, gleichsam im Zaum zu halten. Raine fragt sich: Kann es sein, dass diese Region bei Gewaltverbrechern unterentwickelt ist? Dass sie weniger aktiv ist als bei Normalmenschen? Dass Mörder und Totschläger sich aufgrund der neurologischen Strukturen in ihrem Hirn nicht so kontrollieren können wie andere?

Tatsächlich belegen die Ergebnisse des Experiments, dass der präfrontale Kortex bei der Mehrzahl der Mörder auffallend wenig Aktivität zeigt. Blaue und grüne Areale auf den Scans signalisieren, dass in dieser Hirnregion kaum etwas geschieht. Bei den Kontrollpersonen dagegen leuchtet es in der gleichen Region intensiv rot und gelb. Ihre Hirnzellen in diesem Bereich sind äußerst regsam, sie lassen sich durch die einfache Aufmerksamkeitsübung problemlos aktivieren. Zwar sind auch die untersuchten Straftäter durchaus in der Lage, die von Raine gestellte Aufgabe zu erledigen, doch die Ergebnisse des Versuchs zeigen klar: Sollen sich die Gewalttäter – wie im Test erforderlich – für längere Zeit konzentrieren, bleibt ihr Stirnhirn weitgehend reglos.

Diese mangelnde Aktivität im vorderen Bereich der Großhirnrinde, so sind sich die kalifornischen Forscher sicher, ist die entscheidende Ursache für die Gewalttätigkeit der kriminellen Probanden. Denn Menschen, deren Frontalhirn nur unzureichend funktioniert, deren Kontrollinstanz also weitgehend versagt – so die Schlussfolgerung –, lassen sich von Emotionen und niederen Instinkten recht leicht beherrschen. Und neigen demnach zu ungehemmter Aggression. Die spektakulären Befunde sind der Auftakt für eine ganze Reihe weiterer Studien, die Raines Ergebnisse und seine Vermutung untermauern. So finden etwa US-Forscher heraus, dass Vietnamkriegsveteranen, die Schädigungen im präfrontalen Kortex erlitten haben, zu erhöhter Aggressivität neigen. Auch in Versuchen mit Patienten, deren Stirnhirn etwa durch eine Operation verletzt wurde, zeigt sich: Arbeitet diese Region fehlerhaft, verhalten sich Menschen zügellos und unangemessen impulsiv. All diese Untersuchungen lassen den Schluss zu: Die Gehirne von Gewaltverbrechern funktionieren tatsächlich anders als die friedfertiger Menschen. Doch was ist die Ursache dafür? Gibt es geborene Mörder? Oder führen bestimmte Erlebnisse in der Kindheit dazu, dass sich das Gehirn ungünstig entwickelt, ja anatomisch so verändert, dass eine kriminelle Karriere quasi vorgezeichnet ist?

Je mehr sich Neurowissenschaftler, Psychiater, Psychologen und Biologen mit den Wurzeln von Gewalt beschäftigen, desto deutlicher wird, wie sehr genetische Anlagen und Umwelteinflüsse die neuronale Entwicklung prägen und das Risiko für kriminelles Verhalten erhöhen können. Und desto besser verstehen sie auch, weshalb es zwei Typen von Mördern gibt: solche, die zu explosiven, unkontrollierten Gewaltausbrüchen neigen. Und jene, die eiskalt und offenbar gefühllos über Wochen, Monate ihre Taten planen.

Gewalt ist ein Erbe der Evolution

Dass Menschen überhaupt Gewalt anwenden, ist ein uraltes Erbe der Evolution. Im Gehirn von Säugetieren, so wissen die Biologen heute, existieren spezifische, auf komplexe Weise miteinander agierende Areale für Emotionen wie Angst, Ärger oder Wut sowie für aggressives Verhalten. Die Bereitschaft zur Gewalt gehört zum Überlebensrepertoire aller Tiere. Sie brauchen dieses Aggressionspotenzial, um Beute zu fangen, um sich gegen Angreifer zu verteidigen und sich gegen Konkurrenten durchzusetzen. Die neuronalen Netze, die die Emotionen und das aggressive Verhalten in Gang setzen, liegen im Gehirn von Säugetieren wie etwa dem Menschen tief verborgen im limbischen System. Zu dieser Region gehören Hypothalamus, Amygdala und Hippocampus – drei Areale, die beim Ausüben von Gewalt entscheidend beteiligt sind:

