Anzeige

Studie "Nocebo-Effekt": Wenn der Beipackzettel krank macht

Die Liste möglicher Nebenwirkungen im Beipackzettel eines Medikaments kann angsteinflößend sein. Foto: Fernando Gutierrez-Juarez
Die Liste möglicher Nebenwirkungen im Beipackzettel eines Medikaments kann angsteinflößend sein
© Fernando Gutierrez-Juarez/dpa
Je mehr wir über die Risiken und Nebenwirkungen eines Medikaments erfahren, desto eher treten sie ein. Doch mit einem einfachen Trick ließe sich dieser "Nocebo-Effekt" verhindern

Müdigkeit, Herzrasen, Atemnot – wenn man im Beipackzettel eines Medikaments die Liste der möglichen Nebenwirkungen durchliest, kann einem ganz anders werden. Und zwar buchstäblich. Zahlreiche Studien belegen: Allein die Erwartung, dass die beschriebenen Nebenwirkungen eintreten, kann diese hervorrufen. Und zwar auch dann, wenn nur ein Scheinmedikament ohne jeglichen Wirkstoff verabreicht wurde.

Nocebo-Effekt durch Autosuggestion

Vor einer Operation das Gleiche – die Ärztin oder der Arzt kommt zum Aufklärungsgespräch und erklärt vor allem, was alles schief gehen kann. Das Problem: Bei vielen Patienten kreisen die Gedanken dann nur noch um Komplikationen und Nebenwirkungen, und prompt treten sie auch auf.

"Nocebo-Effekt" nennt die Medizin das (Nocebo ist lateinisch und bedeutet "Ich werde schaden“). Er ist gewissermaßen der böse Bruder des Placebo-Effekts. Beim Placebo-Effekt wird durch Autosuggestion eine Verbesserung des Zustands herbeigeführt, die nicht auf der eigentlichen Wirkung von Medikamenten oder Operationen beruht. Beim Nocebo-Effekt geschieht genau das Gegenteil. 

Tod und Verderben im Beipackzettel

"Placebo- und Nocebo-Effekte sind nicht einfach Einbildung. Wir wissen, dass es zu sehr komplexen neurobiologischen Phänomenen kommt", erklärt Ulrike Bingel, Professorin für Neurologie und Leiterin des Zentrums für Schmerzmedizin an der Uniklinik Essen. Die Auswirkungen sind offenbar sogar noch viel größer als lange gedacht, so das Fazit von Experten, die sich jüngst zur Internationalen Konferenz der Gesellschaft für Interdisziplinäre Placeboforschung im Ruhrgebiet getroffen haben.

Ein Hauptproblem liegt in der Kommunikation gegenüber den Patientinnen und Patienten. Dass Aufklärungsgespräche vor Operationen und Beipackzettel von Medikamenten den Fokus vor allem auf die Risiken richten, sei nicht unproblematisch, findet Bingel. "Im Beipackzettel steht auf drei Seiten kurz gefasst "Tod und Verderben". Aber da steht überhaupt nicht, welcher Therapieeffekt in Ihrer speziellen Situation erreicht werden soll", sagt die Placebo-Spezialistin.

Positive Kommunikation verringert Nebenwirkungen

Ein Team um Ben Colagiuri, Professor für Psychologie an der Universität Sydney, hat in einer Studie Patientinnen und Patienten auf zwei verschiedene Weisen über die Nebenwirkungen einer Chemotherapie informiert. Einer Gruppe erzählten die Forschenden, dass bei 30 Prozent der Patienten Übelkeit auftritt. Der anderen Gruppe erzählten sie, dass bei 70 Prozent der Patienten keine Übelkeit auftritt. Das Ergebnis: Die Patienten, denen die Botschaft positiv vermittelt wurde, litten seltener an Übelkeit.

Auf Basis solcher Ergebnisse könnten Ärztinnen und Ärzte inzwischen geschult werden, wie sie mit einer empathischen Haltung und einer positiven Kommunikation die Behandlung unterstützen, sagt Andrea Evers, Professorin für Psychologie an der Universität Leiden in den Niederlanden. "Man kann lernen, auch mit wenig Zeit die Placebo- und Nocebo-Effekte zu berücksichtigen", sagt sie. Wenn medizinisches Personal vor einer Spritze sagt: "Das tut jetzt kurz weh" - dann tut es den Patienten auch weh. Schon kleine, beruhigende Wörter könnten einen großen Unterschied machen, sagt Evers. "So können wir die Gesundheitsversorgung verbessern, den Patienten helfen, und auch die Kosten reduzieren, weil die Behandlung effektiver ist."

Placebo-Effekt zunutze machen

Richtig angewendet kann positive Kommunikation sowohl den schädlichen Nocebo-Effekt verringern als auch gezielt heilsame Placebo-Effekte hervorrufen. Dabei dürfe der Placebo-Effekt in der Schulmedizin aber immer nur ein Zusatznutzen zu einer wissenschaftlich fundierten Behandlung sein, betonen die Forschenden. Genau darin sehen sie den entscheidenden Unterschied zur Homöopathie und anderen alternativen Heilmethoden. Deren Wirkung lässt sich in Studien oft allein auf den Placebo-Effekt zurückführen. Heilpraktiker machten im Umgang mit ihren Patienten vieles richtig, indem sie sich Zeit nähmen, Rituale einbauten, gut informierten, sagt Bingel. "Das sind alles Aspekte, wo wir fragen müssen: Haben wir die in der Medizin verloren?"

Sie betont aber auch: "Die Homöopathie beruht auf einem Wirkmodell, das nach aktuellem wissenschaftlichem Stand nicht existiert. Da täuscht man einen Patienten. Und das wollen wir ausdrücklich nicht, wenn wir uns den Placebo-Effekt in der wissenschaftlichen Medizin zunutze machen."

Gespräche müssen sich für Ärzte lohnen

Bingel wünscht sich, dass die richtige Kommunikation mit Patienten für Mediziner genauso selbstverständlich zur Aus- und Weiterbildung gehört wie die Herz-Lungen-Wiederbelebung. Bislang entwickele sich dieser Bereich eher langsam. "Für einen Arzt lohnt es sich finanziell auch mehr, eine weitere apparative Diagnostik zu machen, als mit dem Patienten mal in Ruhe zu sprechen." Das müsse sich ändern. Bei Medikamenten empfiehlt sie, neben dem juristisch nötigen Beipackzettel noch eine Patienteninformation dazuzulegen, die verständlich über die Wirkweise und vor allem über den Nutzen des Wirkstoffs informiert.

Idealerweise sollte der Placebo-Effekte langfristig schon in der Medikamentenentwicklung berücksichtigt werden. Dann, so hofft die Professorin, könnte ein neues Medikament gleich zusammen mit einem entsprechenden, individuell anpassbaren Informationspaket auf den Markt kommen – und mit dem Hinweis, dass der Wirkstoff am besten in Verbindung mit einem begleitenden Arztgespräch funktioniert.

mki dpa

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel