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Sex Interview: Die dunkle Seite der Begierde

Weshalb es sich lohnt, seine erotischen Wünsche zu ergründen: Die Sexualforscherin Aglaja Stirn über die Vielfalt erotischer Wunschbilder im Interview

Sadistische oder masochistische Neigungen erscheinen vielen fremd. Tatsächlich aber sehnen sich weit mehr Menschen nach dem sexuellen Spiel mit Dominanz und Unterwerfung, als lange gedacht. So jedenfalls könnte man den überwältigenden Erfolg des Romans "Fifty Shades of Grey" deuten. Warum finden Menschen es reizvoll, gedemütigt, beherrscht, im Extremfall gar gequält zu werden? Welche Rolle spielen unsere Fantasien für Leidenschaft in Liebesbeziehungen?

Sex: Die Medizinerin und Sexualtherapeutin Prof. Dr. Aglaja Stirn (hier in einem Studio in Hamburg, in dem SM-Anhänger und Fetischisten ihre Fantasien Wirklichkeit werden lassen) erforscht seit Jahren das breite Spektrum weiblicher und männlicher Lust
Die Medizinerin und Sexualtherapeutin Prof. Dr. Aglaja Stirn (hier in einem Studio in Hamburg, in dem SM-Anhänger und Fetischisten ihre Fantasien Wirklichkeit werden lassen) erforscht seit Jahren das breite Spektrum weiblicher und männlicher Lust
© Jan Riephoff für GEOkompakt

GEOKOMPAKT: Frau Professor Stirn, in dem Roman "Fifty Shades of Grey" lässt sich eine junge Studentin auf die Sadomaso-Spiele eines erfolgreichen Geschäftsmannes ein, der ihr alle möglichen Entscheidungen abnimmt – vom Auto, das sie fährt, über die Kleidung, die sie trägt, bis hin zur Frage, welche Nahrungsmittel sie zu sich nehmen darf. Das Buch ist einer der erfolgreichsten Bestseller der vergangenen Jahrzehnte. Gelesen wird er vor allem von Frauen. Was nur finden Frauen an diesem Werk so anziehend?

AGLAJA STIRN: Viele Leserinnen empfinden das Buch als ungemein befreiend. Denn im Gegensatz zur gängigen Pornografie stehen hier eindeutig die Begierde und das sexuelle Erleben der Frau im Mittelpunkt. "Fifty Shades of Grey" ist von einer weiblichen Autorin aus der Perspektive der Protagonistin geschrieben. Das allein begeistert viele Frauen.

Ist es befreiend, wenn scheinbar ein anachronistisches Rollenbild weiblicher Unterwerfung propagiert wird?

Ich plädiere für eine differenziertere Betrachtung. Hingabe und Dominanz sind sexuelle Spielarten, zwischen denen Frauen und Männer heutzutage wählen können. Für beide Geschlechter kann es erregend sein, zu nehmen oder genommen zu werden, sich hinzugeben oder auch zu führen. Das Entscheidende ist, über diese Wahlfreiheit überhaupt zu verfügen. In früheren Zeiten wurde Frauen eine selbstbestimmte Sexualität abgesprochen. Die hatten sich zu fügen, ob sie wollten oder nicht.

"Fifty Shades of Grey" ist kein Rückschlag für die Emanzipation?

Nein. Das Buch führt uns vielmehr vor Augen, dass Frauen, gerade weil sie emanzipiert sind, heute selbstbewusst zu ihrer Sexualität und damit etwa auch zu masochistischen Fantasien stehen dürfen. In der Sexualität eine devote Neigung auszuleben, bedeutet ja nicht, sich im täglichen Leben unterwürfig zu geben. Zum Erfolg des Buches hat sicherlich auch die Tatsache beigetragen, dass Frauen den Roman in einer Buchhandlung kaufen können und dafür nicht in einen Sexshop oder auf eine Porno-Website im Internet gehen müssen – was für viele noch immer unangenehm ist. Männer haben da weniger Hemmungen.

»Lassen sich einem Menschen EXTREME NEIGUNGEN anmerken?«

»Wir können nicht VOM CHARAKTER EINER PERSON auf ihre erotischen Vorlieben schließen«

Wie kommt es, dass Frauen in dieser Hinsicht befangener sind?

Viele müssen es erst noch lernen, Zugang zu ihren Wünschen zu finden. Die weibliche Sexualität wurde lange tabuisiert. Das stammt noch aus jener Zeit, in der eine Schwangerschaft außerhalb der Ehe für eine Frau existenzbedrohend sein konnte. Um dem vorzubeugen, haben Mütter und Väter ihre Töchter früher zu Enthaltsamkeit erzogen. Dieses Denkmuster ist – zumindest unbewusst – teilweise noch immer in den Köpfen verankert.

"Fifty Shades of Grey" enthält etliche explizit geschilderte Sexszenen. Inwieweit sind diese Passagen ausschlaggebend für den Erfolg des Romans?

