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Hightech Wie Künstliche Intelligenz die Medizin verbessert – und sogar menschlicher macht

Der durchleuchtete Mensch: Fast alle Patientendaten liegen heute digital vor (CT-Aufnahme eines Herzens mit Gefäßen). Algorithmen können in ihnen nach lebenswichtigen Informationen suchen
Der durchleuchtete Mensch: Fast alle Patientendaten liegen heute digital vor (CT-Aufnahme eines Herzens mit Gefäßen). Algorithmen können in ihnen nach lebenswichtigen Informationen suchen
© DHZB/Külker
Oft ist zu hören: Die Medizin wird immer unpersönlicher, immer oberflächlicher. Ausgerechnet Maschinen könnten helfen, die Heilkunst wieder menschlicher zu machen

Wer eine Intensivstation betritt, begreift sofort die enge Beziehung von Mensch und Maschine. Von Apparaten führen Schläuche zu den Patienten, versorgen sie mit Medikamenten, Flüssigkeit, Sauerstoff. Geräte zeichnen jeden Atemzug und Herzschlag auf. Monitore zeigen die Blutdruckwerte sowie das EKG an; sie werden ständig aktualisiert und schlagen Alarm, wenn der Zustand des Kranken kritisch wird.

Auf den Bildschirmen stehen die Ergebnisse der Blutanalysen. Sie geben an, ob Nieren und Leber gut funktionieren, ob das Gewebe ausreichend Sauerstoff bekommt. Von jedem Patienten wird eine enorme Menge an Daten erhoben – mehr, als ein Mensch je erfassen kann. Alexander Meyer arbeitet seit 2015 am Deutschen Herzzentrum in Berlin, seit Ende 2020 in leitender Funktion für die Digitalisierung in der Medizin.

Zuvor operierte der Chirurg und verbrachte viel Zeit auf der Intensivstation. Viermal am Tag sind Ärzte wie er bei den Patienten, schauen für einige Sekunden auf den Monitor, prüfen, ob alles in Ordnung ist. Mehr ist nicht drin. "Ärzten und Pflegepersonal kann viel entgehen", sagt Meyer. "Wenn es Komplikationen gibt, sitzen wir dann zusammen, schauen auf die Daten und fragen uns: Haben wir etwas übersehen?"

Alexander Meyer ist nicht nur Arzt, sondern auch Informatiker. Daher lag es nahe, dass er sich fragte: Könnte Künstliche Intelligenz nicht früher als ein Mensch Probleme nach einer Herzoperation bemerken, ein Nierenversagen oder eine Blutung? Könnte sie sogar das Risiko berechnen, dass ein Patient stirbt?

KI soll die Zahl gravierender Fehldiagnosen senken

Meyer entwickelte mit seinen Kollegen einen Algorithmus. In einer Studie lieferte das Programm aus den Daten bereits behandelter Patienten eine Risikoeinschätzung. Sie wurde damit verglichen, wie es den Patienten wirklich ergangen war. Das Ergebnis war so überzeugend, dass es von 2018 an im Testbetrieb am Deutschen Herzzentrum Berlin lief. Die Software zur Vorhersage postoperativer Nachblutungen wurde bereits als Medizinprodukt zugelassen und soll nun vermarktet werden. Sie basiert auf Daten von mehr als 50 000 Patienten. Die Monitore am Bett der Operierten zeigen nicht mehr nur Messwerte an, sondern liefern die Analyse gleich mit.

Meyer geht es nicht darum, den Arzt zu ersetzen. "Ich sehe das Programm als ein neues Werkzeug zur Diagnose. Es ist eine Ergänzung der guten Ausstattung, die wir bereits haben. Etwas, das mir sagt: Geh lieber noch einmal an dieses Krankenbett, und schau nach, wie es dem Patienten geht."