  • Der Hypothalamus ist für grundlegendes Verhalten wie etwa Nahrungsaufnahme, Sexualität zuständig, aber eben auch für Angriff und Verteidigung.
  • Die Amygdala bewertet Emotionen, reagiert besonders auf bedrohliche Situationen und sorgt dann zum Beispiel durch Angst- oder Wutgefühle dafür, dass ein Lebewesen die Flucht ergreift oder selber zum Angriff übergeht.
  • Der Hippocampus schließlich ist ein wichtiger Organisator des Gedächtnisses. Indem er etwa bestimmte Erinnerungen wachruft, trägt er dazu bei, zu entscheiden, wann es sinnvoll ist, Gewalt einzusetzen, und wann dies eher unangenehme Folgen hat.

Diese Strukturen des limbischen Systems haben einen mächtigen intellektuellen Gegenspieler: den präfrontalen Kortex – jenen Hirnteil, der dank direkter Verbindungen zum limbischen System Emotionen und Aggressionen dämpfen sowie die Konsequenzen von Handlungen voraussehen und moralisch bewerten kann. Doch diese Kontrollfunktion des Stirnhirns war bei etlichen der von Raine untersuchten Mörder offenbar gestört.

Einer von ihnen heißt Antonio Bustamante, ein aus Mexiko eingewanderter US-Amerikaner, der bereits eine zwei Jahrzehnte währende Karriere als drogenabhängiger Kleinkrimineller hinter sich hatte, ehe er zum Mörder wurde. Das geschah im September 1986: Damals brach er in ein Haus ein und entdeckte dort Reiseschecks, die er stehlen wollte. Doch in diesem Moment kehrte der 80-jährige Bewohner zurück. Statt die Flucht zu ergreifen, prügelte Bustamante den Greis in einem unbändigen Ausbruch von Wut und Gewalt zu Tode. Es war eine von ungeheurer Erregung befeuerte Tat, die weder von Planung noch von Sinn zeugte: Bustamante ließ die Wohnung voller Blutspritzer und Fingerabdrücke zurück; er versuchte, die blutverschmierten Schecks einzulösen, und als ihn die Polizei verhaftete, trug er noch immer die Kleidung mit den Blutflecken seines Opfers.

Sein impulsives und unkontrolliertes Vorgehen war typisch für jene Mörder, bei denen Raine im PET-Scanner das Defizit im präfrontalen Kortex diagnostizierte. Und es gab bei ihm Hinweise auf eine mögliche Ursache für die Fehlfunktion seines Gehirns. Denn als 20-Jähriger hatte er einen Schlag mit einer Brechstange auf den Schädel erhalten, woraufhin sich seine Persönlichkeit radikal veränderte. Aus dem wohlerzogenen Mann wurde ein aufbrausender Krimineller. Eine derart unbeherrschte Form der Gewaltausübung wie bei Bustamante nennen Forscher „impulsiv-reaktive“ Aggression. In einem solchen Fall reagieren Menschen auf eine vermeintliche oder tatsächliche Bedrohung mit einem impulsiven und für Außenstehende schwer verständlichen Wutausbruch, der sich in einen regelrechten Gewaltrausch steigern kann. Dabei ist es den Tätern völlig gleichgültig, ob ihre Opfer stark sind oder schwach, wehrhaft oder schutzlos: Sie können vermutlich meist gar nicht anders, als zuzuschlagen.

Denn in diesem Moment haben die emotionalen Zentren im Gehirn – allen voran die Amygdala – die vollständige Kontrolle übernommen. Das Stirnhirn scheint bei diesen Tätern also nicht in der Lage, die Gewaltausbrüche zu verhindern. Hinzu kommt: Das limbische System dieser Verbrecher ist, wie Untersuchungen zeigen, in bestimmten Regionen offenbar deutlich aktiver als beim Durchschnitt der Bevölkerung. Gefühle wallen bei ihnen schneller und stets besonders heftig empor. Impulsiv-reaktive Täter sind beispielsweise Menschen, die ihre Partnerin im Streit umbringen, eine Frau aus Gelegenheit vergewaltigen oder jemanden, von dem sie sich gekränkt fühlen, in einer explosiven Entladung mit dem Messer niedermetzeln. Auf die kleinste vermeintliche Beleidigung, Ungerechtigkeit oder Bedrohung reagieren sie mit überschäumender Wut. So lässt sich festhalten: Bei vielen unbeherrschten Gewaltverbrechern verstärken sich zwei neurologische Phänomene auf unheilvolle Weise. Einerseits ist ihr Stirnhirn unterentwickelt, vermag aggressive Impulse also nur begrenzt zurückzudrängen. Andererseits ist ihr limbisches System, der Hort ebenjener hitzigen Emotionen, besonders rege. Mit der Folge, dass diese Täter oftmals völlig enthemmt außer sich geraten.