Mehr noch als diese Szenen spricht Frauen wohl die erzählte Geschichte an, gleichsam die Verpackung der Sexualität. Der Protagonist Christian Grey verkörpert gewissermaßen den Archetyp des Märchenprinzen. Einen Mann, der reich und schön ist, aber erst durch die weibliche Hauptperson, Anastasia Steele, vom Fluch seiner qualvollen Vergangenheit erlöst werden muss. Am Ende steht dann die Aussicht auf mehr als Sex: auf Treue, Liebe, Partnerschaft. Das Schema kennen wir aus Filmen wie "Pretty Woman". Solche Liebesgeschichten gefallen Frauen.

Sehnen sich Frauen sexuell eher nach Unterwerfung als Männer?

Tatsächlich zeigen Studien, dass masochistische Vorstellungen, wie sie in "Fifty Shades of Grey" bedient werden, häufiger bei Frauen verbreitet sind. Männer können zwar ebenfalls derartig veranlagt sein, haben aber tendenziell eher Dominanz-Fantasien.

Wie ist das zu erklären?

Zum Teil basieren solche geschlechtsspezifischen Vorlieben auf archaischen Mustern, die seit jeher tief in der menschlichen Psyche verankert sind. Zu Zeiten unserer Vorfahren fühlten sich Frauen von Natur aus zu kräftigen, durchsetzungsstarken Männern hingezogen, weil Dominanz ein Hinweis auf gute Erbanlagen war. Noch heute üben Männer, die über Macht und Reichtum verfügen, auf nicht wenige Frauen eine erotische Anziehungskraft aus. Solchen uralten Mustern kann sich eine Frau kaum entziehen, vor allem dann nicht, wenn sie ihre fruchtbaren Tage hat.

Was geschieht da?

Experimente offenbaren, dass viele Frauen rund um den Eisprung stärker als sonst maskuline, muskulöse Männer bevorzugen, Macho-Typen eben. Diese Präferenz ist aus evolutionärer Sicht völlig natürlich, keine Frau sollte sich dafür schämen. Tatsächlich aber sind viele Frauen, die in langjährigen, glücklichen und gleichberechtigten Partnerschaften leben, mitunter irritiert, wenn sie sich plötzlich – entgegen ihren sonstigen Überzeugungen – nach einem dominant auftretenden Sexualpartner sehnen.

Woher rührt dieser innere Widerspruch?

Die moderne Gesellschaft fußt darauf, dass wir unsere angeborenen Instinkte und Triebe größtenteils kultiviert haben. Wir schlagen nicht mehr mit der Keule aufeinander ein, sondern halten uns an allgemeingültige Normen, die dem Wohl aller dienen und rational sinnvoll erscheinen. Das ist die große Errungenschaft der Zivilisation. Doch unsere Biologie spielt da nicht immer mit. Kaum ein anderer Trieb ist so tief in unserem Wesen verankert und wird so stark von unbewussten Mechanismen gesteuert wie die Sexualität. Und das macht sich eben unter anderem in unseren Fantasien bemerkbar.

»Sollte man versuchen, all seine SEXUELLEN WÜNSCHE zu verwirklichen?«

»Es ist nicht ratsam, jede Imagination in die Tat umzusetzen. Wichtig ist es, sich mit den erotischen Vorstellungen IN UNSEREM KOPF auseinanderzusetzen«

Ist Sadomaso-Sex auch so eine archaische, triebhafte Form der Sexualität?

Der Wunsch nach Dominanz und Unterwerfung hat durchaus eine archaische Wurzel. SM-Sex allerdings findet gerade nicht wild und ungestüm statt, sondern ist hoch ritualisiert. Die Partner müssen einander absolut vertrauen können, und der unterlegene Part muss jederzeit die Möglichkeit haben, abzubrechen. Er will sich ja nicht wirklich in Gefahr begeben, das Ganze ist letztlich nur ein Spiel. Der dominante Partner darf deshalb nie die Kontrolle verlieren, er muss seine Handlungen genau dosieren können und trägt die ganze Verantwortung.

So gesehen sind SM-Praktiken eine höchst zivilisierte Form des Sex.

Genau. Nicht zuletzt ist das auch der Grund, weshalb die beiden Romanfiguren Steele und Grey in einem Vertrag festschreiben, was erlaubt ist und was nicht. Alles ist streng reguliert. Im Gegenzug kann sich der unterlegene Partner vollkommen hingeben, was von vielen als ungemein befriedigend erlebt wird. Grenzenlos vertrauen zu können ist schließlich etwas, wonach wir uns alle sehnen. Insofern vermitteln diese Praktiken auf eine spielerische Art Nähe, Geborgenheit und Exklusivität. Es gibt sogar Paare, die sich in den Rollen abwechseln.

Manchen geht es aber nicht nur darum, sich einer vertrauten Person vollkommen auszuliefern, sie wollen auch körperlich gequält werden. Wie kann jemand Gefallen an Schmerzen finden?

