Wir sitzen am Hamburger Elbufer, kühlen die Füße im Wasser und blicken den Schiffen nach, die flussabwärts in Richtung Meer fahren. Sebastian erzählt mir von seinen Plänen für den diesjährigen Sommer: "Ich fahre mit dem Fahrrad von Hamburg nach Dresden." Ich bin beeindruckt. Sebastian schaut mich an. "Was ist? Kommst du mit?"
Eine Woche später sitze ich auf meinem Fahrrad und lasse Hamburg hinter mir. Der Weg ist meistens eben, der Rückenwind pustet mich voran. So fühlt es sich also an, auf dem beliebtesten Radfernweg des Landes unterwegs zu sein. Im beschaulichen Wendland geht die Fahrt vorbei an Obstbäumen, urigen Bauernhöfen und schnuckeligen Fachwerkhäuschen. Ich sehe Windmühlen, die in der Nachmittagssonne ruhen, Schafe, die unter Schäfchenwolken gemütlich vor sich hingrasen, und stelle mein Fahrrad auf saftig grünen Wiesen ab, um Mittagspause zu machen.
Unterwegs im eigenen Land
Der Elberadweg ist ausgesprochen abwechslungsreich: Von unbefestigten Feldwegen und Uferpfaden über Landstraßen mit wenig Autoverkehr bis hin zu asphaltierten Radwegen am Fuße des Deiches ist alles vertreten. Schnell stelle ich fest, dass die Wegbeschaffenheit ebenso wechselhaft ist wie das Wetter. Als die Wolken zunehmend grauer werden und sich sintflutartig über mir entladen, träume ich vom entspannten Urlaub am Meer.
Wir verlassen den asphaltierten Radweg. Das buckelige Kopfsteinpflaster macht mir zu schaffen. Vielleicht gelingt es den letzten Regentropfen, die aufkommenden Zweifel wegzuspülen. Und tatsächlich: Am nächsten Tag scheint die Sonne und die Sehnsucht nach dem Urlaub auf einer einsamen Insel wird zusammen mit der Regenjacke in der hintersten Ecke der Gepäcktaschen verstaut. Als Zweiradurlauberin fühle ich mich dem Zeitgeist plötzlich sehr verbunden: Bewegung, frische Luft, klimafreundliches Reisen. Das Unterwegssein im eigenen Land zeigt sich zunehmend von seiner charmanten Seite.
Ein Eldorado für Natur- und Vogelfreunde
Kurz vor Wittenberge geht es durch ein Gebiet deutsch-deutscher Geschichte. Mit jedem gefahrenen Kilometer nimmt die Bevölkerungsdichte ab. Zu DDR-Zeiten war die Elbe hier Grenzfluss, Ortschaften der näheren Umgebung lagen im Sperrgebiet. Dementsprechend entpuppt sich die üppige Flusslandschaft als wahres Pflanzen- und Vogelparadies. Störche, Uferschwalben, Graureiher und Greifvögel genießen die Stille des Biosphärenreservats, die jahrzehntelang ungestört blieb - ein berauschender Anblick für jeden Naturfreund.
Meister Adebar thront über den Dächern
Zwischen Wittenberge und Havelberg streift der Elberadweg die älteste Region der Mark Brandenburg: Die Prignitz ist geprägt von Heide, Kiefernwald und Landwirtschaft. Hier geht alles etwas langsamer zu. Seit dem Mauerfall ist die Region dünn besiedelt. Bisweilen erklingen plattdeutsche Wortfetzen aus den Vorgärten der nahezu verlassenen Ortschaften. Entvölkerung und Entschleunigung reichen sich die Hand. Ich schalte einen Gang zurück.
"Wenn die Pflaumen reif sind, starten die Störche in den Süden." Der Bauer aus dem Nachbardorf steigt lachend von seinem Traktor und hängt mir eine Plastiktüte mit frisch gepflücktem Obst über den Lenker. "Storchpausen", so nenne ich die kurzen Zwischenstopps zur Fütterung der Mägen und der Sinne. Im europäischen Storchendorf Rühstädt sind es etwa 70 Störche, die im Frühjahr Einzug in die kleine Gemeinde halten - auf jeden dritten Einwohner kommt in den Sommermonaten ein Storch.