Der andere Typ Täter

Hirnforschung: Er wusste sich als gebildeter und gut aussehender Mann zu verkaufen. So lockte er seine Opfer an ungestörte Orte - der amerikanische Serienkiller Theodore Robert Bundy
Er wusste sich als gebildeter und gut aussehender Mann zu verkaufen. So lockte er seine Opfer an ungestörte Orte - der amerikanische Serienkiller Theodore Robert Bundy
© mauritius images / Ken Hawkins / Alamy

Ganz anders gehen dagegen jene Mörder vor, die ihre Taten sorgfältig und meist lange im Voraus planen und dann äußerst zielstrebig ausführen. Verbrecher solchen Schlages nennen Wissenschaftler „proaktiv-aggressiv“. Oft sind diese Täter besonders geschickt darin, andere zu betrügen, zu manipulieren und zu täuschen. Sie kennen kaum Mitgefühl, keine Reue und haben offenbar keinerlei moralisches Empfinden. Psychologen und Psychiater attestieren Menschen mit solchen Wesenszügen zumeist eine „antisoziale Persönlichkeitsstörung“.

In diese Kategorie fallen Menschen, die besonders grausame Verbrechen verüben, etwa Serienmörder, die nicht selten zudem sexuelle Sadisten sind. Diese Täter sind durchaus in der Lage, den Schmerz anderer Menschen – gleichsam abstrakt – zu registrieren. Sie empfinden die Pein eines Opfers aber nicht so, wie es bei
gewöhnlichen Menschen der Fall ist. Vielmehr deutet ihr Gehirn die Qual der anderen gewissermaßen ins Positive um, lässt sie höchste Lust und Erregung spüren. Nach gängiger Definition handelt es sich bei solchen Verbrechern oft um klinische Psychopathen.

Ein drastisches Beispiel ist der amerikanische Frauenmörder Ted Bundy, der in den 1970er Jahren mindestens 30 Frauen und Mädchen ermordete, womöglich sogar 60 bis 100. Er sah gut aus, war intelligent, charmant, redegewandt und plante seine Taten mit höchster Umsicht. So trug er mitunter einen Arm in der Schlinge, um eine Verletzung vorzutäuschen und bei den jungen Frauen, die er ansprach und um Hilfe bat, Mitleid zu erregen. Da er zudem über ausgesprochen gute Manieren verfügte und höflich war, gelang es ihm, seine Opfer in Sicherheit zu wiegen und an entlegene Orte zu locken – wo er sie grausam quälte, biss, vergewaltigte, tötete und anschließend etliche von ihnen zerstückelte.

Selbst nachdem er gefasst worden war, versuchte sich Bundy als netter Kerl darzustellen. Es gelang ihm sogar, eine ehemalige Arbeitskollegin, die in ihn verliebt war, im Gefängnis zu heiraten. Und er schaffte es über mehrere Jahre, seine Hinrichtung aufzuschieben, indem er Stück für Stück immer neue Enthüllungen über weitere Opfer preisgab. Noch am Abend vor seiner Exekution versuchte er Zeit zu gewinnen, indem er seine schrecklichen Neigungen gegenüber einem christlichen Psychologen als Folge von Pornografiekonsum darstellte – in der Hoffnung, als geläuterter Täter im Kampf gegen die unsittliche Bilderflut nützlich zu sein. Vergebens: Am 24. Januar 1989 richteten Henker Bundy auf dem elektrischen Stuhl hin.