Tatsächlich empfinden manche Menschen Schläge, Bisse, Kratzer oder Peitschenhiebe im Kontext der Erregung als eine intensive Steigerung ihrer Lust. Sexualmediziner sprechen von "Lustschmerz". Dabei handelt es sich um eine völlig andere Kategorie von Schmerz, als wenn der Zahnarzt den Kiefer aufbohrt. Denn beim Sex findet eine massive Verschiebung der Wahrnehmung im Gehirn statt, die sich sogar mit einem Magnetresonanztomographen messen lässt.

Ebenso finden wohl die meisten Menschen Schweiß und Speichel eher abstoßend. Beim Sex aber können diese Körpersäfte des Partners mitunter einen unwiderstehlichen Reiz entfalten.

Kann man einem Menschen anmerken, ob er extreme sexuelle Neigungen hat? Trifft das Klischee vom kontrollsüchtigen Manager zu, der sich abends von einer Domina auspeitschen lässt?

Nein, wir können nicht vom Charakter einer Person auf ihre erotischen Vorlieben schließen. Es gibt auch keinerlei Zusammenhang zwischen sexuellen Präferenzen und Intelligenz oder sozialer Schichtzugehörigkeit. Das häufig kolportierte Bild des Managers, der zur Domina geht, kann zwar durchaus zutreffen – denn nicht wenige Männer empfinden es als entlastend, wenn sie beim Sex die Kontrolle abgeben dürfen. Genauso häufig leben mächtige Männer ihre Dominanz aber auch im Bett weiter aus.

Wie entstehen die Fantasien, die einem Menschen Lust bereiten?

Bei den meisten erotischen Vorstellungen ist es noch völlig ungeklärt, woher sie entspringen. Vieles läuft unbewusst ab. Ob wir unseren sexuellen Wünschen aber nachgeben, sie verwirklichen, entscheiden wir immer noch selbst. Denn nicht jede Imagination muss Wirklichkeit werden, und die meisten Menschen akzeptieren das. Es macht ja gerade den Reiz der Fantasie aus, dass wir in unserem Kopf alles Denkbare gefahrlos erleben können, was im echten Leben vielleicht enttäuschend, schmerzhaft oder gar zerstörerisch wäre. Jemand, der sich einen Actionfilm ansieht, will danach ja auch nicht mit der Waffe in der Hand losziehen und jemanden erschießen. Ich erlebe häufig mit meinen Patienten, dass die Sehnsucht an sich viel erfüllender sein kann als die Realisierung. Der unglücklichste Mensch ist derjenige, der keine offenen Wünsche mehr hat.

Wie entscheidet sich, welche Fantasien wir in die Tat umsetzen?

Was wir verwirklichen, hängt meist davon ab, was gesellschaftlich akzeptiert und moralisch vertretbar ist. Und das hat sich in letzter Zeit stark gewandelt. Jemand, der vor 100 Jahren homosexuell war, hat sich wahrscheinlich sein Leben lang für seine sexuelle Präferenz geschämt. Heute können Lesben und Schwule ihre Sexualität dagegen ohne Schwierigkeiten ausleben, zumindest in unserer Kultur. Die Grenzen des Akzeptablen verschieben sich immer mehr. Und auch "Fifty Shades of Grey" trägt dazu bei.

Wie meinen Sie das?

Sadomaso-Praktiken sind durch das Buch gewissermaßen salonfähig geworden. Auch Frauen, die sich so etwas vorher nicht getraut hätten, bringen jetzt den Mut auf, ihrem Partner Fesselspiele vorzuschlagen oder erotische Accessoires in das Liebesspiel einzubinden. Das ganze Thema ist seit dem Bucherfolg aus der Schmuddelecke herausgekommen.

Möglicherweise entdecken manche Frauen dadurch eine neue sexuelle Spielart, und andere leben erst jetzt aus, was ohnehin in ihnen schlummerte. Heutzuvtage ist alles erlaubt, womit die Beteiligten einverstanden sind und wobei niemand zu Schaden kommt. Unantastbar sind dagegen Tiere, Kinder und Schutzbefohlene; sie stehen gewissermaßen jenseits der Grenze des Akzeptablen.

Sind Fantasien krankhaft, die jenseits dieser Grenze liegen?

Solange sie nur Imagination bleiben: nein. In der Fantasie ist alles erlaubt, dort gibt es keine Grenze. Ich hatte mal eine Patientin, für die es sehr erregend war, sich vorzustellen, wie Kinder misshandelt werden. Das klingt furchtbar. Aber diese Frau hatte nie vor, ihre Fantasien in die Tat umzusetzen. Und das ist das Entscheidende. Denn niemand kann für die Bilder in seinem Kopf belangt werden, nur für seine Handlungen.

Die Erfahrung zeigt sogar: Wer seine dunkle Seite erkundet und akzeptiert, kann sein Tun viel besser kontrollieren. Deshalb würde ich jedem raten, sich mit seinen erotischen Vorstellungen auseinanderzusetzen. Eine Sexualtherapie kann dabei helfen.

Lesen Sie das ganze Interview im neuen

GEOkompakt Nr. 43 "Sex".

Sex: Interview: Die dunkle Seite der Begierde

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