Der Radweg der Superlative
Auf dem Weg von der früheren Kaiserresidenzstadt Tangermünde nach Magdeburg geht die Fahrt vorbei am europäischen Wasserstraßenkreuz Hohenwarthe und unter der imposanten Trogbrücke hindurch. Die längste Kanalbrücke Europas leitet den Mittellandkanal über die Elbe in Richtung Elbe-Havel-Kanal - ein gigantisches Bauwerk der modernen Architektur. Auch in Magdeburg, nur wenige Fahrradkilometer von Hohenwarthe entfernt, bleibt es architektonisch interessant. Die Superlative scheinen links und rechts des Elberadweges nicht ausgehen zu wollen: Nach dem größten Storchendorf und dem größten Wasserbauwerk Europas folgt mit der "Grünen Zitadelle" in Magedeburgs Altstadt das letzte Baukunstwerk, an dem der Künstler Friedensreich Hundertwasser vor seinem Tod gearbeitet hat.
Wir radeln vorbei an zahlreichen "Bett & Bike"-Herbergen und schlagen unser Zelt auf dem nächsten Campingplatz auf. Zum dritten Mal auf unserer Tour begegnen wir einem jungen Pärchen mit Kind. Beim gemeinsamen Abendessen werden Erfahrungen ausgetauscht. "Wir sind Wiederholungstäter", berichtet Sonja. Bereits zum vierten Mal fahren sie den Elberadweg. In diesem Jahr zum ersten Mal mit Kinderanhänger und flussaufwärts. "Der Rückenwind ist einfach angenehmer."
Durch das Biosphärenreservat "Mittlere Elbe" mit dem größten zusammenhängenden Auenwaldkomplex Mitteleuropas geht es weiter in die Bauhausstadt Dessau, in der die berühmten Meisterhäuser stehen, die zusammen mit dem Bauhausgebäude zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören.
Die letzten Kilometer
Unzählige Male stehen wir vor der Entscheidung: Fahren wir ost- oder westelbisch? Nehmen wir zur Elbüberquerung die nächste Brücke oder eine der antiquierten Gierseilfähren, die zur Fortbewegung die Strömung des Flusses nutzen und ohne Motorkraft auskommen? Wir entscheiden uns für die kleine Fähre und erfahren vom Fährmann, dass die Landesregierung Sachsen-Anhalts nicht daran denkt, die Transportmittel von der Elbe ins Museum zu verfrachten. "Unsere Fähren ziehen Touristen an. Außerdem ist es eine kostengünstige und umweltfreundliche Art, über den Fluss zu kommen."
Nachdem wir in der geschichtsträchtigen Stadt Wittenberg auf den Spuren Martin Luthers gewandelt sind und in Riesa die "Elbquelle" des Künstlers Jörg Immendorff als weiteren Superlativ (Europas größte Eisenskulptur) besichtigt haben, verändert sich die Flusslandschaft. Kurz vor Dresden wird es mediterran. Weinhänge, hübsche Winzerdörfer und die Porzellanstadt Meißen säumen die letzten Wegkilometer.
Nach 10 Tagen, 704 Kilometern, 17 Elbüberquerungen und unzähligen Storchpausen sind wir am zehnten Tag unserer Reise am Ziel angekommen. Mit ihrem einzigartigen Flair und der imposanten Frauenkirche liegt die sächsische Landeshauptstadt vor uns. Bis zur Rückfahrt mit dem Zug bleiben uns zwei Tage, um die Sehenswürdigkeiten der Stadt mit den Rädern abzuklappern.
Der letzte Abend bricht an. Wir sitzen am Dresdner Elbufer, kühlen die Füße im Wasser und blicken den Schiffen nach, die flussabwärts in Richtung Heimat fahren. Als Sebastian vorschlägt, den nächsten Urlaub ganz entspannt am Meer zu verbringen, zucke ich mit den Schultern. In Gedanken fahre ich schon längst mit dem Fahrrad auf der Euroroute R1.
5 persönliche Tipps von der Autorin
- Der Wind kommt hauptsächlich aus nord-westlicher Richtung. Fahren Sie möglichst stromaufwärts, um in den Genuss des Rückenwindes zu kommen
- Benutzen Sie festes Schuhwerk. Je fester die Sohle der Schuhe ist, desto besser funktioniert die Kraftübertragung
- Schuhe trocknen in der Regel nur langsam. Dagegen helfen spezielle Überschuhe fürs Radfahren. Mein Tipp: Einfache Plastiktüten tun es auch
- Vergessen Sie die Sonnenbrille nicht. Sie schützt nicht nur vor Sonneneinstrahlung, sondern bietet auch Schutz vor Fahrtwind, Staub und Insekten
- Der Elberadweg ist zwar gut ausgeschildert, Freunde des Details sind dennoch mit einer zusätzlichen Radwanderkarte (Maßstab: zwischen 1:50.000 und 1:100.000) gut bedient