Im Hirn befindet sich ein Schlüssel zum Grauen

Dass proaktiv-aggressive Verbrecher wie Bundy die grausame Seite ihrer Persönlichkeit so lange und so geschickt verbergen können, liegt daran, dass ihr präfrontaler Kortex (anders als bei den impulsiv-reaktiven Tätern) weitgehend normal zu funktionieren scheint – ähnlich wie bei nicht gestörten Menschen. Schon Adrian Raine hatte dieses Muster bei einigen Probanden festgestellt. Gleichzeitig, so vermuten manche Forscher, zeigt das limbische System, also der Hort archaischer Gefühle, bei jenen Tätern eine abweichende Aktivität: Bestimmte Areale, die die Grundlage für Angst, Schuldempfinden und Empathie bilden – etwa die Amygdala –, funktionieren offenbar nicht korrekt.

Das bedeutet: Aufwallende Gefühle haben zwar durchaus einen starken Einfluss auf Denken, Fühlen und Handeln dieser als äußerlich emotionslos und kaltblütig geltenden Personen. Doch die Kontrollinstanz Stirnhirn scheint in der Lage, die unheilvollen Impulse, die Aggression und die Gewaltfantasien zumindest eine Zeitlang gleichsam im Zaum zu halten. So sind Killer wie Ted Bundy fähig, sich an ihren abnormen Bedürfnissen und Gelüsten zunächst im Stillen zu laben, ausgeklügelte Pläne auszuhecken und ihre Opfer schließlich wohlüberlegt in die Falle zu locken. Und erst dann, wenn sie sich unbeobachtet wähnen, lassen sie alle Hemmungen fallen.

Doch damit nicht genug: Wissenschaftler haben bei manchen proaktiv-aggressiven Tätern weitere Besonderheiten im Gehirn ausgemacht. So ist bei einigen Psychopathen der Hippocampus asymmetrisch, also in den beiden Gehirnhälften unterschiedlich groß. Die Folge: Diese Menschen verarbeiten möglicherweise emotionale Informationen nicht mehr richtig, verspüren generell weniger Angst und tun sich schwer damit, Konsequenzen aus negativen Erfahrungen zu ziehen – Fachleute sprechen von einer verminderten „Furchtkonditionierung“.

Da nach Meinung einiger Forscher zudem ein weiteres Hirnareal (der posteriore cinguläre Kortex, der unter anderem emotionale Gedächtnisinhalte abruft) bei ihnen beeinträchtigt scheint, fällt es ihnen vermutlich schwer, abzuschätzen, wie sich ihr Handeln auf andere auswirkt. Gefühlskalte Verbrecher, die ihre Taten lange im Voraus planen, weisen also ebenfalls deutliche neurologische Defekte auf: Zwar arbeitet ihr Stirnhirn vergleichsweise gewöhnlich, doch jene Zentren, die Emotionen bewerten und normalerweise echtes Mitgefühl ermöglichen, sind bei diesen Tätern gestört. Aggressive Impulse können sie eine Zeitlang erfolgreich zurückdrängen – bis sie sich irgendwann in einem Gewaltrausch explosionsartig entladen.

Welche Rolle spielen Gene und andere Einflüsse?

Doch wie kommt es, dass das Gehirn schwerkrimineller Gewaltverbrecher – ob sie nun impulsiv-reaktiv sind oder proaktiv-aggressiv – in einigen Regionen oft anders ausgeprägt ist als bei normalen Menschen? Welche Rolle spielt das Erbgut, welche die Erziehung? Welchen Einfluss haben traumatische Erlebnisse oder Hirnschäden oder andere Einflüsse? Schon vor Jahren fanden Forscher Hinweise darauf, dass bestimmte Gene bei impulsiv-reaktiven Tätern vermutlich eine gewichtige Rolle spielen: dass ihr Verhalten also zum Teil vererbt ist.

So untersuchten Humangenetiker eine niederländische Familie, in der viele männliche Mitglieder über Generationen hinweg bekannt waren für Gewaltbereitschaft und unbeherrschte Aggression. Der Arzt und Genetiker Han Brunner von der Universitätsklinik Nimwegen entdeckte: Sämtliche gewalttätigen Verwandten trugen eine besondere Variante des sogenannten MAOA-Gens in sich. Dieses Gen steuert ein besonderes Enzym, das für den Abbau verschiedener Botenstoffe (Neurotransmitter) im Gehirn zuständig ist. Die Neurotransmitter sind im Gehirn unter anderem wichtig, wenn es darum geht, impulsive Handlungen zu kontrollieren. Bei den Betroffenen jedoch arbeitete das durch eine Mutation veränderte MAOA-Gen nicht richtig, sodass ein Enzymmangel eintrat und sich folglich der Spiegel einiger Botenstoffe drastisch erhöhte.

Auffallend viele der untersuchten Männer litten an der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Störung, waren unbeherrscht und besonders risikofreudig oder neigten zum Alkoholismus. Studien in den Folgejahren ergaben, dass die Genveränderung jedoch nur dann aggressives Verhalten begünstigt, wenn die Betroffenen in der Kindheit durch Misshandlungen oder Vernachlässigung traumatisiert worden waren. Bei Weitem nicht jeder Träger des mutierten Gens ist also gewalttätig. Im Lauf der Jahre entdeckten Forscher weitere Genvarianten, die die Gewaltbereitschaft erhöhen können. Ihre Hauptwirkung auf das Gehirn besteht darin, dass sie den Spiegel des Serotonins niedrig halten, eines Botenstoffs, der beruhigend wirkt, Ängste reduziert und den Umgang mit echter oder vermeintlicher Bedrohung mitbestimmt. So kommt es, dass Menschen mit gestörtem Serotonin-System, die die entsprechenden Genvarianten in sich tragen, eher dazu neigen, sich schon bei der kleinsten Provokation bedroht zu fühlen, auszurasten und zuzuschlagen.

Ungünstige Erbanlagen können Gewalttaten begünstigen

Auf eine weitere ungünstige Erbanlage stießen kürzlich Forscher des Karolinska-Instituts in Stockholm, als sie das Genom von 794 finnischen Gefängnisinsassen untersuchten. 538 Probanden waren verurteilte Gewaltverbrecher, 84 Studienteilnehmer hatten sogar mehr als zehn Gewaltdelikte begangen. Die Wissenschaftler entdeckten, dass die Kriminellen – insbesondere die Wiederholungstäter – in vielen Fällen eine bestimmte Form eines Gens namens CDH13 in sich tragen. Auch bei dieser Genvariante gehen die Fachleute davon aus, dass sie das Risiko für impulsive Gewalttaten erhöhen kann. Bei proaktiv-aggressiven Tätern mit antisozialen und psychopathischen Charakterzügen wiederum scheint neben dem Serotonin-System noch ein weiterer, ganz anderer Hirnmechanismus gestört zu sein. Der Göttinger Psychiater Borwin Bandelow und seine Mitarbeiter haben jüngst entdeckt, dass bei Betroffenen vermutlich das körpereigene Opioid-System nicht richtig funktioniert.

Welche Genvarianten dafür verantwortlich sind, ist noch nicht bekannt. Normalerweise lösen die Wirkstoffe des Opioid-Systems, die Endorphine, Euphorie aus, etwa beim Bewältigen lebensbedrohlicher Kampfsituationen; sie lindern Schmerzen nach schweren Verletzungen oder werden bei beglückenden Erlebnissen wie etwa Sex ausgeschüttet. Weil das System bei vielen Gewaltverbrechern und Psychopathen aber offenbar nur unzureichend reagiert, müssen es diese Menschen weitaus stärker stimulieren, um einen Endorphin-Kick zu erleben. Daher neigen sie überdurchschnittlich stark zu Gewalttaten, Machtspielen oder riskanten Erlebnissen, so Bandelow.

Trotzdem betonen Hirnforscher wie der renommierte Bremer Biologe Gerhard Roth, dass niemand allein aufgrund bestimmter genetischer Anlagen zum Totschläger wird. Denn klar ist: Das komplexe Verhalten von Straftätern lässt sich nicht auf einige wenige Botenstoffe im Gehirn oder auf einige veränderte Gene reduzieren. Zudem wirken viele
äußere Faktoren auf die komplexen Systeme im Gehirn ein – einige davon sogar schon vor der Geburt.

So kann Stress, den eine Schwangere erlebt, das fragile System, das den Serotonin-Spiegel im Hirn reguliert, schon beim Ungeborenen dramatisch schädigen – mit lebenslangen Folgen. Auch nach der Geburt, vor allem in den ersten sechs bis zwölf Lebensmonaten, bleiben die beteiligten Nervenzellverbindungen extrem anfällig für negative Einflüsse, für psychischen Druck von außen.