Gefahren minimieren: Alexander Meyer vom Deutschen Herzzentrum hat mit Kollegen eine Software entwickelt, die das Risiko von Komplikationen nach einer Operation ermittelt
Gefahren minimieren: Alexander Meyer vom Deutschen Herzzentrum hat mit Kollegen eine Software entwickelt, die das Risiko von Komplikationen nach einer Operation ermittelt
© DHZB/Külker

Wie Meyer setzen viele Mediziner und Patienten ihre Hoffnung in Künstliche Intelligenz. Die Erwartungen sind vielfältig. KI soll die Zahl der gravierenden Fehldiagnosen senken. Sie soll die Früherkennung revolutionieren, indem sie im Alltag Anzeichen einer nahenden Erkrankung entdeckt. Sie soll Patienten seriöse Selbstinformation ermöglichen und ihnen so mehr Autonomie verleihen. Zudem eine Medizin ermöglichen, die auf den einzelnen Menschen zugeschnitten ist.

Vor allem kann Künstliche Intelligenz die Ärzte entlasten. Die moderne Medizin kennt mehr als 10 000 verschiedene Erkrankungen, und das Wissen über sie nimmt rasant zu. Behandlungen werden immer komplexer – auch durch die vielen älteren Patienten, die zu verschiedenen Ärzten gehen, mehrere Krankheiten zugleich haben und verschiedene Medikamente nehmen. Gleichzeitig werden immer mehr Tests durchgeführt; wer soll da noch die Informationen in den elektronischen Patientenakten überblicken?

Bei der Erkennung von Hautkrebs schnitten Mensch und Maschine ähnlich gut ab

"Jeder Patient ist eine Big-Data-Challenge", so formuliert es der Mediziner Ziad Obermeyer von der University of California in Berkeley. Kein Wunder, dass auch Tech-Giganten wie Google, IBM oder Apple an KI-Systemen arbeiten, mit denen die Möglichkeiten der Medizin erweitert werden sollen.

Hautärzte galten lange Zeit als unschlagbar darin, auf den ersten Blick Verdachtsdiagnosen zu stellen. Rötungen, Ekzeme, Pusteln oder Pigmentflecken: Auf unserem größten Organ präsentieren sich die verschiedensten Erscheinungen – auch die häufigste Krebserkrankung, der schwarze Hautkrebs. Dermatologen müssen das maligne Melanom früh erkennen, bevor es sich als Metastase im Körper ausbreitet und tödlich werden kann. Ist eine Künstliche Intelligenz dazu besser in der Lage als ein erfahrener Arzt? Das wollten Andre Esteva und seine Kollegen von der kalifornischen Stanford University herausfinden.

Die Mediziner verwendeten einen Bilderkennungs-Algorithmus von Google – der Hauptsitz des Unternehmens liegt nur wenige Kilometer von Stanford entfernt. Sie trainierten das Programm mit knapp 130 000 Fotos von mehr als 2000 Hautveränderungen. Zusätzlich fütterten sie es mit Daten von Gewebeuntersuchungen, die notwendig sind, um eine endgültige Diagnose zu stellen.

Dann ließen sie Hautärzte gegen das Programm antreten und Hunderte Aufnahmen auswerten: Wer würde den bedrohlichen Hautkrebs besser von einer gutartigen Veränderung unterscheiden? Ergebnis: Mensch und Maschine schnitten ähnlich gut ab.

Vergleichbare Erfolge gibt es bei der Diagnose von Netzhauterkrankungen am Auge und der Analyse von CT-Aufnahmen bei Lungenkrebs. KI kann also Fehldiagnosen verhindern. In den USA wird ihre Zahl auf jährlich rund zwölf Millionen geschätzt, schreibt der Kardiologe Eric Topol in seinem Buch "Deep Medicine". In der Zukunft könnten Menschen aber auch ungewöhnliche Hautflecken mit ihren Smartphones fotografieren – und eine App sagt ihnen, ob sie einen Arzt aufsuchen sollten.

Eric Topol befasst sich mit den Chancen von KI in der Medizin
Eric Topol befasst sich mit den Chancen von KI in der Medizin
© Imago Stock

Im 2018 Jahr sorgten Dienste auf der neuen Apple Watch 4 für Aufsehen. Die US-Zulassungsbehörde FDA ließ sie als Medizinprodukte zu. Dieses Programm erkennt Herzrhythmusstörungen anhand des Pulsschlags und schreibt sogar ein EKG, kann also die Herzströme analysieren. Es kann auch Vorhofflimmern identifizieren. Das kommt bei etwa zwei Prozent aller Deutschen vor und birgt die Gefahr, dass Blutgerinnsel aus dem Herzen ins Hirn gelangen und einen Schlaganfall verursachen.

"Ich weiß nicht, ob heute der beste oder der schlimmste Tag in der Geschichte der Kardiologie ist", twitterte ein Herzspezialist nach der Präsentation von Apple. Im besten Fall können Patienten, bei denen bereits Vorhofflimmern bekannt ist, engmaschiger als bislang kontrolliert werden. Auch können gefährdete Menschen früh identifiziert werden. Im schlimmsten Fall werden die Kardiologen überlastet, weil die Uhren Anzeichen für harmlose Herzrhythmusstörungen anzeigen – und ihre verunsicherten Träger in die Praxen laufen.

In einer großen Studie mit mehr als 400 000 Uhrenträgern überprüften US-Forscher, wie oft der Algorithmus der Apple Watch Alarm schlug – und wie oft tatsächlich Vorhofflimmern diagnostiziert werden konnte. Während des Experiments wurden mehr als 2000 Menschen acht Monate lang über mögliche Herzrhythmusstörungen informiert, und sie erhielten ein EKG-Pflaster, das sieben Tage getragen werden musste, um den Verdacht zu bestätigen. Etwa ein Viertel der Probanden schickte die Auswertung zurück. Nur rund ein Drittel dieser Menschen hatte tatsächlich Vorhofflimmern. Aufgrund der geringen Zahl der Antworten ist die Untersuchung jedoch nicht aussagekräftig genug, weitere Studien sind notwendig.

Seit 2019 sind die Dienste für die Apple Watch in Deutschland freigeschaltet. Es gibt keine unabhängig erhobenen Zahlen, wie viele Menschen den Dienst nutzen. Apps können womöglich auch seelische Leiden wie Schizophrenie oder Depressionen frühzeitig erkennen. In den USA hat das Start-up "Mindstrong Health" ein solches Programm entwickelt. Einer der Initiatoren ist Tom Insel, der ehemalige Direktor des National Institute for Mental Health.

Etwa jeder siebte Mensch weltweit leidet in irgendeiner Form an psychischen Beschwerden, sagt Tom Insel. "Wir werden nicht all diese Menschen erreichen, indem wir mehr Psychiater einstellen. Aber vielleicht erreichen wir sie mit Smartphones."

"Mindstrong Health" hat eine App entwickelt, über die Menschen Kontakt zu Psychotherapeuten erhalten und einen personalisierten Behandlungsplan erstellt bekommen. Zugleich gibt das Programm Hinweise darauf, ob die Nutzerinnen und Nutzer psychische Beschwerden haben. Es analysiert den ganz normalen Umgang mit dem Gerät, also wann und wie oft Menschen ihr Smartphone nutzen, wie langsam oder schnell sie auf Inhalte reagieren, wie sie scrollen und tippen.

Eine anpassungsfähige, individuelle Medizin scheint in greifbarer Nähe

Während der Entwicklung sammelten die Forscher über ein Jahr lang Daten von Studienteilnehmern und ließen sie überdies neuropsychiatrische Tests machen. Daraus leiteten sie "digitale Biomarker" ab, die mit Anzeichen von psychischen Störungen korrelierten – zum Beispiel mit einer gedrückten Stimmung, Gedächtnisproblemen oder Gedanken an Selbstmord. Langsame Reaktionszeiten oder häufige Korrekturen beim Tippen zeugen etwa von einer schlechten Konzentration. Zukünftig könnten Patienten, die bereits einmal an einer Depression gelitten haben, frühzeitig gewarnt werden, wenn sich eine erneute depressive Phase anbahnt – und Hilfe suchen, solange sie sich nicht gefestigt hat.

Das gilt auch für andere Risiken. Jeder Mensch besitzt um die 23 000 Gene. In einem hochkomplexen Wechselspiel – und ganz individuell – bestimmen sie die Funktionen und Fehlfunktionen unseres Körpers. Nur KI scheint imstande, diese Informationsfülle zu durchblicken. Algorithmen konnten bereits etliche Gene ausfindig machen, die bei bestimmten Erkrankungen eine Rolle spielen, zum Beispiel bei Autismus. Zugleich sind die Kosten für die Analyse des Genoms eines Menschen enorm gesunken. Mehrere Hersteller bieten das Erstellen von Risikoprofilen zu unterschiedlichsten Erkrankungen wie Alzheimer und Herzinfarkt an. Eine Medizin, die sich dem individuellen Genom eines jeden Menschen anpasst, scheint nun in greifbarer Nähe.

Allein bei Hirntumoren gibt es etwa 100 verschiedene Untertypen, nicht alle lassen sich mit den bisherigen Methoden wie Röntgen- oder Computertomografie-Bildern unterscheiden. In einem Projekt des Berliner Neuropathologen David Capper mit Heidelberger Krebsforschern lernte eine Künstliche Intelligenz anhand von 2800 Gewebeproben, 82 Tumorklassen zu unterscheiden. Inzwischen, so sagt Capper, werde das Verfahren vor allem bei Kindertumoren in Deutschland eingesetzt. Auf einer Internetplattform können Ärzte aus den verschiedenen Zentren die Gendaten hochladen und erhalten dann einen Score, der den Tumor klassifiziert.

Der Algorithmus ist zugänglich für alle, die ihn verbessern möchten, sagt der Professor. Mehr als 65 000 Datensätze zu Hirntumoren sind bereits eingereicht worden, mehr als 48 000 dürfen für Forschungszwecke verwendet werden. Capper strebt 100 000 Datensätze an, um die Methode auf ganz sichere Füße zu stellen. Eine offizielle medizinische Zulassung und die Kostenklärung steht noch aus.

Wie können Medizin und Algorithmus in Zukunft zusammenarbeiten?

Wie bei anderer medizinischer Forschung nimmt das Wissen auch in der Krebsforschung rasant zu. Jedes Jahr kommen etwa zwei Millionen medizinische Fachartikel heraus. Unmöglich, den Überblick zu behalten – außer eventuell mithilfe Künstlicher Intelligenz.

Die wissenschaftlichen Veröffentlichungen der vergangenen Jahrzehnte wurden allerdings für Menschen geschrieben – und nicht, um von Computern analysiert werden zu können. Die Struktur in den Daten fehlt. Das hat auch der US-amerikanische Milliardär Eric Lefkofsky erkannt, der sein Geld mit Onlinediensten gemacht hat. Als seine Frau an Brustkrebs erkrankte, war er verblüfft, wie wenige der eigentlich vorhandenen Daten in einer Behandlung genutzt werden.

Lefkofskys Vision ist, mit KI die Datenschätze der großen US-Krebsinstitute zusammenzuführen. Sein Unternehmen Tempus hatte Ende 2019 bereits Informationen von mehr als einer Million Patienten zusammengetragen. Auf dem US-Krebskongress Asco im selben Jahr stellte Lefkofsky ein Konzept vor, das Krebskranke gezielter als bislang in klinische Studien einschleusen soll; die Pharmaindustrie, Institute und mehr als 1800 Onkologen sollen dabei verbunden werden. Es ist ein weiterer Versuch, Ordnung ins System zu bringen.

In jedem Fall wird es noch einige Zeit dauern, bis der Dreiklang Arzt, Patient und Algorithmus selbstverständlich ist. Doch wohin könnte uns der Weg führen? Intelligente Maschinen werden die Ärzte sicher nicht abschaffen; aber womöglich könnte Dr. Algorithmus sie in ihrer Arbeit entlasten, sodass sie mehr Zeit für ihre Patienten haben.

Zukünftig werden KI-Systeme die Diagnose unterstützen, werden Therapieempfehlungen liefern, die Ärzte dann prüfen. Sie hätten mehr Zeit, Patienten die verschiedenen Therapiemöglichkeiten zu erklären. Das würde die Rolle der Patienten stärken: Unterstützt durch die Ärzte, könnten sie eigene Prioritäten setzen, könnten aus den Behandlungsmöglichkeiten, die die KI vorschlägt, jene wählen, die für sie persönlich die richtige ist. Mag also sein, dass Künstliche Intelligenz die Medizin menschlicher machen wird.

Erscheinen in GEO kompakt Nr. 68 (2021)

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