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Interview "Stress ist der Preis, den wir für unsere Gesellschaftsform zahlen"

Stress
Zu viel Arbeit, die ständige Erreichbarkeit und Ablenkung statt Muße erzeugen Stress
© Marjan Apostolovic / Shutterstock
Der Ethnologe Gregor Dobler forscht seit 2004 in Namibia und hat dort den Alltag von Landwirten mit denen in Frankreich verglichen. Im Interview erklärt er, wie der Blick auf andere Gesellschaften die Maßstäbe zurechtrückt

GEO WISSEN: Herr Professor Dobler, Sie sind als Ethnologie-Professor an der Universität Freiburg im Vorstand des Sonderforschungsbereichs „Muße“ engagiert und forschen dazu unter anderem in Namibia. Was interessiert Sie dort?

PROF. GREGOR DOBLER: Ich stelle in Namibia und anderen armen Ländern oftmals fest, dass Menschen deutlich weniger gestresst sind als hier, obwohl sie eigentlich viel stärker damit beschäftigt sind, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Formuliert man das so, hört es sich schnell an wie: „arm, aber glücklich“. Das meine ich nicht.

Aber die Koordinaten bezahlte Arbeit, Familie, Freizeit, Gemeinschaft, Lebensunterhalt, Wohlstand sind dort ganz anders verknüpft. Das haben wir untersucht, in einem Vergleich zwischen Bauern in Namibia und Frankreich.

Was hat sich dabei herausgestellt?

In Frankreich entsteht Unzufriedenheit mit dem eigenen Alltag durch zu viel Arbeit und durch Strukturveränderungen, die es unmöglich machen, so zu arbeiten, wie man möchte. In Namibia sind vor allem die vielen jungen Leute unzufrieden, die keine Arbeit finden und deshalb schlechter am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Beides erzeugt ganz unterschiedliche Arten von Stress. In Frankreich wird Muße durch zu geringe Freiräume verhindert, in Namibia durch zu viel leere Zeit.

Warum sind wir in den Industrieländern eigentlich trotz Wohlstands und Freizeit nicht ausgeruhter? Weil wir nicht mehr fähig sind, etwas einfach geschehen zu lassen?

Wir haben den Anspruch, alles selbst zu bestimmen: unser Verhältnis zur Welt, unsere Glaubenssysteme, unsere Ideen, wie man leben sollte, unseren Ort in der Gesellschaft, das Produkt unserer Arbeit. Das schafft große Entfaltungsfreiheit, aber auch enorme Anforderungen. Die Muße ist auch deshalb in Europa so wichtig geworden, weil sie verspricht, dazwischen zu vermitteln. Die Muße ist unser Problem, nicht das von Leuten in Namibia. Deren Problem ist die Armut.

Können wir Westeuropäer dann dennoch dort etwas über Muße lernen?

Eigentlich brauchen wir keine Menschen in fernen Ländern, um etwas über Muße zu lernen. Wir wissen ja schon recht genau, was uns nicht guttut: Es strengt uns an, dass sich die Arbeit immer mehr über unser Leben ausbreitet; dass wir ständig erreichbar sind; dass wir die freie Zeit von der gleichen Logik bestimmen lassen, indem wir sie mit Ablenkung anstatt mit Muße und Sammlung verbringen.

Um daran etwas zu ändern, sollten wir keine Rezepte aus fremden Gesellschaften übernehmen; wir müssen unsere eigene Gesellschaft verändern. Aber der Blick auf fremde Gesellschaften kann bei der Analyse helfen. Wir merken dann, dass andere Menschen in andere Zwänge eingebunden sind als wir, und stellen daran fest, dass Stress kein Naturgesetz ist, sondern der Preis, den wir im Moment für unsere Gesellschaftsform zahlen.

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