Erziehung und frühkindliche Umgebung ausschlaggebend

Bisweilen kann es – etwa infolge schwerer frühkindlicher Traumata wie massiver Gewalterfahrungen – gar zu anatomischen Veränderungen im Gehirn kommen. Bestimmte Nervenbahnen, die etwa nötig sind, um ausreichend Serotonin in zahlreiche Hirnregionen zu transportieren und um damit etwa Impulse aus dem limbischen System zu regulieren, wachsen dann nicht genügend heran.

Auch in der weiteren Entwicklung wirken erbliche Anlagen und Umwelt zusammen: Trägt ein Kind die ungünstigen Genvarianten in sich und kommen prekäre Einflüsse hinzu – etwa schwere Vernachlässigung, körperliche Misshandlungen oder sexueller Missbrauch – dann (und nur dann) verstärken sich die Negativfaktoren auf verheerende Weise. In guter Umgebung, von liebevollen Eltern umsorgt, vermag das gleiche Kind dagegen zu einem friedfertigen Menschen heranzuwachsen.

Zumal, wenn es sich um ein Mädchen handelt. Schließlich sind schwerkriminelle Straftäter, die zu bestialischen Gewalttaten neigen, fast ausschließlich Männer. Biologen führen diesen Umstand auf unsere evolutionäre Geschichte zurück, infolge derer das männliche Gehirn schon zu Urzeiten besonders anfällig für brutale Gewalt war.

Hirnforschung: Die Krankenschwester Jane Toppan konnte womöglich aufgrund von fehlenden Nervenzellenverbindungen keine Schuld oder Moral und guckte ihren Opfern gern beim Sterben zu
Die Krankenschwester Jane Toppan konnte womöglich aufgrund von fehlenden Nervenzellenverbindungen keine Schuld oder Moral und guckte ihren Opfern gern beim Sterben zu
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Doch es gibt auch Frauen – wenn auch wenige –, die massenhaft töten. Das zeigt der Fall der Krankenschwester Jane Toppan, die Ende des 19. Jahrhunderts in den USA mindestens 31 Menschen tötete. „Jolly Jane“ – die fröhliche Jane –, wie die beliebte Pflegerin genannt wurde, war nach heutigem Verständnis eine Psychopathin. Einerseits charmant und umgänglich, andererseits eine notorische Lügnerin. Sie hatte kein Gefühl für Moral, konnte sich nicht in das Leiden ihrer Opfer einfühlen und weder Mitleid noch Trauer empfinden.

Es habe Jolly Jane besonderes Vergnügen bereitet, mit Giften zu experimentieren und zu beobachten, wie das Leben langsam aus ihren Opfern schwand, schildert der Kriminologe Adrian Raine, der sich ausführlich mit dem Fall beschäftigt hat. Sie verabreichte ihren Patienten eine Überdosis Morphium, saß geduldig neben ihnen und schaute ihnen fast wie eine Liebende in die Augen, um den Moment abzupassen, in dem sich ihre Pupillen zusammenzogen und der Atem flacher wurde. Manchmal verzögerte sie den Todeskampf mit einem Gift entgegengesetzter Wirkung, um dann umso genussvoller das Sterben zu beobachten.

Über den Mord an ihrer Schwägerin, deren Leiden sie auf diese Weise hinauszögerte, sagte sie: „Ich hielt sie in meinen Armen und beobachtete voller Entzücken, wie ihr das Leben unter Keuchen und Schnaufen entwich.“ Und wenn sie später an die Toten dachte, empfand Jolly Jane – gar nichts. Sie konnte auch nicht nachvollziehen, warum sie die Verbrechen begangen hatte. Sie war sich selbst ein Rätsel. Adrian Raine aber ist sich sicher: Hätte es damals schon einen PET-Tomographen gegeben, man hätte die Erklärung in den Nervenzellverbindungen ihres Gehirns entdeckt. Dann hätten jene Areale, die bei gewöhnlichen Menschen mitfühlende Emotionen, Moral und Schuldempfinden ermöglichen und im Scan hell aufleuchten, ihre ganze Schattenseite offenbart. Und zwar in Form einer weitgehend dunklen, tiefen Ödnis.

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